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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Es giebt keine schrecklichere Fahrt als die Postwagenfahrt von Weilheim über Murnau und Partenkirchen nach Mittenwald, während kaum ein anmuthigerer Weg gedacht werden kann, als derjenige, den der Fußwanderer bis Mittenwald zu benutzen hat. Derselbe verläßt in Penzberg die Bahn und geht trotz Postwagen lustig fort nach Benedictbeuren und Kochel, in welch letzterem Orte man gute Unterkunft findet; es ist vor Allem das sogenannte Bad, welches, am See gelegen und mit allem wünschenswerthen Comfort ausgestattet, dem müden Wanderer eine willkommene Erholungsstätte bietet. Von hier aus zieht sich der Weg eine Zeit lang am Ufer des Kochelsees fort, und bevor man diesen verläßt, hat man nochmals Gelegenheit sich in einem einsamen Wirthshause, das sich übrigens an einem der schönsten Punkte des Sees befindet, zur bevorstehenden Bergwanderung zu stärken. Diese Herberge führt das Schild „zum grauen Bären“, eine Firmenwahl, die auf irgend einen amerikasatten Sohn der Gegend schließen läßt, der durch die absonderliche Benennung dem Wanderer zu imponiren glaubte. Statt des Grislybären haust aber dort ein hübsches junges Mädchen, das an alles Andere eher, als an den Schrecken der Urwälder erinnert. Nur schwer trennt man sich von dem netten Gärtchen am See, um dann der Fahrstraße folgend eine ziemlich anstrengende Bergwanderung zu beginnen; man hat hier nämlich den Kesselberg zu überschreiten.

Die guterhaltene breite Straße zieht sich steil bis zu einer respectablen Höhe; schweißtriefend aufwärts arbeitend, beschäftigt man sich gewiß mit dem Gedanken an die geplagten Rosse, welche die Lastfuhrwerke über diese Strecke zu befördern haben, und denkt der Zeit, in welcher diese und ähnliche Wege die großen Heerstraßen waren, auf denen der so bedeutende Binnenlandverkehr stattgefunden hat. Daß der Erbauer dieser Straße von den entscheidenden Rücksichten, die auf die Straßenanlagen unserer Zeit Einfluß haben – möglichste Vermeidung von Terrainschwierigkeiten etc. – sehr wenig Notiz genommen hat, geht aus der Thatsache hervor, daß sich gerade so leicht ein Thalweg hätte finden lassen, allein der Baumeister scheint auf die ruhmvolle Ueberwindung der Schwierigkeiten besonderen Werth gelegt zu haben. Die Straße ward auf Befehl und eigene „Kostung“ des Herzogs Albrecht von Baiern Anno 1492 hergestellt, worüber eine steinerne Gedenktafel auf der Höhe des Berges Aufschluß giebt. Von dem Leiter des Baues heißt es: „Heinrich Part von München (hat) erdacht den Sinn, wodurch er ward gemacht.“

Noch eine kleine Strecke aufwärts, dann ist die letzte Steigung überwunden, und vor den überraschten Blicken des Wanderers liegt ein neues prächtiges Panorama – der Walchensee, von Bergen und Wäldern umgeben. Dieser Anblick vertilgt jede Erinnerung an die überstandenen Mühseligkeiten, zudem dicht vor den Füßen des Touristen wieder eine Station gelegen ist, auf der man Erquickung findet. Es ist dies das Jägerhaus am See, das vor ein paar hundert Jahren von einem Abte des nahen Klosters Benedictbeuren gestiftet wurde, hauptsächlich zum Nutzen und Frommen der Wanderer, die im Winter über das Gebirge reisen, auf daß sie nicht etwa im Schnee oder vor Erschöpfung zu Grunde gingen. Der würdige Mann hat damals freilich nicht daran gedacht, daß noch eine Zeit kommen könnte, in der ein ketzerischer Lord mit seiner Lady vor dem jetzt stattlich hergerichteten Hause die Nachkommen jener delicaten Fische verzehren werde, welche die hochwürdigen Herren mit außerordentlicher Mühe bezogen und in den damals fischarmen Kochelsee eingesetzt hatten. Das Jägerhaus ist unbestreitbar der schönste Aussichtspunkt am See, und unter den obwaltenden Verhältnissen wird der Wanderer gern ein Stündchen Rast halten, wenn er nicht vorzieht, seinem leiblichen Menschen in dem Orte Walchensee selbst die begehrten Concessionen zu verwilligen. Der den Walchensee entlang führende Weg bildet eine Promenade, wie sie hübscher kaum in einer Parkanlage gedacht werden kann. Daß aber auch diese Promenade für den Lustwandelnden verhängnißvoll werden kann, bezeugt ein gegen den Ausgang des Sees befindliches „Marterl“, welches dem theilnehmenden Wanderer erzählt, daß hier ein Bauer beim Nachhausegehen den Tod im See gefunden habe. Wie das möglich war, da ein Geländer die verhängnißvolle Stelle umgiebt, ist nicht leicht zu enträthseln; wahrscheinlich hat ein großer Nebel diesen Unglücksfall veranlaßt.

Das Dorf Walchensee besteht aus einer kleinen Zahl netter Häuschen, über welche das Gasthaus und eine Villa achtunggebietend hinausragen, während die sehr bescheidene Dorfkirche am Ende des Ortes ihren Platz gefunden hat. Die gläubigen Seelen haben jedoch Gelegenheit, ihren frommen Drang noch in einem zweiten Kirchlein, das neben dem sogenannten Klösterl auf der von hier vorspringenden Halbinsel gelegen ist und zu den wunderthätigen Gnadenorten zählt, zu befriedigen. Das Klösterl selbst, ein altes Gebäude mit hohem Giebeldache, war ursprünglich nur eine Filiale von Benedictbeuren, in die sich besonders gelahrte Herren zurückzuziehen pflegten, wenn sie mit Abfassung irgend eines umfangreichen Werkes beschäftigt waren; ob dazu auch die lebens- und liebesfrohen Gesänge gehörten, welche das Zeitalter des blühenden Mönchthums auszeichneten, ist schwer zu errathen; die Einsamkeit des Platzes spricht jedoch gegen eine solche Annahme. Es scheint aber, daß auch die Herren Aebte hin und wieder einen kurzen Aufenthalt dort nahmen, um des edlen Waidwerks zu pflegen oder vielleicht, um sich von den Strapazen der Klosterregierung zu erholen.

In der Nähe des Klösterl existirt ein Echoplatz, der wenig bekannt ist, aber seines Gleichen sucht und hinter demjenigen des Königssees kaum zurückstehen dürfte. Der Wiederhall rollt von hier aus donnerähnlich durch alle Berge und kommt dann nach Verlauf von einigen Secunden wieder bis zum Ausgangspunkte zurück, was einen wirklich wunderbaren Effect ergiebt.

Eine kleine Wegstrecke von dieser Landzunge weg gelangt man an das Ende des Walchensees; hier befindet sich ein großer Holzlagerplatz von solchen Stämmen, die über den See getriftet werden, um dann auf dem Rücken der Jachen und Isar die Reise in die Residenzstadt zu machen.

Bei Wallgau, einem Dorfe, dem der Touristenverkehr noch gar nichts von seiner Originalität genommen hat, gelangt man in das Isarthal. Die Berge treten nun weiter aus einander und präsentiren sich in gewaltigeren Formen; die Isar muß hier schon Frohndienste verrichten und große Flöße aufnehmen, zu denen das Material massenhaft von den umliegenden Bergen herabgebracht wird. Hier beginnt auch das Reich der eigentlichen Bergriesen, theils Ausläufer, theils Mitglieder der Karwendelgruppe, deren großartiger Aufbau sich dem Auge immer imposanter darstellt.

Wer mit seinem Magen irgend welche Differenzen auszugleichen hat, mag in dem freundlichen Dorfe Krün Einkehr halten; das dortige Wirthshaus ist eines der Standquartiere der königlichen Dienerschaft und deshalb mit Vorräthen mehr versehen, als die sonstige Bedeutung des Ortes erheischen würde. Eine kurze Wegstrecke von diesem Orte entfernt, zweigt sich ein Pfad ab, der in die wildromantische Schlucht führt, welche den Namen Seinsklamm trägt. Diese Klamm wird in Bezug auf Großartigkeit der Verhältnisse zwar von vielen übertroffen, bietet aber in ihrer Art alle jene Momente, die einen so mächtigen Eindruck auf den Beschauer üben. Der Waldbach stürzt über gewaltige Felsenabstufungen herab und schießt ungestüm durch die Steinwände dahin, die sich rechts und links senkrecht erheben und die unbändigen Wassermassen mit unbeugsamer Gewalt festhalten, ob sie nun tobend und brausend gegen diese Schranken anstürmen oder ruhig dahingleiten. Hoch oben scheint sich der dichte Wald zu schließen, und nur ein schmaler Streifen des lachenden Himmels ist von unten sichtbar; außer dem zornigen Ringen der Fluthen ist Alles todt, düster und unheimlich; kaum daß an einigen Felsvorsprüngen etliche Gräser ein einsames Dasein fristen; es ist eine Nacktheit, die unserem Auge nichts bietet, als ungeheure, rohe Massen ohne bestimmte Form, die nur durch ihr wildes Aussehen imponiren. Es ist gerade so, als ob ein mächtiger Riß durch die lebenswarme Erde ginge, der einen Einblick in ein anderes Reich gestattet. Trotz der Einförmigkeit des Ganzen fühlt man sich doch von dem unheimlichen Anblicke angezogen, und es gewährt einen hohen Genuß, den Schauer der Scene auf sich wirken zu lassen.

Am Ausgange dieser Schlucht führt ein sehr primitiver Steg über den Seinsbach, von welchem aus sich die Klamm prächtig übersehen läßt. Diese „Hochgebirgsbrücke“ besteht aus einem großen Baumstamme, der erneuert wird, sobald der alte morsch geworden und in Trümmer gegangen ist; das daran haftende Geländer mag denselben Zweck haben, wie die Balancirstange der Seiltänzer – festhalten kann man sich daran nicht. Von hier

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 637. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_637.jpg&oldid=- (Version vom 18.12.2021)