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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

Hütte schicken oder sie werde ihre ersparten Thaler aus der Truhe nehmen, um der eingetretenen Noth noch gründlicher abzuhelfen.

Ihm kam’s in diesen Fällen auch nicht darauf an, einen Fünfundzwanzigthalerschein seiner Casse zu entnehmen und freundlich zu sagen: „Wenn Dein’s nicht reicht, Anne-Marie!“

Theuer, sehr theuer waren für ihn solche Verklagungen sammt den Folgen, aber – davon abgestanden hätte er um die Welt nicht. „Recht muß Recht bleiben“, lautete sein Grundsatz, „und bestehlen lasse ich mich nicht“, wiederholte er stets.

Der reiche Hofbauer, der sich nun so ungern das Geringste auf unredliche Weise nehmen ließ, wurde in dem harten Winter vor mehr denn zwei Decennien fast jedes Mal bestohlen, wenn Backtag auf seinem Hofe war und die Brode zum „Doppelbacken“ in dem Ofen lagen. Der Backofen bildet, wie dies auf allen großen Bauernhöfen der Fall ist, sein Häuschen für sich. Er ist bis in seine mächtige Tiefe hinein angefüllt mit jenen kolossalen Broden im Gewicht von zwanzig bis vierundzwanzig Pfunden, die „Pumpernickel“ heißen; um völlig durchbacken zu sein, liegen sie auch die Nacht im Backofen.

Manches war bereits auf den Feldern des reichen Mannes gestohlen. Es war in seinen Torfgruben heimlich gestochen und aus seinem Walde nicht selten Holz geholt worden. Auf seinem Hofe aber, wo zwei riesige Dorfrüden, der berüchtigte wilde „Tyras“ und sein Gefährte „Pascha“, Wache hielten, da war, obgleich die Pforte im Lattenzaun der den Hof umgrenzte, stets nur eingehakt und nie verschlossen wurde, noch nie etwas vermißt worden.

Die Hunde, jetzt allerdings zehn Jahre alt, bisher aber so ausgezeichnete Wächter, schienen demnach nicht mehr tauglich oder der Dieb war ein Bekannter von Beiden. Dem Bauer Wedemeier war Eines so unangenehm wie das Andere, und um jeden Preis wünschte er die Sache aufgeklärt zu sehen. Seine Frau, die ihm schon das Fehlen des ersten vermißten Brodes nicht verschwiegen hatte, meldete auch das Stehlen der anderen, und er entgegnete jedes Mal: „Du schweigst zu Deinen Mägden darüber. Der Dieb soll ganz sicher gemacht werden, jedoch ehe das Dutzend voll ist, habe ich ihn – darauf verlasse Dich!“

In der achten Woche, die in die letzte Decemberhälfte fiel, stellte er sich endlich auf Lauerposten. Sein treues Weib, das ihren alten Brausekopf nicht allein in der gefährliche Situation wissen wollte, schlich ihm nach. Sie stellte sich, wie bisher im Leben, so auch in dieser, wie sie annahm, sicher sehr ereignißreichen Nacht, treu an seine Seite, und er ließ sie gewähren. Sie harrten vergeblich. In dieser Nacht blieb der Backofen unangetastet von fremder Hand. Zitternd und bebend vor Kälte krochen sie beim Morgengrauen, als der Großknecht in die Scheune, die Milchmagd zum Melken ging, in ihr Bett. Nun war der Tag angebrochen; Leben und Leute waren auf dem Hofe. Wer sollte da noch stehlen! Wie weich auch jenes Lagers Federn, und wie gesegnet auch Beide sonst mit dem festen Schlafe des Gerechten, in dieser Nacht oder vielmehr in dieser Morgenfrühe kam kein Schlaf in ihre Augen; der Fehlschlag kränkte, ärgerte sie. Ihn quälte der Gedanke: „bist du umsonst bestohlen?“ Sie seufzte bedrückt über die bösen, bösen Zeiten, wo man sich nicht einmal mehr auf sein eigenes Gesinde verlassen könne. Nicht einmal der Lieblingstrank der späteren Lebensjahre, der Morgenkaffee, schmeckte an dem Tage Mutter Anne-Marie und ihrem Caspar.

Seine Energie lähmte der eine Fehlschlag aber nicht, und auch ihre Treue bewährte sich von Neuem.

Am nächsten Backtage stand der reiche Bauer in der Nacht abermals auf dem Lauerposten. Gut verborgen stand er hinter einer Schicht von frisch gefälltem Holze in der Nähe des Backofens, und etliche gegen den Lattenzaun aufgerichtete Bohlen schützten ihn davor, vom Fußpfade aus gesehen zu werden, der hinter dem Gitter an einer Wiese, dem Weideplatze für das Federvieh des Hofes, entlang führte.

Als der letzte Lichtschein in den Mägdekammern erloschen war und Haus und Hof im Dunkel und Schweigen der späten Abendstunde lagen, da schlich auch Mutter Anne-Marie hinter den Holzstoß an die Seite des Ehegemahls, der finsterer und böser aussah, als acht Tage zuvor, und seine sehnige Faust mit bedrohlicher Energie auf seine gute Flinte stützte.

Der Abend, anfangs tief dunkel, hellte sich beim Sternenlicht mehr und mehr auf, und die anbrechende Nacht wurde immer klarer, aber auch empfindlich kalt. Tiefe Stille, lautloses Schweigen herrschten, und das einzige Geräusch machten die wie Patrouillen langsam das Hofgebiet umschreitenden Hunde.

Plötzlich, als vom unweit gelegenen Dorfe her die heisere Thurmuhr die Mitternachtsstunde verkündete, da mischte sich mit diesen letzten Schlägen ein leises Pfeifen. Es war noch fern. Es klang ganz eigenartig und so geisterhaft, wie wenn der Nachtwind durch geschlossene Föhrenlinien streift. Dazwischen ächzte es leise, wie ein Käuzchen schreit. – Die beiden Hunde standen wie gebannt inmitten des Hofes; dann sprangen sie leise winselnd mit schnellen Sätzen nach der Pforte hin, die auf den Fußpfad führte.

Das Pfeifen klang bald näher, der Ruf des Käuzchens heller; jetzt rief auch eine Stimme vom Wege sanft und schmeichelnd: „Tyras, Pascha!“

Die Hofthüre wurde dabei geöffnet – die Hunde liefen heraus. Beider Namen, unablässig so sanft und schmeichelnd gesagt, schienen wie ein Zauberbann zu wirken; lautlos lagen sie zu Füßen einer Frauengestalt, die draußen verharrte. Sie war hoch und schlank gewachsen, nur dürftig bekleidet – mindestens durch nichts gegen die winterliche Kälte geschützt. Die beiden Lauschenden konnten die Umrisse dieser Gestalt ganz deutlich erkennen – sie zeichnete sich scharf von dem weißen, reifbedeckten Weideplatze ab, auf den sie eben getreten war und mit leisem Schmeichelwort die Hunde nachgelockt hatte, die nun wiederum zu ihren Füßen kauerten, sich fest anschmiegend an die schlanke Frau. Plötzlich wandten sie sich knurrend um – ein Mann kam näher; sie sprach wie flehend zu den Thieren: „Pascha, Tyras – er ist’s ja,“ und sie lagen beschwichtigt, lautlos wieder neben ihr, wie wenn sie vollkommen gut wüßten, auch ihm sei zu trauen.

Fester faßte jetzt der Hofbauer seine Flinte, dichter an ihn heran trat sein Weib und blickte sorgenvoll in sein finsteres Gesicht. Sie sah, wie es in diesen wettergebräunten Zügen zuckte, wie er seine ganze Kraft und Energie aufbot, um nicht jetzt schon hervorzustürzen und die Leute zu fassen, die seine Hunde verdarben. Er bezwang sich aber und wartete. Sie kamen jedoch nicht.

In athemloser Spannung verharrten der Hofbauer und sein Weib hinter dem Holzstoße – die Stille blieb eine ungestörte; kein Schritt nahte sich. Vorsichtig näherten sie sich dem Zaune und lugten hinaus. Welch ein seltsames Bild bot sich ihnen! Auf dem reifbedeckten Grasboden knieeten die beiden Gestalten. Der Mann hatte seine Mütze abgenommen und Haupt und Hände gen Himmel erhoben. Der Kopf der Frau war tief gebeugt und ihre zum Gebet verschlungenen Hände berührten fast die Erde; regungslos standen die beiden großen, schwarzen Hunde neben den Knieenden.

Da plötzlich sprach der Mann laut und vernehmlich:

„Gott, Du Allwissender, Dir ist bekannt, daß wir im Begriff stehen eine neue Sünde auf unsere Seelen zu laden. Vergieb sie uns in Deiner Barmherzigkeit! Vergieb sie uns wegen der großen Noth, die wir und unsere Kinder erleiden! Halte schützend über uns Deine starke Hand, daß unser Vorhaben gelinge und das Brod des reichen Mannes noch einmal der Segen der Armen und Hungrigen werde! Ja, Gott Vater im Himmel, nur noch dieses eine Mal werden wir uns gegen Dein Gebot auflehnen. Nur noch heute Nacht. Wir können nicht weiter wandeln auf diesen Wegen des Unrechts und der Gefahr. Deine Allmacht, Deine Güte muß sich unseres Elends erbarmen. Sende Rettung, o Herr – sende Hülfe! Der Wege und Mittel hast Du ja Tausende, Deinen Kindern beizustehen, und wir, wir sind Deine Kinder trotz unserer Sünde. Du, Du allein bist unsere Zuflucht. Laß uns nicht länger vergeblich harren auf Deine Gnade! Amen.“ –

Der Mann erhob sich. Die Frau, die leise und bitterlich während der letzten Sätze des Gebets geweint hatte, sprang empor und hielt ihn fest: „Nein, nein,“ rief sie flehend, „laß mich’s heute thun! Dich hat es ja fast umgebracht, und ich habe heute wieder die Kraft, den Riegel fortzuschieben.“

Sanft schob er sie auf die Seite.

„Matthias,“ sprach sie dringender, „Matthias, ich lasse Dich heute nicht in den Hof; ich sagte Dir von meiner innern Angst – ich –“

„Ich weiß, daß ich Sünde thue. Gott wird mir’s verzeihen,“ sagte er leise.

Nun hielt sie ihn nicht mehr. Sie kniete wieder nieder,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 653. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_653.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)