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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


wandte, einen tüchtigen Schluck hinter die Binde gossen. Mußte man ja doch die Gefäße leeren, um sie als Rückfracht mit dem heilkräftigen Marpinger Wasser füllen zu können.

Ich selbst schloß mich einem alten Weiblein an, das neben einem Kropfe von bemerkenswerther Größe und einer äußerst beweglichen Zunge die für mich schätzenswerthe Eigenschaft besaß, des Weges kundig zu sein. Im Verlaufe des Gespräches vertraute mir meine Begleiterin an, daß sie schon zweiundzwanzig Mal in Marpingen, sieben Mal in Mariaeinsiedeln, zwölf Mal in Alt-Oetting und unzählige Male in verschiedenen kleineren Wallfahrtsorten gewesen sei. Ein Compliment über ihren frommen Eifer lehnte sie aber mit pfiffigem Lächeln und der Bemerkung ab, daß sie nicht für sich, sondern ausschließlich im Auftrage Anderer wallfahre und zwar schon seit mehr als dreißig Jahren, daß sie also das Wallfahren handwerksmäßig betreibe. Ihr Mann habe sich, erzählte sie weiter, dem Trunke ergeben und sei jung gestorben. Um die gleiche Zeit sei in ihrem Dorfe die frühere Wallfahrtsbesorgerin, die Heiliggeist-Margreth – so genannt, weil sie neben dem Wallfahren in ihrer freien Zeit sich mit der Anfertigung und dem Verkaufe von Bildern des heiligen Geistes beschäftigte – durch einen bösen Fall dienstuntüchtig geworden; sie sei dann in ihre Fußstapfen getreten und befinde sich ganz wohl dabei. Von ihren Auftraggebern, die ruhig zu Hause bleiben und doch aller Gnadenschätze theilhaftig werden können, ohne sich im geringsten anstrengen zu müssen, werde sie reichlich mit Lebensmitteln für die Reise versehen und erhalte überdies noch eine Baarsumme, die sich nach der Größe der Entfernung richte, sowie auch darnach, ob sie die Eisenbahn benutze oder zu Fuß gehe. Die mit letzterer Reiseweise verbundenen Strapazen geben dem Auftraggeber natürlich ein Anrecht auf erhöhte Verdienste, und es ist daher nur billig, wenn er dafür eine höhere Taxe bezahlen muß. Am meisten trage ihr das Wunderwasser ein, mit dem sie sich jedes Mal befrachte und nach dem überall große Nachfrage sei, da es sich bei Menschen und Thieren in den verschiedenartigsten Krankheiten bewährt habe, wenn nur der rechte Glaube an die Wunderkraft bei den Betreffenden vorhanden sei. Auch der Handel mit Amuletten, Kreuzen, Medaillen, Rosenkränzen, Heiligenbildern etc. gewähre ihr eine hübsche Nebeneinnahme.

Unterdessen waren wir, häufig unterbrochen durch singende und betende Pilgerzüge, welche uns begegneten, auf der Höhe angelangt, von der aus man das anmuthig in einem Thalkessel gelegene stattliche Dorf Marpingen, das neue Lourdes, überblicken kann. Die umliegenden sich sanft abdachenden Anhöhen sind theils bewaldet, theils angebaut. Das Dorf selbst ist fast ganz in einem Walde von Obstbäumen versteckt. Die inmitten des Kirchhofes gelegene Ortskirche mit plumpem Thurme befindet sich am jenseitigen Thalabhange. Links vom Beschauer, einige hundert Schritte hinter dem Dorfe, zieht sich der Härtelwald hin, in dem die Muttergotteserscheinungen statthatten und der daher das erste Ziel sämmtlicher Pilger bildet. Auch ich wendete zuerst meine Schritte dahin.

Das Betreten des Waldes ist in Folge der Aufläufe, die sich darin sammelten und des daselbst getriebenen Unfugs verboten. Gensdarmen sind beständig neben dem Walde postirt und bewachen den Platz Tag und Nacht. Doch kann man sich auf einem Umwege von wenigen Schritten der dicht am Walde gelegenen sogenannten Erscheinungsstelle bis auf eine kleine Entfernung nähern. Von da aus bemerkt man drei Kiefern, welche sich neben einer kleinen Schlucht erheben und die von der Menge andächtig angestarrt werden, ohne daß sich aber etwas Außerordentliches ereignete. Zwischen diesen drei Kiefern wollen die drei achtjährigen Kinder Margaretha Kunz, Susanna Leist und Katharina Hubertus aus Marpingen die Muttergottes am 3. Juli vorigen Jahres, dem Tage, an welchem in Lourdes die Krönungsfeierlichkeit des dortigen Muttergottesbildes stattfand, wahrgenommen haben. Auch an den folgenden Tagen hatten die Kinder dieselbe Vision; später wurden auch vier pensionirte Bergleute mit der Erscheinung begnadigt. Hier war es auch, wo im Juli vorigen Jahres durchschnittlich jeden Tag fünfzehn- bis zwanzigtausend Pilger aus Nah und Fern versammelt waren und tumultuarische Scenen vorkamen, die aller Beschreibung spotten. Alle Höhenwege wimmelten von Pilgern, welche zu Fuß und zu Wagen angezogen kamen. Unter Stoßen, Schreien und Schlagen suchte sich Jeder dem Erscheinungsplatze, auf dem übrigens außer einer Anzahl brennender Kerzen nichts zu sehen war, zu nähern und die andern davon wegzudrängen; schwächliche und kranke Personen geriethen in Gefahr, erdrückt zu werden. Manche kletterten auf Bäume, um bequemer sehen zu können. Auf weite Entfernung konnte man das Toben der Menge von Sonnenaufgang bis tief in die Nacht hinein wahrnehmen. Dazwischen hörte man einzelne Gruppen Wallfahrtslieder singen und immer lauter und lauter wiederholen, da die Muttergottes sich hartnäckig weigerte vor der Menge zu erscheinen. Einzelne warfen sich auf den Boden und zerrauften sich die Haare – alles vergebens. Andere schlugen sogar im Walde ihr Nachtquartier auf. Von Seiten der Geistlichkeit geschah nichts, um diesem Tollhäuslertreiben ein Ende zu machen.

Im Dorfe selbst waren alle Bande der Ordnung gelöst; Niemand wollte mehr seinen täglichen Arbeiten nachgehen, Niemand mehr gehorchen. Der Bürgermeister konnte der fanatischen Menge gegenüber unter solchen Umständen nichts mehr ausrichten, und es blieb nichts anderes übrig, als eine Compagnie Soldaten zur Wiederherstellung der Ordnung zu requiriren. Diese traf am 13. Juli Abends ein und säuberte mit vieler Mühe den Wald. Hierbei zeigten sich die Wallfahrer in solch fanatischer Aufregung, daß sie erst wichen, nachdem die Soldaten vor ihren Augen die Gewehre geladen und die Bajonnette aufgepflanzt hatten. Einige Heißsporne, welche sich thätlich widersetzten, konnten erst entfernt werden, nachdem von Kolben und Bajonnetten Gebrauch gemacht worden war. Nur dem besonnenen Vorgehen der Truppen ist es zu verdanken, daß größeres Blutvergießen vermieden wurde. Erst nach vierzehn Tagen war die Ordnung so weit wieder hergestellt, daß die Soldaten, welche bei der Bürgerschaft einquartiert worden waren, wieder abziehen konnten.

Wäre die bis heute aufrecht erhaltene Absperrung des Waldes nicht erfolgt, so würde jetzt wohl kaum mehr eine Spur von ihm vorhanden sein, da die Gläubigen in ihrer frommen Wuth allerlei Andenken, einen Baumzweig, einige Blätter, ein Stückchen Holz oder Rinde mit nach Hause nehmen wollten. Das in der Nähe des Erscheinungsplatzes befindliche Gesträuch, sowie sämmtliches Gras in weitem Umkreise ist bis auf die Wurzeln verschwunden. Eine Anzahl von Kiefern ist dem Absterben nahe, weil man sie bis über Manneshöhe der Rinde beraubt hat. Ja sogar die Erde war vor den frommen Leuten nicht sicher. Ist es doch gebräuchlich geworden, den von den Schuhen so vieler Tausende weichgekneteten Koth auf Brod zu streichen, das dann von den Kranken gegessen werden mußte. Diesem unappetitlichen Gebrauch trat zwar die Geistlichkeit entgegen, aber ohne Erfolg. Sie begünstigte anfänglich das ganze Treiben, ist aber jetzt einfach nicht mehr Herr der Bewegung, die ihr längst über den Kopf gewachsen ist; sie sieht sich auch außer Stande, sonstige Ausschreitungen des rohesten Fanatismus, der unter Anderem jeden an der Echtheit der Wunder Zweifelnden thätlich bedroht, zu verhüten.

Eine Zeit lang hatte der Zuzug der Pilger etwas nachgelassen. Es war nämlich die ebenfalls im Härtelwald befindliche wunderthätige Quelle von den Truppen verschüttet und der Zutritt dem Publicum verwehrt worden. Schon schien es, als ob die Sache im Sande verlaufen werde, als plötzlich zur rechten Zeit ein neues Wunder eintrat und den frommen Eifer wieder belebte. Etwa fünfzig Schritte von der Ortskirche befindet sich nämlich ein Brunnen, neben dem unter einer Baumgruppe ein Muttergottesbild steht. Das Wasser dieses früher gar nicht beachteten Brunnens zeigte sich nun auf einmal heilkräftig und wirkte ganz so, wie das der unzugänglich gemachten ursprünglichen Gnadenquelle. Die Wunderkraft der letztern war – so erklärte man die Sache – durch das Zuschütten entwichen und auf die neue Quelle übergegangen, welcher, nach den daselbst geopferten Beinen, Armen, Herzen und Kindern aus Wachs zu schließen, bereits außerordentliche Wunder zu verdanken sind.

Noch mehr. Man sandte Wasser und Blätter aus dem Marpinger Wald nach Bois d'Haine und erhielt die jeden Zweifel an der Echtheit der Marpinger Wunder niederschlagende Mittheilung, daß der dortige Pfarrer Niels der stigmatisirten Louise Lateau die obigen Gegenstände während einer Verzückung in die Hand gegeben und daß sie dabei freudig gelächelt habe, gerade

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 667. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_667.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)