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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


so, wie sie es bei Berührung von Lourder Wasser thue. Schon bei der bloßen Nennung des Namens Marpingen habe sie gelächelt. Wen erinnert dies nicht an die römischen Auguren, welche, wenn sie einem Collegen begegneten, das Lachen nicht verbeißen konnten!

Dazu kam noch, daß die Visionen der Kinder immer zahlreicher und mannigfaltiger wurden. Da der Wald nicht mehr betreten werden durfte, so ließ man die Muttergottes einfach an anderen Orten erscheinen. Bald sahen die Kinder dieselbe im elterlichen Hause, bald in der Kirche und Schule und hielten förmliche Gespräche mit ihr. Schließlich begnügen sie sich nicht mehr mit Madonnenerscheinungen; zur Abwechselung erblicken sie die heilige Dreifaltigkeit, den heiligen Geist, glänzende Sterne und eine Unzahl von fliegenden Engeln, die merkwürdiger Weise dieselben Lieder singen, welche die Kinder in der Schule gelernt haben. Die Luft bevölkert sich förmlich mit allerlei Gestalten; hoch am Himmel sehen sie schwarze und weiße Männer, Engelprocessionen, ganze Leichenzüge mit Hunderten von Personen. Zuguterletzt bemerken sie auch noch in ihren Visionen den leibhaftigen Gottseibeiuns in höchst eigener Person mit Hörnern und Schweif. Auf geistliches Anrathen wird die Erscheinung mit geweihtem Wasser besprengt, worauf sie alsbald verduftet, nicht ohne den bekannten diabolischen Gestank zu hinterlassen.

Man sollte meinen, daß jetzt der Menge die Augen aufgegangen wären, doch war gerade das Gegentheil der Fall. Der Ruf der Marpinger Wunder drang in immer weitere Kreise. Hausirende Händler trugen das Wunderwasser und die phantastisch ausgeschmückten Erzählungen von angeblichen Heilungen in alle Welt hinaus. Aus allen Richtungen der Windrose strömten Andächtige herbei, und das ist bis heute so geblieben.

Gegenwärtig beträgt die Zahl der Wallfahrer täglich im Durchschnitt fünf bis sechs Tausend. Von Seiten der Bevölkerung glaubt man, daß für die nächsten Jahre diese Ziffer sich nicht vermindern, sondern eher vergrößern werde, ja man hofft bald die Concurrenz mit Lourdes aufnehmen zu können. Die erforderlichen Mittel zu einer Kirche – eine solche soll auf ausdrücklichen Wunsch der heiligen Jungfrau durch Beiträge der Pilger erbaut werden – dürften wohl bald zusammen sein, da die aufgestellten Opferstöcke Tag für Tag einen schönen Ertrag abwerfen. Wie in einem in Mode kommenden Badeorte werden Hôtels ersten Ranges, elegante Verkaufsmagazine und hübsche Anlagen wie Pilze aus dem Boden schießen. Ein industrieller Kopf hat bereits den Plan gefaßt, in der Nähe des Härtelwaldes ein Hôtel „mit Aussicht auf die Erscheinungsstelle“ zu erbauen. Wie in den Badeorten von einer guten oder schlechten „Cur“, so wird auch hier von guter oder schlechter „Wallfahrtssaison“ gesprochen werden.

Uebrigens profitirt jetzt schon das ganze Dorf bedeutend von dem starken Fremdenzudrang, was den festen Wunderglauben der Bevölkerung einigermaßen erklärt. In einer großen Anzahl von Privathäusern beschränken sich die Besitzer auf ein paar Gelasse und vermiethen den übrigen Theil der Wohnung an die Fremden. Eine Anzahl von Bürgern des sonst so fleißigen Marpingens hat den früheren geringen und mühsamen Verdienst mit einem einträglicheren und dabei weniger mühsamen vertauscht. Statt auf dem Felde oder in der Werkstätte im Schweiße ihres Angesichts zu arbeiten, lungern sie auf der Straße herum, um sich den Fremden als „Führer“ anzubieten. Andere sind Lohnkutscher geworden, während wieder andere sich auf den Handel verlegen und in zahlreichen längs den Straßen aufgestellten Buden den christlichen Wallfahrern zu ganz unchristlichen Preisen Madonnenbilder, Kerzen, Rosenkränze, Blechgefäße für das Wunderwasser und ähnlichen Kram verkaufen. Knaben fallen die Fremden mit Wunderwasser und heiliger Erde an. Am meisten Ursache, in's Fäustchen zu lachen, haben übrigens die Wirthe, welche bei den von ihnen verlangten Preisen bald ihr Schäfchen im Trockenen haben werden, zumal der Durst der Pilger ein nicht geringer zu sein scheint. Hat mir doch einer der Wirthe schmunzelnd erzählt, daß gegenwärtig in einem Tage mehr Bier vertilgt werde, als er früher im ganzen Jahre verzapft habe.

Ich stattete auch den „Gnadenkindern“, wie man sie im Dorfe nennt, einen Besuch ab. Eines derselben, das gerade aus der Schule kam, war mir bereits auf der Straße begegnet. Ein anderes liegt seit längerer Zeit krank; das massenhaft getrunkene Gnadenwasser scheint bei dem Kinde nicht helfen zu wollen. Aus ihm war nichts herauszubringen; vielmehr drehte es sich mit dem Bemerken, daß man es doch endlich in Ruhe lassen solle, mürrisch herum und zeigte den im Zimmer Anwesenden in nicht sehr höflicher Weise den Rücken.

Mehr Glück hatte ich bei dem dritten „Gnadenkinde“, Susanna Leist. Ich fand sie in der Küche sitzend und vergnüglich an einem Stück Kuchen kauend, das ihr einer der fromme Wallfahrer geschenkt haben mochte. Letztere starrten theilweise das Kind an, wie man etwa ein merkwürdiges Thier in einer Menagerie besichtigt, theils blickten sie in inbrünstiger Andacht zu dem begnadeten Wesen auf. Susanna Leist, welche derartige Scenen gewohnt sein mochte und daher vollständig unbefangen dreinschaute, zählte etwa neun Jahre und ist klein und schmächtig von Gestalt. Ihr Gesicht zeigt viel Intelligenz; vorübergehend macht sich ein gewisser Grad von Verschmitztheit bemerklich. Der Vater, ein Mann in den mittleren Jahren, schaute, aus einer langen Pfeife qualmend, mit Stolz auf sein Kind, dem schon in so zartem Alter in der frommen Welt Ehren angethan werden, wie einer Heiligen, während die prosaischer angelegte Mutter ab- und zuging und mich mit etwas mißtrauischen Augen musterte. Doch hinderte sie mich nicht, mehrere Fragen an das Mädchen zu richten.

„Also Susanna,“ fragte ich unter Anderem, „woher hast Du denn gewußt, daß die Erscheinung die Muttergottes sei?“

„Ich habe sie gefragt: 'Wäschen wer bint Ihr?' (Frauchen, wer seid Ihr?) und da hat sie mir geantwortet: 'Ich bin die unbefleckt Empfangene. Ihr sollt beten und nicht sündigen.'“

Und dann erzählte das Mädchen in einem Tone, der erkennen ließ, daß es dieselbe Geschichte schon hundertmal wiedergegeben habe, die ersten Visionen.

Ich stellte die weitere Frage: „Hat die Muttergottes auf alle eure Fragen geantwortet?“

„Nein, wir haben einmal gefragt, wann es regne und wann die Soldaten wieder fortgehen, und da hat sie nichts gesagt.“

Bei der Beschreibung der Kleidung der Muttergottes verwickelte sich das Kind nach verschiedenen Zwischenfragen sofort in Widersprüche. Es sagte auf die bezügliche Frage, daß das Kleid bis auf den Boden herabgegangen sei, sodaß es die Füße bedeckt habe, und kurz darauf gab es die Farbe der Strümpfe, die es also jedenfalls nicht wahrnehmen konnte, als weiß an. Die Umstehenden suchten zwar den offenbaren Widerspruch dadurch zu entschuldigen, daß die Kinder so viele Erscheinungen gehabt haben, bei denen die Kleidung fast jedesmal eine andere gewesen sei. Ich hatte jedoch nach diesen Proben genug und entfernte mich, um mich noch nach einigen der angeblich Geheilten zu erkundigen. Aber auch hier mußte ich die Ueberzeugung gewinnen, daß sämmtliche „Wunder“ sich nach der oberflächlichsten Prüfung sofort als die gröbsten Täuschungen herausstellten.

Eine der erste „Heilungen“ war die des Bergmannes Rektenwald aus Marpingen. Derselbe litt an Rheumatismus und gastrischem Fieber. Letzteres hat sich nach und nach verloren, nachdem auch noch nach dem „Wunder“ ärztliche Hülfe in Anspruch genommen worden war. Der Rheumatismus dagegen ist geblieben und quält den armen Mann nach wie vor bei jedem Witterungswechsel. Auch in Brust und Magen ist nach seiner eigenen Angabe ein Krankheitsrest zurückgeblieben. Das Aussehen des Mannes ist äußerst krankhaft, und unter solchen Umständen spricht man von „wunderbarer“ und „vollständiger“ Heilung.

Aehnlich verhält es sich mit dem achtjährigen Mädchen Magdalena Kirsch, ebenfalls aus Marpingen. Ein Arzt untersuchte das Kind nach der angeblichen „Heilung“ und constatirte, „es sei ein schwaches, kränkliches Kind mit einem Kartoffelleibe, den die schwachen Beinchen kaum zu tragen vermögen“.

Ich habe absichtlich diese beiden Fälle herausgegriffen, weil sie in den ultramontanen Blättern als die „hervorragendsten“ ausposaunt werden. Wie es mit den übrigen weniger „hervorragenden“ Wundern steht, läßt sich nach diesen Pröbchen denken. Verspürt unter tausend Kranken zufällig einer kürzere oder längere Zeit nach dem Besuche Marpingens einige, wenn auch nur vorübergehende Besserung, so schreit man in alle Welt hinaus von einem stattgehabten Mirakel. Von den anderen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 668. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_668.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)