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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Sherif, der ummauerten Hochebene des Moriah, auf der einst der salomonische, dann der herodianische Tempel stand und wo sich jetzt neben der Aksa-Dschamie das zweitgrößte Heiligthum des Islam, die Kuppelmoschee mit dem Felsblocke erhebt, von dem Muhamed gen Himmel gefahren ist, wies mich, als ich in meiner Unschuld hinein wollte, wie der Engel mit dem Flammenschwerte am Thore des Paradieses, ein barscher Muslim, den krummen Säbel erhebend, als unreinen Giaur zurück, und ich erfuhr dann bei Consul Rosen, daß kein Franke dort Zutritt habe. Aber mein gutes Glück ließ sich nicht werfen. Es wußte auch hier Rath. Was macht es? Zwei Tage nachher schickt mir's den veritabeln Großfürsten Konstantin aus Petersburg und in dessen Begleitung den jetzt verstorbenen Professor Tischendorf aus Leipzig zu Hülfe, und vor diesen Celebritäten thut sich das verschlossene Sacrosanctum so weit auf, daß auch ich mit hinein schlüpfen und alles behaglich betrachten kann, wonach mein Herz begehrt.

Ich habe ferner einige Reisen nach Schleswig-Holstein gemacht, auf deren letzter der mir immer gewogene Zufall – oder war's diesmal vielleicht etwas Anderes? – es so einzurichten wußte, daß ich tief in das Hauptquartier der Augustenburgischen hinein gelangte. Aeltere Leser der „Gartenlaube“ und der „Preußischen Jahrbücher“ wissen sich vielleicht zu erinnern, daß mein Stern mir auch da in einige Winkel und Winkelzüge hineinleuchtete, zu denen ich mich ohne ihn nicht hingefunden hätte.

Ich bereiste endlich Frankreich nach dem Willen eines gütigen Geschickes unter höchst eigenthümlichen und gewissen Beobachtungen ungewöhnlich günstigen Umständen. Es war während der großen Völkerwanderung des Jahres Siebenzig, und ich hatte – Salz in die Augen des Neidischen! – die Ehre, die Tour von Saarbrücken bis Sedan und von da nach Versailles in der unmittelbaren Umgebung des Grafen von Bismarck zu machen und während des ganzen Krieges, drei oder vier Tage ausgenommen, in denselben Häusern mit ihm zu wohnen, mit ihm zu speisen, beim Thee seine Aeußerungen zu hören und überhaupt täglich direct mit ihm verkehren zu dürfen.

Nach diesen Erinnerungen darf ich wohl sagen, daß ich dem Glücke einigen Dank schulde und mich vor dem Neide fürchte. Die französische Reise war die höchste Begünstigung, deren ich gewürdigt wurde. Ich gedenke von ihr demnächst in der „Gartenlaube“ einiges Mittheilbare zu berichten. Heute will ich nur von dem wunderbarsten unter den Naturspielen erzählen, die mir der Zufall auf meinen Wanderungen vor die Augen führte. Da es kaum schon von Vielen in der Gestalt und Farbe, in der ich es vor mir schweben sah, beobachtet worden ist, so schildere ich es mit aller Ausführlichkeit.

Man hat oft vom Brockengespenste gehört, jener Luftspiegelung im Nebel, welche, mit der Fata Morgana verwandt, dem Reisenden als sein eigenes riesengroßes Schattenbild entgegentritt. Aehnliche barocke Phantasien der atmosphärischen Welt spuken auch an anderen Orten in allen Welttheilen, in den Wüsten Asiens und Afrikas, an den Küsten verschiedener Meere und in den Bergen sowie auf den Steppen der westlichen Hemisphäre. Auch der Rigi hat sein Gespenst, welches in seiner gewöhnliche Gestalt und Tracht dem des Brocken im Wesentlichen gleichen soll, aber auch noch eine andere, gewissermaßen eine Sonntagstracht hat. Auch in jener selten, scheint es in dieser nur ganz besonders Bevorzugten sich zu zeigen, und ein solcher Fall, der im Sommer des Jahres 1865 vorkam, soll im Folgenden mitgetheilt werden. Physiker mögen die Bedingungen erklären, unter denen das höchst eigenthümliche Phänomen sich bildet. Ich berichte lediglich, was ich gesehen und seitdem in lebendigster Erinnerung bewahrt habe, und schicke nur noch voraus, daß dabei die Rolle des Zufalls diesmal der vor Kurzem verstorbene Leipziger Buchhändler Hirzel übernommen hatte.

Im Spätsommer 1865 also besuchte ich Heinrich von Treitschke zu Freiburg im Breisgau, der damals dort als außerordentlicher (oder war's als ordentlicher) Professor wirkte. Eben wollte ich mich wieder auf den Heimweg begeben, da jener eine Reise durch die Schweiz nach Lyon vorhatte, als ein Brief von Hirzel eintraf, der unter andern spaßhaften Dingen die Aufforderung an Treitschke enthielt, mich unter allen Umständen – zur Noth mit Anwendung von Gewalt – mit nach der Schweiz zu nehmen und mich wenigstens ein Stück davon sehen zu lassen. Ich hatte daran nicht entfernt gedacht, wollte nicht, konnte nicht, gab aber doch zuletzt nach, und der nächste Tag sah uns über Basel nach Zürich dampfen. Von dort ging's später an den Zugersee und hinüber nach Arth am Fuße des Rigi und dann zu Fuße den Berg hinauf.

Der Tag war schwül; Wolken zogen sich zusammen, und auf der Strecke zwischen Rigi-Klösterli und Rigi-Staffel brach ein ziemlich heftiges Gewitter los, das dicht über uns hing und uns trotz Treitschke's Schirm und Plaid ganz artig durchnäßte, sonst aber ohne Unglimpf und Harm bis auf einige leichte Wolkenweben vorüberzog.

Als wir den Gasthof auf Rigi-Staffel erreicht, Unterkunft gefunden und uns, so gut es ging, gesäubert und umgezogen hatten, begaben wir uns eilig hinaus, um uns den Gästen beizugesellen, welche die Pracht des Spätnachmittagslichts drunten auf der Ebene nach Küßnacht hin bewunderten. Es war ein unvergleichlich schönes Bild. Die Dörfer, die einzelnen Gehöfte, die Capellen, die Wiesen und Büsche lagen, mit brennendem Tiefgelb übergossen, wie ein erhaben gearbeiteter Teppich vor uns. Alle Einzelnheiten waren zu erkennen; alle Ferne war verschwunden; ein gutes Auge unterschied deutlich viertausend Fuß unter uns Menschen und Thiere, Fenster und Thüren, und Alles trat uns plastisch entgegen. Aber während hier und auf einem kleinen Theile des Vierwaldstättersees die Sonne aus blauem Himmel ihre vollste reichste Lichtfülle ausgeströmt hatte, war hinter uns und zur Linken über uns Alles ein einziges fahles Grau, und unter den schweren Wolken lag die Gegend in tiefem melancholischem Schatten. Hier und da flog durch das Halbdunkel, wie ein langer weißer Schleier, ein dünner lichter Dunststreifen über die Wipfel der Waldschluchten hin.

Nach dem Pilatus zu war es heller, und man gewahrte hier in der Ferne die Gletscher und die schneebedeckten Felspyramiden des Hochgebirges. Um sie und den See besser sehen zu können, begaben wir uns auf den Weg nach einer kleinen Erhöhung am Ende der Matte hin, an welcher unser Gasthof lag. Diese Erhöhung, Rigi-Rothstock genannt und mit einem Geländer und einer Bank versehen, befindet sich nach meiner Erinnerung einige hundert Schritte vom Hôtel, und der Weg dahin führt über eine Wiese mit kurzem Grase. Wir waren, als wir uns nach ihr aufmachten, allein. Auch vor uns war Niemand zu bemerken. Nur einer von jenen weißen Wolkenschleiern schwebte langsam, von der Gegend des Sees herkommend, dicht über dem Boden hin. Wir hatten ihn zur Linken, und er mochte etwas mehr als doppelte Mannshöhe haben und sich zwanzig bis fünfundzwanzig Schritte von uns hinbewegen. Wir waren nicht fern mehr von der Erhöhung mit der Bank, als ich plötzlich an einer Stelle in dem wandernden Wölkchen ein Phänomen bemerkte, das erst bleich, dann heller und zuletzt brennend, wie ein Rad ohne Speichen und Nabe aussah. Es war ein Kreis in den Farben des Regenbogens, der unverrückt in dem dahinziehenden Nebelgewebe stehen blieb. Der Kreis schien circa vier Fuß im Durchmesser zu haben, die bunte Peripherie zwei Hände breit zu sein; das von ihr Eingeschlossene war weiß. Alles war still und einsam um uns. Ich machte meinen Begleiter auf das Wundergebilde aufmerksam und wir betrachteten es ein Weilchen. Dann stiegen wir von der Matte den Hügel mit der Bank hinauf, und als ich mich hier umdrehte, war das Phänomen noch immer vorhanden; nur hatte es eine andere Gestalt angenommen. Es war jetzt unten auseinander gegangen und zu einer regenbogenfarbenen Nische von der Form eines stark gestreckten Hufeisens oder eines Rundbogenfensters geworden.

Diese Nische oder Thür schien mit ihren beiden Pfosten auf dem Erdboden zu ruhen. In der Mitte aber, zwischen diesen, standen zwei Schatten. Es waren die Silhouetten von Menschen und, als ich genau hinsah – unsere Schatten. Sie hatten ungefähr die Größe von dreijährigen Kindern. Sonst waren sie entschieden unsere Abbilder: die breitrandigen Hüte, Treitschke's Plaid und Schirm, mein Stock, Alles scharf umrissen, nichts nebelhaft, nichts schwankend. Ich meinte einer Augentäuschung zu unterliegen und fragte Treitschke, ob er das wunderliche Gebilde auch noch sehe. Er bejahte es. Zu größerer Sicherheit nahm ich ihm den Regenschirm, schwenkte ihn und winkte dem

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 670. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_670.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)