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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

Bericht. Ich war zum Löwen des Tages geworden, hatte selbst den Sänger begeistert. Denn als der Abend hereingebrochen war und die Jurten sich gefüllt hatten, erschien er in unserer Mitte, ließ in langem Vorspiele seine einfache Laute erklingen und hob endlich einen Gesang an, in welchem seine „rothe Zunge“ sich Genüge that, den General und seine Gemahlin, uns und die übrigen Gäste bewillkommnete und auch mein Jagdglück verherrlichte, dem Sänger selbst aber allen Beifall eintrug. Großartige, tiefgehende Gedanken waren es nicht, welche der Dichter in Worte kleidete; eigenartige, auch mich, der ich morgenländische Denk- und Redeweise kannte, fremdartig anklingende aber waren es wohl. Damit keiner von ihnen mir entschwinden möge, schrieb ich sie nieder, so wie sie mir durch zweier Dolmetscher Mund übermittelt wurden.

Für die Kirgisen, deren einförmiges Hirtenleben jeden Wechsel willkommen erscheinen läßt, waren die beiden Jagdtage Festlichkeiten gewesen, kein Wunder daher, daß ihnen zwei Festtage zu wenig dünkten. Ihre Jagdfertigkeit hatten wir kennen gelernt, ihre Steinadler und Windhunde mit gebührender Theilnahme betrachtet, den Worten ihres Sängers bewundernd gelauscht; nunmehr mußten Ringer und Rennpferde ihre Kräfte üben, um das kirgisische Fest würdig zu beschließen. Reckenhaft gebaute Männer stellten sich einander zum Wettkampfe; hochedle, wenn auch nach unseren Begriffen nicht vollendet schöne Pferde, geritten von sechs- bis achtjährigen Knaben, stürmten in die Steppe hinaus, um vierzig Kilometer auf pfadlosem Wege zurückzulegen, so schnell sie vermochten. Beide, Ringkämpfer wie Rennpferde, entzückten durch ihre Leistungen die Kirgisen und somit auch uns.

Noch am Abend verließen wir unsern Aul, hochbefriedigt von allem, was wir erlebt und gesehen. Unsere russischen Begleiter kehrten nach Semipalatinsk zurück, wir wandten uns südlich und überschritten noch in derselben Nacht die Grenze Turkestans.

Mit Archaren trafen wir nicht wieder zusammen, wir hatten aber in den Arkâtbergen so viel von ihnen gesehen und gehört, daß ich mich wohl für berechtigt halten darf, von ihnen zu berichten. Dies soll das nächste Mal geschehen.




Meine Jugenderinnerungen an Ferdinand Lassalle.
Mitgetheilt von R. Z.

In Nr. 4 der Gartenlaube des laufenden Jahrganges befindet sich ein, wie ich zugestehen will, parteilos geschriebener Artikel mit der Ueberschrift „Aus dem Leben eines Agitators“, welcher trotz dieser Parteilosigkeit über manches Ereigniß anders reflectirt, als der historisch durchlebte Sachverhalt in meinem Gedächtniß lebt. Derselbe bespricht zunächst eine unter dem Titel „Biographisches Charakterbild“ erschienene Lebensbeschreibung Lassalle’s von Georg Brandes, ein Buch, welches mir bis nun nicht zur Hand gekommen ist, jenen kritischen Notizen nach zu urtheilen aber Wahrheit und Dichtung enthalten muß. Dieser Wahrnehmung verdanken gegenwärtige Zeilen ihre Entstehung.

Beinahe vier Decennien sind verflossen, seitdem ich mit jenem vielbesprochenen Manne, dem auch der obstinateste Gegner Genie und Originalität zuerkennen muß, in ununterbrochenem Tages- ja stündlichem Verkehr stand, und zwar unter so intimen Umgangsformen, wie sie nur der Jugend eigen sind. Ich war nach gut christlich-evangelischem Brauche confirmirt worden und hatte mit diesem äußerlichen Abschlusse der Kinderjahre dem Elementarunterricht der Schule entsagt. Meiner inneren Neigung, einen artistischen Lebensberuf zu erwählen, glaubte ich in jugendlich schüchterner Verzagtheit, Familienrücksichten halber, nicht nachhängen zu dürfen; ich war in Betreff eines zu wählenden Berufes noch unschlüssig. Eines Tages eröffnete mir mein Vater, ein schlichter Mann von altdeutschem Schrot und Korn, zu meiner Ueberraschung, daß er mich versuchsweise die in ihrer Art damals beinahe einzige, äußerst gut berufene Handelslehranstalt in meiner Vaterstadt Leipzig besuchen lassen werde und hieß mich zu dem Zwecke ihn begleiten. Wir machten uns auf den Weg, und meine stille Neugierde wuchs, als wir uns nicht in der Richtung zur Esplanade begaben, dem stillen Platze, wo jenes kaufmännische Pädagogium liegt, sondern einen entgegengesetzten Weg nach der jedem Einheimischen wohl bekannten Straße „dem Brühl“ einschlugen. Dort, inmitten jener Seite, auf welcher Katharinen- und Hainstraße münden, mußte ich vor einem unscheinbaren Parterreverkaufsladen stehen bleiben, während mein Vater in denselben trat. Ich blickte nach der oberhalb des Portals befestigten Firmentafel, welche in bescheidenen Lettern die Aufschrift: „Lassal aus Breslau“ auswies. So schrieb sich Ferdinand Lassalle zu jener Zeit, als wir mit einander, kaum den Knabenschuhen entwachsen, bekannt wurden und Freundschaft schlossen; denn die Französirung seines Namens datirt erst aus der späteren Periode, aus der Mitte der vierziger Jahre, wo er zuerst in Paris war.

Hier befand ich mich im Centrum einer jener bewegten Marktscenen, wie sie jede Jubilatenmesse Leipzigs zu jener Zeit im Gefolge hatte. Die zahllos um mich drängenden polnischen Juden mit wallenden Ringellocken und rauschenden Seidekaftanen gewährten mir, wenn auch gerade kein neues, so doch immerhin ein interessantes Bild. Ich war noch mit dem Studium marktschreierisch übereinander prangender Aushängeschilder beschäftigt, als ein junger Mensch von ungefähr meinem Alter mit lebhafter Geste und der Einladung herangesprungen kam, ich möchte in den Kaufladen eintreten. Mein Vater stellte mich darauf beiden Herren Lassals von Breslau, dem Papa und dem Sohne, vor. Wir befanden uns in dem halbdunkeln engen Raume eines kleinen Meßlocales; ein keineswegs umfangreiches Seidenwaarenlager, eben in der Auspackung begriffen, imponirte mir durch die Farbenpracht einzelner Stücke. Jetzt erst erfuhr ich den Zweck unseres Besuches. Unsere beiden Väter, welche aus geschäftlicher Verbindung sich schon von früher her kannten, hatten den gemeinsamen Plan gefaßt, uns, ihre Söhne, dem durch Schiebe’s Leitung renommirten Institute für höhere kaufmännische Bildung anzuvertrauen; der Plan, den jungen Lassal für die Studienzeit zu meiner Familie in Pension und Verpflegung zu geben, fand keine Verwirklichung. Offen gestanden fürchteten meine Eltern, den ungemein lebhaften Jüngling im Kreise der Familie aufzunehmen. – Aber man war doch in der Hauptsache einig geworden, und wir Vier, unsere Väter im eifrigen Gespräche voran, zogen durch die Stadt nach der Handelsschule hinaus, um uns dort als hoffnungsvolle Kaufmanns-Sprößlinge in den höheren Cursus einschreiben zu lassen.

Mir kam die Bekanntschaft mit dem jungen Fremden ganz unerwartet, aber ich gestehe, daß ich mich vom ersten Augenblicke unseres Beisammenseins an lebhaft zu ihm hingezogen fühlte, da der künftige Schulgenosse mir durch die nicht ruhende, stetig witzsprühende Zunge eine mir bis dahin unbekannte Unterhaltung bot. Mein neu gewonnener Freund „Ferdinand“, den ich auf diesem ersten gemeinschaftliche Wege einer genaueren Musterung unterzog, war nach der äußeren Erscheinung seinem Vater auf ein Haar ähnlich. Beide fielen zunächst durch originell kurz-krause Hauptlocken auf. Der Sohn konnte für einen in der kräftigsten Körperentwickelung begriffenen ungewöhnlich schönen Jüngling gelten, dessen antik geformtes griechisches Profil in den ersten Momenten der Betrachtung kaum die semitische Abstammung verrieth. Im lauten Zwiegespräch bestand eine der ersten Sorgen darin, festzustellen, wer von uns Beiden der ältere sei. Ferdinand zeigte mir sein Matrikelzeugniß, welches von Breslau aus dem Jahre 1823 datirte, während mein Taufschein vom darauf folgenden Jahrgang lautete. Noch sehe ich seinen triumphirenden Blick in dem Siegesbewußtsein mir gegenüber, als der Aeltere sechszehn volle Sommer zu zählen, während er mir für mindestes achtzehn derselben bereits geistig und physisch ausgebildet erschien. Schneller als ich vermuthete, war die Ceremonie unserer Eintragung in das Schülerregister der Leipziger Handelsschule vollzogen; unsere Väter erlegten die üblichen Aufnahme-Taxen, und ich fand bei dieser ersten Entlassung aus der neuen, wenig gemüthlichen Schulstube das Gesicht des bis dahin griesgrämig dreinschauenden Directors aufgeheitert und uns neu geworbene Zöglinge anlächelnd.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 688. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_688.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)