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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


und Freund, schreibt mir, daß er in den Entscheidungsgründen eines deutschen Gerichtshofes gelesen habe: ‚In Erwägung, daß die Gemäßigten weit gefährlicher sind – weil sie ihren Plan besonnener anlegen etc. etc.‘ Siehst Du, wie weit es bereits gediehen ist, daß man sogar die Gemäßigten als Feinde fürchtet und nur unbedingt Kriecher und Knechte haben will.“

Noch zweimal versuchten es die Einwohner des Kreises Ziegenhain, Jordan zum Abgeordneten zu wählen; das erste Mal erhielt er von der Regierung keine Genehmigung, und das zweite Mal lehnte er, um alle Unannehmlichkeiten mit der Regierung zu vermeiden, die Wahl ab.

Er wirkte nun still als Lehrer in seinem akademischen Beruf, arbeitete viel, theils in gerichtlichen Gutachten und Processen, theils schrieb er wissenschaftliche Aufsätze, wie: „Die Jesuiten und der Jesuitismus“. In dieser Zeit hat er viel und genau die Geschichte Deutschlands studirt, und wer damals näher mit ihm verkehrte, erinnert sich gewiß, mit welchem Scharfsinn und welcher durchdachten Ahnung er die Dinge sich so gestalten sah, wie sie später wurden. Er schrieb darüber am 22. März 1837 an Wigand: „Das muß man den Preußen lassen, sie reformiren mit mehr Geschick und mehr praktischem Tact als anderwärts. Daß ich Recht habe, oder wenn Du willst, recht voraussehe, wird die Zukunft lehren.“

Wie sehr drückte ihn der träge, apathische Geist der damals Studirenden, dieses schlaffe Sichgehenlassen der Jugend, die weder sittliche Kraft noch Energie besaß, um sich aufzubäumen unter dem Druck der Zeit! „Es ist fast Alles nur Mechanik,“ schrieb er, „Mechanik des sauern Muß. So will man aber jetzt die Leute haben. Maschinen lassen sich leichter dirigiren als selbstständige Geister; der blinde Glaube ist beliebter als gründliches Denken. Die kleinen Universitäten hat Gott in seinem Zorn errichten lassen, zumal in Ländchen, wo man die Kartoffelblüthe höher hält als die Blüthe der Künste und Wissenschaften, und die Ignoranz sich dick und träge frißt an den materiellen Interessen und dummstolz das wahre Wissen als ein Ding belächelt, das man weder essen noch trinken kann.“

Was konnte man von einer Zeit erwarten, in welcher ein Referendar Kassel verlassen mußte, weil er am Geburtstage des Mitregenten mit einer schwarzen Halsbinde in’s Theater ging? Jordan fühlte, wie scharf der Wind war, welcher ihn von der Regierung her anwehte. Er hatte das bestimmte Gefühl, daß man in ihm das Princip verfolge und auf Mittel und Wege sann, einen Mann bei Seite zu schaffen, welcher es wagte, unverhohlen seine Meinung auszusprechen, sowohl auf dem Katheder, wie in den juristischen Aufsätzen, welche von ihm damals erschienen.

Aber bei allen diesen äußeren Unannehmlichkeiten, welche ihn unaufhörlich quälten, fand er Erholung und Trost im Kreise seiner Familie. Er verstand es mit seinem Empfinden aus jedem Lächeln seiner Kinder eine Quelle von Glück zu schöpfen, und wer ihn in dem Zimmer seiner Frau, auf ihrem grünen Leidenssopha (wie er es später so oft genannt) den Arm um sie geschlungen, sein jüngstes Töchterchen auf den Knieen, sitzen sah, der mußte sagen: „Jordan ist trotz Allem ein glücklicher Mensch.“ Nichts, was sich hier zutrug, war für ihn zu klein und unbedeutend; keine Arbeit der älteren Söhne ging achtlos an seinen Augen vorüber; kein Classenlob blieb ohne Echo im Herzen des Vaters. Sein ganzes Sein war ein Meer von unergründlicher Menschenliebe, welches seine stärksten und besten Fluthen auf die Glücklichen ausströmte, welche ihn ihr Eigen nannten. In den Pfingstferien 1839 machte er mit seiner Familie eine Erholungsreise zu seinem Schwiegervater, welcher indessen als Gerichtsdirector von Höxter nach Wetzlar übergesiedelt war.

Er wollte einmal den akademischen Staub von sich abschütteln und im Kreise aller seiner Lieben in der wunderbaren romantischen Umgebung Wetzlars glücklich sein. Hatte er doch kurz vorher noch die unangenehmsten Briefe von Herrn von Itzstein aus Karlsruhe erhalten, welche sich auf actenmäßige Darstellung der demagogischen Umtriebe in Württemberg bezogen, in welchen, für ihn unbegreiflicher Weise, von Itzstein, von Rotteck und er selbst als Betheiligte genannt worden sein sollten.

Diese Reise hatte alle seine Nerven erfrischt, und noch lange nachher sprachen seine Freunde dort von seiner anregenden Unterhaltungsgabe, seinem frischen Humor. Jetzt, nachdem er wieder daheim war, entluden sich endlich die Gewitterwolken, welche schon so lange über seinem Haupte geschwebt hatten. Kurz nach seiner Rückkehr wurde sein Haus von Polizei umstellt, von der Polizeidirection eine Haussuchung vorgenommen und ihm eine Verfügung des Ministeriums eingehändigt, welche seine vorläufige Amtsenthebung aussprach. Die Anklage gegen ihn lautete auf „Versuchten Hochverrath durch Theilnahme an einer hochverrätherischen Verschwörung und auf Beihülfe zum versuchten Hochverrath durch Nichtverhinderung hochverräterischer Unternehmungen.“ Die Haussuchung ging vor sich; alle Briefe und verdächtig scheinenden Papiere wurden confiscirt und Jordan’s Schreibtisch, Secretär, Kommode etc. versiegelt.

Das war eine Verwirrung im Hause – ein Donnerschlag, wie er grausamer und raffinirter nicht ausgesonnen sein konnte. Seine ohnehin leidende Frau war fassungslos; die älteren Kinder bebten vor Entrüstung und Angst, und die Kleinen weinten, weil sie instinctiv fühlten, daß sich hier etwas Schreckliches ereignen müßte. Nur Jordan selbst blieb ruhig; unerschütterlich fest fügte er sich der Gewalt. Mit Sanftmuth und Geduld tröstete er die Seinen, mit immer gleicher Liebe – welche ihn nie verließ – bis zu seiner Todesstunde. Damals ahnte er freilich noch nicht, wie weit man gehen werde. Aber was brachte nicht diese gerichtliche Inquisition damals fertig!

Das Schrecklichste sollte noch kommen, und kein Glied unserer gefolterten Familie wird jemals die Stunde vergessen, in welcher der von Allen so Heißgeliebte vergebens aus dem Verhör zurück erwartet wurde.

Es war Mittagszeit; der Tisch war gedeckt. Man wartete eine schwere, unendlich lange Stunde. Die Kleinen klammerten sich verständnißlos an das Kleid der Mutter; sie verlangten nach dem Vater und nach dem – Essen. Die Größeren standen stumm und sahen scheu und angstvoll in das bleiche Antlitz Derjenigen, welche wohl allein das Verhängniß ahnen mochte, welches über diesem unglücklichen Hause schwebte. Da endlich hörte man das laute Schellen der Hausglocke. Starr und bebend horchte Jedes. Das war nicht des geliebten Vaters Schritt, der sich immer so freudig und schnell über die Treppen schwang. – Ein leises Klopfen, und den Hut in der Hand, das Gesicht voll unverkennbarer Schadenfreude (die er während der ganzen Untersuchungszeit gezeigt) zu einem höflichen Lächeln verzerrt, trat der Untersuchungsrichter Wangemann in das Zimmer. „Der Herr Professor wird heute nicht zu Tisch kommen – er ist verhaftet worden.“

Ein herzzerreißender Angstruf aus der Brust der gequälten Frau unterbrach seine weitere Erörterung, die er sich nicht hatte nehmen lassen, selbst in höchsteigener Person zu überbringen. Der sechszehnjährige älteste Sohn Jordan’s sah bittend in sein Gesicht, indem er scheu auf die Mutter zeigte, und besänftigend fragte: „Das kann doch nur auf einem Irrthum beruhen? Die Sache wird sich gewiß in einigen Tagen aufklären.“

Noch einmal ertönte die Stimme des Richters, welche, hart und unnahbar, alle Dissonanzen der Herzlosigkeit für die Jordan’sche Familie in ihrem Tone trug: „Die Sache kann voraussichtlich sehr lange währen.“ Und mit einem teuflischen Lächeln im Gesichte verbeugte er sich und verschwand.

Also verhaftet! Er, der nur das Beste gewollt, das Edelste erstrebt auf dem Wege des Rechts – er, der seiner Familie Schutz und Schirm war, die einzige Stütze einer leidenden Frau – er saß jetzt allein und verlassen da oben im Zwinger zwischen Mördern und Räubern, allein mit seiner Qual und seinem Weh.

Als einige Wochen später seine Frau verstört und ruhelos in frühester Morgenstunde hinausflüchtete auf den Schloßberg und jammernd an der Mauer lehnte, von welcher sie den Thurm sehen konnte, wo Jordan saß – da schaute ein bleiches Antlitz hinter dem Gitter hernieder; zwei große, heiße Menschenaugen schweiften über die fernen Thäler, und eine zitternde Hand schrieb Zeilen voll erschütternder Klagen auf ein Blatt Papier, welches in dem überreichen Schatz des Jammers unserer Familie als eine Perle bewahrt wird.



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 727. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_727.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)