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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

Worten, nicht zu wandern. Innerhalb des von ihm bevölkerten Gebietes, welches unser kleines Europa mindestens zweimal in sich faßt, bewohnt der Argali keineswegs alle Gebirge oder Bergstöcke, sondern nur gewisse Theile von jenen und einzelne, oft weit von einander getrennte, von diesen, die eine Oertlichkeit wie die andere jedoch Jahr aus, Jahr ein. Solches Verharren begünstigt nun aber die Ausbildung von Stämmen im hohen Grade, und es erscheint daher richtiger, solche anzunehmen, als in jeglicher Abänderung eine besondere Art erblicken zu wollen. Vergleicht man viele Archargehörne, so machen sich zwischen ihnen freilich Unterschiede geltend, und diese können wohl auch ständige und erbliche sein; ich bezweifle indessen, daß man berechtigt ist auf sie Arten zu begründen. Jeder Gebirgstheil beherbergt offenbar die Nachkommenschaft eines einzigen oder doch höchstens einiger wenigen Paare, unter dieser Nachkommenschaft aber müssen sich, da sie zur Inzucht verurtheilt ist, Familieneigenheiten und Aehnlichkeiten herausbilden, und so werden sich mit der Zeit Stammeseigenthümlichkeiten entwickelt haben, welche zu falscher Auffassung verleiten können.

Solche Stämme erkennen wir auch bei anderen freilebenden Thieren, welche weit weniger als Wildschafe an ihrem Wohngebiete hangen. Jeder Geweihsammler weiß, daß Hirsche aus verschiedenen Gegenden auch bis zu einem gewissen Grade verschiedene Geweihe tragen. daß die Geweihe der Gebirgshirsche von denen der Auenhirsche sich merklich unterscheiden. Schafe aber sind Veränderungen in weit höherem Maße ausgesetzt als Edelhirsche, welche zwar auch nicht wandern, aber doch gelegentlich ein Wohngebiet mit dem anderen vertauschen. Wie nun in jeder Stammschäferei allmählich ein bestimmter Schlag sich ausbildet, so wird auch unter Wildschafen Aehnliches vorkommen, und nur, wenn wir dies berücksichtigen, kann es uns möglich sein, über die wirklichen Arten ein klares Bild zu gewinnen.

Bedingung, welche der Archar an seinen Wohnsitz stellt, ist, daß das von ihm besiedelte Gebirge wenigstens an einzelnen Stellen felsige Wände mit schwer zu erklimmenden Steilungen und gesicherten Felsenplatten aufweist; im Uebrigen scheinen seine Ansprüche gering zu sein. Auf die Ausdehnung des Wohnsitzes kommt es ihm nicht an. Die Arkâtberge sind nicht allein verhältnißmäßig unbedeutende Erhebungen, sondern erstrecken sich auch über ein so kleines Gebiet der Steppe, daß sie von einem Reiter wohl in drei bis vier Stunden Zeit umzogen werden dürften. Gleichwohl lebt auf ihnen der Archar seit Menschengedenken als ständiges Wild und findet sich weit und breit rings umher auf keinem anderen Bergzuge. So soll es überall sein. Unter Umständen genügt ein einziger Berg einer nicht ganz unbeträchtlichen Heerde. Breitsohlige Thäler zwischen den einzelnen Gipfeln des Berges oder Gebirgszuges und unbewaldete Matten, wenigstens auf einzelnen Gehängen oder Abdachungen, endlich auch eine gefahrlos zu erreichende, im heißen Sommer nicht versiechende Quelle sind anderweitige Bedürfnisse des Thieres.

Auf solchen Höhen verläuft dessen Leben in merkwürdig geregelter Weise. Als ausgesprochenes Tagthier verbringt der Archar die ganze Nacht schlafend oder doch ruhend auf einer und derselben Stelle, einer gesicherten, freie Umschau gewährenden Felsenplatte nämlich. Ob ihm hier im Winter der eisige Schneesturm um die Ohren pfeift, oder ob ihn im heißen Sommer der kühle Nachtwind erquicklich frischt, scheint ihm ziemlich gleichgültig zu sein. Tobt winterliches Unwetter, so verharrt er, auf seine Felsenburg und sein schützendes Fell vertrauend, auf seinem Schlafplatze und läßt sich einschneien, wie bei uns zu Lande der Hase im Lager; blaut freundlich der Himmel über der Steppe, so erhebt er sich am frühen Morgen, steigt gemächlich an den Bergen herab, weidet auf den Matten der Gehänge, in den Einsattelungen zwischen den Gipfeln, am Fuße der Berge und selbst in der freien Stelle, geht dann zur Tränke und kehrt, sobald die Sonne höher sich hebt, zu der luftigen Höhe zurück, um hier, das Gesicht dem Winde zugekehrt, behaglich zu ruhen und träumerisch wiederzukäuen. Wenn die Sonne sinkt, tritt er einen zweiten Weidegang an, um sich für die Nacht zu versorgen; noch ehe sie zu Rüste gegangen, liegt er jedoch wiederum auf seiner gewohnten Felsenplatte. In dieser Weise gestaltet sich der Tageslauf des Thieres jahraus, jahrein. Seine Wünsche reichen nicht weiter als der Fuß seines Wohnberges, und seine Behaglichkeit wird nur dann gestört, wenn die beiden schlimmsten Feinde, Mensch und Wolf, sein Leben bedrohen.

Im Vergleiche mit anderen Wiederkäuern darf man den Archar als vertrauensselig bezeichnen. Er ist weit weniger scheu als irgend eine Wildziege oder Antilope, jedoch keineswegs so unvorsichtig, daß er sich jede Gefahr über den Hals kommen ließe. Oberst Przewalski, der muthige Erforscher der Mongolei, fand ihn im Sumachadagebirge so auffallend an den Wanderhirten und sein Thun und Treiben gewöhnt, daß er nicht selten neben und zwischen dem Vieh der Mongolen weidete und einen Menschen bis auf fünfhundert Schritte an sich herankommen ließ, ohne Beunruhigung zu bekunden, wogegen die Kirgisen uns dringend anriethen, alle Jagdregeln zu befolgen, um seiner Vorsicht zu begegnen. Der scheinbare Widerspruch löst sich, wenn man erfährt, daß nur wenige Mongolen des Sumachadagebirges Feuerwaffen besitzen, die Kirgisen aber mit guten Büchsen ausgerüstet sind. Im Sumachadagebirge dachten die von Przewalski beobachteten Archare so wenig an ihre Sicherung oder an die Möglichkeit einer Gefahr, daß sie nicht einmal Wachen ausstellten, wogegen dieselben Wildschafe in anderen Gegenden solches nie versäumen. Jedes einzeln gehende Thier unterbricht da, wo es Verfolgung befürchtet, seine Tagesgeschäfte von Zeit zu Zeit, nur zu sichern, und alle Glieder einer einmal mißtrauisch gewordenen Heerde verbinden sich, für die Sicherheit des Verbandes zu sorgen.

Während die Heerde sich äßt, erklimmt ein oder das andere Stück den nächsten besten Felsen, blickt anscheinend gedankenvoll in die Runde, prüft mit weit geöffneten Nüstern den ihm entgegen wehenden Luftzug, verweilt zuweilen nur Minuten, zuweilen eine halbe Stunde auf seiner Warte und steigt, wenn es von seiner und seiner Genossen Sicherheit sich überzeugt hat, wiederum zu diesen herab, um weiter zu äßen. Solches Gebahren deutet auf Bedachtsamkeit und Urtheilsvermögen, Eigenschaften, welche dem Thiere sicherlich zur Ehre gereichen. Ein Schaf bleibt der Argali aber trotz alledem, und das Selbstbewußtsein, welches er sich im Umgange mit Seinesgleichen erwirbt, artet nicht selten in Starrköpfigkeit aus, welche, oft sehr zu seinem Schaden, jene scheinbare Vertrauensseligkeit im Gefolge haben mag. Daß die schwächeren Schafe wachsamer sind als die stärkeren Böcke, bestätigt nur eine fast allgemein gültige Regel.

Im Frühlinge und Sommer leben Böcke und Schafe getrennt, erstere in kleineren Trupps von fünf bis zehn Stück, letztere mehr einzeln, nur der Erziehung ihrer Lämmer sich widmend. So lange die allmächtige Liebe im Herzen der Böcke schlummert, herrscht Friede und Eintracht auch unter diesen: ihre Trupps sind geschlossen, weiden gemeinschaftlich, und einer unterstellt sich willig der Führung des anderen, die Mehrzahl der Leitung des erfahrensten und stärksten. Auf die Dauer kann ein so schönes Verhältniß natürlich nicht bestehen. Der Herbst kommt heran, und die Brunft macht sich geltend.

Während des Frühlings und Sommers haben sich Böcke und Mutterschafe von den Entbehrungen des Winters erholt und gefeistet. Alle Pflanzen, welche auch dem Hausschafe behagen, bildeten ihre Nahrung, und da die Steppe an würzigem, kräftigem Futter reich ist, hat sich nach und nach unter den Böcken ein Gefühl der Voll- oder Ueberkraft eingestellt, welches nach Ausdruck ringt. Schon Ende Septembers trennen sich die Trupps der Böcke. Die ältesten Recken scheiden zuerst aus dem Verbände, welcher ältere und jüngere, jedoch nur mannbare vereinigte, gehen ihre eigenen Wege und nehmen feste Stände ein, welche sie fortan gegen jeden gleich ihnen denkenden und handelnden Nebenbuhler vertheidigen. Jüngere und schwächere ihres Gleichen lassen sie überhaupt nicht zu. Wie Widder insgemein stellen sich zwei gleich starke Argaliböcke trotzig und kampflustig einander gegenüber, schreiten herausfordernd in Absätzen vor, erheben sich auf die stämmigen Hinterbeine und prallen mit den gewaltigen Hörnern derartig zusammen, daß man das hierdurch verursachte Getöse auf weithin im Gebirge vernimmt, daß beide zuweilen unlösbar sich verfangen, daß einer den anderen in den Abgrund stößt und in dessen Tiefe zerschellen sieht. So berichteten mich die Kirgisen durch den Mund General von Poltoratsky’s, welcher zum freundlichem Dolmetsch der ausdrucksvollen Erzählungen der Steppenleute wurde, so erfuhr Sewerzoff, welcher zwar nicht den Argali, aber doch den ihm nah verwandten

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 755. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_755.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)