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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


geht hervor, daß es eine ernste Liebe ist, für die er auf eine ebensolche Gegenliebe hofft, wenn er nicht deren bereits sicher ist. Ist dies der Fall, dann werden wir wohl bald Näheres darüber erfahren.“

„Es scheint mir, als walteten Umstände ob, die ein vorläufiges Geheimniß zur Pflicht machen,“ sagte Max bedenklich. „Spätestens zu Ende dieses Jahres hofft er ganz offen über sein Glück mit uns sprechen zu können. – Nun, ich wünsche dem lieben Jungen den besten Erfolg.“

„Sie muß entweder von vornehmer Geburt oder von großem Vermögen sein,“ sagte Marie, wieder in den Brief blickend. „Ich lese dies aus folgendem Passus heraus – höret: ‚Nur eine tiefe und innige Liebe und der edle, großherzige Charakter des Weibes können einen Mann damit aussöhnen, der Empfangende – nicht der Gewährende zu sein.‘“

„Ja, er schreibt das, und ich gebe ihm darin Recht. Zwingen aber die Verhältnisse zu einer reichen Partie, selbst ohne Liebe, dann, fürchte ich, wird ein stolzer Mann eine unheilbare Wunde empfangen, die für das Glück seiner Ehe sehr verhängnißvoll werden kann. – Was schaust Du mich so fragend an, Marie? Ein armes Mädchen kann ohne Schaden für ihr eheliches Glück einen reichen Mann heirathen, denn für sie liegt nichts Demüthigendes darin, die Empfangende zu sein. Ist der Mann doch naturgemäß dazu verpflichtet, für seine Familie zu sorgen.“

Er beugte sich, als er so sprach, zu ihr nieder, um ihre Stirn zu küssen, dann trennten sie sich. – –

Als Max, ehe er sich zur Ruhe legte, die Straße entlang ging, um nachzusehen, ob in der Fabrik und im Dorfe Alles ruhig sei, da dachte er noch einmal über das heute Erlebte nach, und klarer als je stand vor seiner Seele, daß er nicht noch ein Wesen, das er liebte, in seine Sorgen hineinziehen dürfe. „Es wäre Wahnsinn, wenn ich meiner Schwäche nachgeben würde – Wahnsinn, ein Haus auf so schwankendem Grunde zu erbauen. – Soll ich sie, die ich liebe, vielleicht nach wenigen Jahren verkümmert und gebrochen sehen unter der Last der Sorgen, die ihr an seiner Seite bevorstehen? Immer besser ein muthiges Entsagen, als ein langes Elend! – Ich sehe es ein, mir bleibt nur die Wahl zwischen einem ehelosen Leben – oder einer reichen Heirath.“

(Fortsetzung folgt.)




Fritz van der Kerkhove.
Nachdruck verboten.


Im verflossenen Juni waren in Paris in einem Kunstlocale der Rue Lafitte hundert kleine in Oel gemalte Landschaften ausgestellt, vor welchen mancher Maler Herzklopfen bekam und mancher Weltmensch für eine Stunde zum Träumer wurde. Diese Landschaften, diese gemalten Naturgedanken, so eigenartig, von so wunderbarem Ausdruck, von so schmerzlicher Gewalt und wahrhaft abgründiger Tiefe – wer schuf sie? Ein Kind. Fritz van der Kerkhove starb am 12. August 1873 im Alter von zehn Jahren und elf Monaten. Eine Seele, die den schwächlichen Körper verzehrte. Armer Fritz! Armer kleiner Märtyrer!

Von seinem siebenten Jahre bis zu seinem Tode malte und skizzirte Fritz etwa sechshundert Motive. Sein Vater, ein hochgeachteter Kaufmann in Brügge und geschickter Dilettant in der Genremalerei, legte wenig Werth auf des Knaben Arbeiten, welche ihm mehr absonderlich als bedeutend erschienen.

Nach des Kindes Tode zeigte der Vater einige der Täfelchen dem flämischen Dichter Siret, mit welchem er bis dahin nur oberflächlich bekannt gewesen. Siret, der Poet, erkannte darin, was dem Dilettanten entgangen war: den lebendigen Pulsschlag, den Genius, das Wunder.

Als er auch die übrigen gesehen, veranlaßte er Herrn van der Kerkhove zu einer öffentlichen Ausstellung von hundert der vorzüglichsten Bilder in Brügge, welcher Ausstellungen in Antwerpen, Gent und Brüssel folgten. Aber der Neid der zünftigen Maler ertrug das Genie des Kindes nicht. Es entstand in den belgischen Kunst- und anderen Journalen eine Polemik, welche man für unmöglich halten würde, hätte Siret sie nicht gesammelt und seinem Bande über Fritz van der Kerkhove beigegeben. Mit Schmerz muß ich sagen, daß diese Polemik über zwei Drittheile des Bandes ausfüllt, was um so mehr befremdet, da sie doch von Künstlern stammt, von denen man vor Andern Hoheit des Gemüthes verlangen darf. Auf die gehässigste Weise sah sich Herr van der Kerkhove Monate lang als Betrüger verdächtigt und genöthigt, auf die unwürdigsten Fragen zu antworten, er, dessen Charakter in Brügge so hoch geschätzt ist. Seid ihr, normal begabte Künstler, denn weniger, wenn ihr eine Wundererscheinung anerkennt? Wünschet nicht, ein Fritz van der Kerkhove zu sein! Der Knabe litt unter seinem Genius, wie unter einem Dämon. Oder könnt ihr Wunderkinder überhaupt leugnen? Schrieb Mozart nicht mit vierzehn Jahren eine Oper? Verfaßte Victor Hugo nicht schon mit neun Jahren bemerkenswerthe Gedichte, und schrieb er nicht ein paar Jahre später, das Gerstenzuckerstängelchen im Munde, eine Tragödie „Irtamène“? Veröffentlichte der unglückliche Chatterton mit vierzehn Jahren nicht drei Bände Gedichte, welche nicht nur große geschichtliche Momente, sondern die höchsten metaphysischen Fragen in Fülle zum Gegenstande hatten? Und hinterließ der kleine, mit sieben Jahren verstorbene Graham nicht mehrere gehaltvolle Messen und Streichquartette? Spielte Henry Vieuxtemps nicht mit elf Jahren schon so meisterhaft die Geige, daß de Bériot dem Vater erklärte, er könne dem Kinde nichts mehr lehren, es spiele so gut wie er? Und war in Paris im diesjährigen „Salon“ nicht ein großes, wunderschönes Blumenstück von unbedingt künstlerischem Werthe ausgestellt? Es war von dem elfjährigerr M. de Hadencq gemalt.

Die Ansicht der belgischen Maler war (mit wenigen Ausnahmen) bis nach ihrer vollständigen Wiederlegung diese: Herr van der Kerkhove habe selbst die Landschaften gemalt und, da in den Gemäldeausstellungen seine Genrebilder keine Anerkennung gefunden, diese Landschaften für Werke seines verstorbenen Kindes ausgegeben.

Es liegt, abgesehen von der Thatsache, daß Herr van der Kerkhove niemals von einem Freunde oder Bekannten an einer Landschaft, sondern stets an Genrebildern malend getroffen worden, in jener Anklage ein auffallender Widerspruch. Die Künstler, welche über Kerkhove’s Genrebilder bisher die Achseln gezuckt hatten, hielten ihn nun plötzlich für fähig, die wunderbarsten Landschaften gemalt zu haben. Und diese Landschaften entbehren gerade jener beiden Eigenschaften, welche Herr van der Kerkhove, wie so mancher Dilettant, besitzt: die Routine und das Ansprechende, während sie sich durch eine ganz eminente Eigenartigkeit und eine fast erschreckende Gedankentiefe auszeichnen.

Außerdem zeugt noch ein Umstand für die Aechtheit von Fritzens Autorschaft: die Landschaften sind nicht auf Leinewand, sondern auf hölzerne Brettchen gemalt, oft auf Wände und Deckel von Cigarrenkisten. Denn Fritz malte auf jedes Brett, das er fand. In einer seiner Landschaften befinden sich in der Ecke drei kleine runde Löcher, wie man sie in jenen Cigarrenkisten findet, welche durch rothe Bänder geschlossen sind. Der Gedanke aber, Herr van der Kerkhove habe absichtlich solch primitive Tabletten gewählt, um Fritzens Autorschaft glaubwürdiger zu machen, ist empörend, denn er führt nothwendig zu dem Schlusse, der Vater habe längst auf den Tod seines Kindes speculirt, da er schon wenige Tage nach dessen Hinscheiden Herrn Siret die Landschaften zeigte. Noch tief gebeugt über des Kindes Verlust – wie furchtbar muß Herr van der Kerkhove unter jenen Verdächtigungen und Anklagen gelitten haben! Die Rechtfertigung, die Beweise kamen und schlugen den Neid zu Boden, aber vom Kampfe ist Herrn van der Kerkhove, wohl für’s ganze Leben, eine Wunde im Herzen geblieben. – Er hat jene hundert ausgestellten Bilder, die eine so entsetzliche Explosion hervorbrachten, dem belgischen Staate zum Geschenk gemacht.

Und nun zu den Landschaften selbst! Sie sind unsäglich einfach, unsäglich schwermüthig und – mit Ausnahme zweier, welche einen Feuerregen darstellen – unendlich verschieden. Von Nummer eins bis Nummer hundert läßt sich eine Vervollkommnung entschieden wahrnehmen. Die größten dieser Bilder

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 765. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_765.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)