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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


alternden Goethe, ist in Literaturgeschichten schon so vielfach gesprochen worden, daß dieselben bei den Lesern wohl als bekannt vorausgesetzt werden dürfen.

Nächst Goethe ist's jene interessante Frauenerscheinung, die Dichterin Marianne von Willemer, die der Gerbermühle wechselnden Baumesschatten mit dem unverwelklichen Gezweige des Lorbeers durchflochten und das alte Haus mit dem ewig jungen, ewig frischen Hauch der Poesie und Anmuth umwoben hat. Der Lebenslauf dieser Marianne-Suleika, die unstreitig eine der begabtesten und geistig bedeutendsten Freundinnen Goethe's war, ist seit den letzten zwei Jahren in weitesten Kreisen bekannt geworden durch die beiden über sie erschienenen Werke. Das erste betitelt sich: „Goethe und das Urbild seiner Suleika“ und ist von E. Kellner, der Wittwe eines Frankfurter Mediciners verfaßt worden, welcher Frau von Willemer's Arzt in deren späteren Lebensjahren war und zu ihren intimern Freunden zählte. Das zweite Werk ist der schon seit vielen Jahren mit Spannung erwartete „Briefwechsel zwischen Goethe und Marianne von Willemer.“ Er wurde von einer Tochter Willemer's, einer Frau Scharf in Frankfurt, treu und ängstlich behütet, und sie hatte auch bestimmt, „daß er erst nach ihrem Tode der Oeffentlichkeit übergeben werden dürfte“. Dieser Briefwechsel ist vom Herausgeber, Herrn Professor Th. Creiznach, mit oft höchst interessanten Erläuterungen versehen worden, die auf eingehender Forschung beruhen sollen und mithin als werthvoller Beitrag zur Goethe-Literatur betrachtet werden müssen. Durch das kleine Kellner'sche Buch tritt Marianne von Willemer in dem vollsten Zauber einer anmuthigen und reizenden Frauengestalt vor uns hin. Sie tritt uns nahe durch die lebendigen Beschreibungen der Verfasserin, die ihr nicht nur verwandt war, sondern auch seit ihrer Kindheit in Verkehr mit ihr stand. Durch sie, in deren Besitze viele von den kleinen Gedichten waren, die Marianne einst nur für den engsten Familienkreis geschrieben, lernen wir die hochpoetische Suleika auch von der muthwilligen, echt humoristischen Seite kennen.

Für die Leser dieses Blattes in fernen Landen und Zonen, in entlegener Steppe und Prairie, zu deren Wohnstätten wohl die deutsche „Gartenlaube“ seit lange den Weg fand, aber vielleicht nicht jene beiden Werke drangen, die Näheres über das Privatleben der Marianne-Suleika veröffentlichten, sei Nachstehendes über die reizende Freundin Goethe's gesagt, über das Haus, in welchem sie sich kennen lernten und wo auch jene geistvollen Dichtungen des Buches „Suleika“ entstanden sind.

Marianne von Willemer stammt aus Oesterreich. Sie war die Tochter des Instrumentenmachers Jung und wurde am 20. November 1784 in Linz geboren. Ihre schon in zartester Kindheit auf überraschende Weise hervortretenden und sich entwickelnden Talente wurden in ihrer Heimath durch einen Geistlichen gepflegt und gefördert. Er war es, der ihr, die später so Ausgezeichnetes in der Musik leistete, den ersten Unterricht gab und mit ihr Klopstock und andere Dichter las. Seit ihrem achten Jahre schon der Bühne angehörig, kam sie mit vierzehn Jahren mit einer Wandertruppe und in Begleitung ihrer Mutter nach Frankfurt am Main. Sie trat dort in verschiedenen Gesangsstücken auf, auch als zierlichste Bravourtänzerin des Eier- und des graziösen Shawltanzes. Am Weihnachtstage 1798 war ihr erstes Debüt im „Unterbrochenen Opferfeste“.

Dieses Auftreten der wunderlieblichen Marianne in der alten Kaiserstadt sollte sehr bedeutsam für ihr Leben, folgereich für ihre ganze Zukunft werden. Unter den Mitgliedern der Theaterdirection befand sich damals durch Wahl der Actionäre Herr Johann Jakob von Willemer, ein sehr reicher Herr, einer der ältesten Familien der freien Reichsstadt angehörig. Obgleich er Banquier war und für einen guten Geschäftsmann galt, strebte sein Geist dem Idealen zu, und jedes Außergewöhnliche interessirte ihn sofort. Der Kunst und der Wissenschaft huldigte er vor Allen. Der besten Erziehung, die er genossen, hatte er durch eifrigstes Studium weiter nachgeholfen, sodaß er als ein Mann von ungewöhnlicher Bildung bekannt war. Schriftstellerte er auch viel und gern, so blieb doch seine hervorragendste Leidenschaft das Theater, dem er Kräfte, Zeit und Geld opferte. Die überraschenden Talente der kindlichen Marianne Jung, die ebenso schön sang, wie sie entzückend tanzte und spielte, ihre Lieblichkeit, Anmuth und Schönheit, all dies, das sie so schnell zum entschiedensten Lieblinge des Publicums machte, wurde für Herrn von Willemer, der das Theater kannte, ein Quell der Sorge und veranlaßte, daß er des Mädchens Mutter dazu bewog, sie dem für all jene glücklichen Naturgaben so gefährlichen Boden der Bühne zu entziehen, sie ihm anzuvertrauen, der sich anheischig machte, für ihre weitere Ausbildung und ihre Zukunft dadurch am besten zu sorgen, daß er sie in sein Haus nahm.

Herr von Willemer, 1760 geboren, war zu der Zeit, obschon erst achtunddreißig Jahre alt, bereits zweimal verheirathet gewesen und beide Frauen ihm gestorben. Er hatte drei Töchter, von denen die älteste in ziemlich gleichem Alter mit Marianne stand. Sein jüngstes Kind, ein Sohn, soll 1795 geboren sein und war mithin elf Jahre jünger, als die Pflegeschwester, die er 1799 in Marianne Jung erhielt.

Kennt man Frankfurt und legt noch in die Wagschale, daß zu jener Zeit die Bühne und die Kunst noch nicht im Entferntesten die Gerechtsame und den Ruf unserer Tage hatten, so ist es begreiflich, daß jener Schritt des Herrn von Willemer, der eine fremde, junge Schauspielerin in sein Haus versetzte und zur Lebens- und Lerngefährtin seiner Töchter machte, gewaltiges Aufsehen erregte, den heftigsten Tadel erlitt, von dem man noch jetzt in Frankfurt zu berichten weiß und von welchem uns persönlich im Herbste 1868 jene Tochter des Herrn von Willemer, Frau Scharf, erzählte. Diese Dame, damals schon über siebenzig Jahre alt, war, wie sie uns sagte, nach der Gerbermühle gekommen, um vor ihrem Tode doch noch einmal das Haus zu sehen, in welchem sie einen Theil ihrer Kindheit und ersten Jugend verlebt und so frohe, glückliche Tage genossen. Sie stand am längsten an dem Platze unter den alten Bäumen, nahe dem Hause, wo Willemer seinen Töchtern den Traualtar errichtet und auch Frau Scharf das bindende „Ja“ für's Leben ausgesprochen hatte.

Bei ihrem Gange durch das Haus wurde die alte Dame sehr lebhaft. Sie berichtete ebenso viel aus ihren Kinderjahren und von ihrer Pflegeschwester Marianne, wie von der spätern, so interessanten Zeit auf der Gerbermühle, zehn Jahre nach ihrer Verheirathung, wo Goethe dort gewohnt, viele berühmte Fremde ihn aufgesucht, und wo seine Freundschaft zu der begabten Marianne entstanden, die Hermann Grimm – bekanntlich mit einer Nichte von Clemens Brentano verheirathet – zuerst eingestand, daß sie jene schönen Suleika-Lieder gedichtet.

Frau Scharf, die 1868 einen durchaus einfachen und sehr praktischen Eindruck machte und den „idealen Zug“ von ihrem Vater nicht geerbt zu haben schien, sprach, wenn sie von Marianne redete, doch in anderer, weicherer und wärmerer Weise. Der einstige Zauber der Erscheinung Mariannens wirkte offenbar noch nach.

Ueber den vielfach getadelten Schritt ihres Vaters, der „die Schauspielerin“ in sein Haus genommen, sagte sie: „Sie war alles Andere, als das, sie war das wahrste, offenste und liebenswertheste kleine Wesen, das man sehen konnte. Und meinen Vater muß man gekannt haben, um es völlig natürlich zu finden, daß er bei seinen idealen Bestrebungen für Menschenwohl und Menschenglück sich zum Beschützer und Retter dieses begabten und bezaubernden Mädchens aufgeworfen hat.“

Von Mariannens Eintritt in ihr Vaterhaus sagte Frau Scharf: „Wie Vieles sich auch in Erinnerung und Empfindung schon bei mir abgestumpft hat, unvergeßlich ist mir immer Tag und Stunde geblieben, wo mein Vater hier auf der Gerbermühle mit jenem holdseligen jungen Mädchen zu uns in das Lehrzimmer trat und die Worte sprach: 'Hier bringe ich Euch noch eine Schwester.' Marianne Jung erschien uns wie aus einer andern Welt stammend, und immer habe ich selbst später gedacht, es sei so. Sie war anders, als alle andern Frauen und Mädchen, die ich je gekannt; sie war begabt und bevorzugt vor Tausenden, und mit ihren Talenten, ihrer Schönheit und Anmuth hielt die Güte und Liebenswürdigkeit ihres Charakters so vollkommen gleichen Schritt, daß, gebührte einem irdischen Wesen die Bezeichnung 'Engel', sie vor Allen Anspruch darauf gehabt hätte.“ –

Daß das damals „fremde Element“ im Willemer'schen Hause später das „belebende“ wurde, darüber herrscht nur eine Meinung. Das schroffste Urtheil stimmte die kleine Fee Marianne später in Liebe und Bewunderung um, und der Zauberstab,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 806. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_806.jpg&oldid=- (Version vom 13.12.2019)