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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Geldsendung mußte verloren gegangen sein. Der andere Brief war von Adam Jürß. Himmel und Hölle! Der Mensch goß glühendes Blei in meine Adern. Er sei mein Freund, schrieb er, und es sei nicht gut, daß der Mann so lange von Hause; denn das Weib – eines wie das andere – sei wankelmüthig –“

„Das hat er geschrieben?“ unterbrach ihn Thilde und sah ihn mit ihren blauen Unschuldsaugen groß und klar an. „Geschrieben, daß – –“

„Daß der Korb, den Du ihm gegeben,“ fuhr Wilhelm fort, „Dich zu reuen scheine. Du habest ihm Andeutungen gemacht, Andeutungen –“

„Ist es möglich? Du konntest ihm glauben?“

„Ich mißtraute seinen Worten, aber, der Wurm saß mir im Herzen. Am liebsten wäre ich gleich mit dem ersten Schiff nach Europa gesegelt. Aber – mein böses Schicksal! – ich war bis New-York in Heuer. Was thun? Ich raffte mein Bischen Geld zusammen und sandte es Dir. Dann schrieb ich an meinen alten Freund Fritz Ohlerich – Du kennst ihn ja, den Vogt unseres Dorfes – er solle mir melden, wie man daheim über Dich spräche, und ein wachsames Auge haben. In Rio Janeiro würde ich seine Antwort erwarten. Thilde, was litt ich auf der langen Reise bis Rio! Dort angekommen, eile ich auf die Post. Zwei Briefe! Wieder einer von Adam Jürß, der andere vom Vogt. Da stand es wirklich mit klaren Worten in dem Briefe des Vogts – und meine Augen waren nicht blind und mein Kopf war klar und frei – da stand es: Du seiest zwar ein braves Weib, aber, so schwer es ihm würde, er müsse es sagen: im Dorfe ging ein böses Gerede über Adam und Dich. Besuche des Morgens, Besuche des Abends –“

„O die schlechten, nichtswürdigen Menschen!“ fiel ihm Thilde in’s Wort, „ich hatte nicht Brod noch Salz im Hause; denn die Arbeit war knapp; Keiner erbarmte sich meiner, und der Junge weinte und wollte essen. Da kam Adam – ich sehe noch heute sein gleißnerisches Gesicht – er sagte, daß er mich noch immer gern habe, sprach von seinen Schiffen auf See und dem guten Ertrag, den sie brächten. Ach! ich war schwach genug, seine Hülfe anzunehmen, denn, Wilhelm, der Junge schrie nach Brod und mein Herz wollte sich wenden vor Schmerz. – Adam ging aus und ein bei uns, wie viel ich ihn auch bat, mich zu meiden; denn ich wußte wohl, die Dirnen im Dorfe schwatzen so leicht. O, ich schwöre Dir, mein Herz war rein, und nur um des Kindes willen –“

„Höre mich weiter!“ fiel Wilhelm ein. „Nun las ich auch Adam’s Brief. Jammer und Gram! Mein Bild, mein eignes Bild, dasselbe, das ich Dir als Bräutigam geschenkt und so oft an Deinem Halse gesehen, Thilde – mein Bild fiel aus den Blättern, Er hatte es heraus gebrochen aus dem Medaillon, und nun lag es vor mir, wie jetzt in meiner Hand – sieh her!“

Und er zog ein Taschenbuch hervor und nahm das Bild heraus.

„Auch das noch!“ sagte sie schluchzend. „Wilhelm, er hat es mir abgerungen als Pfand für meine Schuld, wie er schmeichelnd sagte; er wollte durchaus keine andere Bürgschaft – und der Junge schrie wieder nach Brod, und ich gab es hin unter Harm und Thränen.“

„Du habest es ihm aufgedrungen,“ sprach der bleiche Mann weiter, und seine Stimme zitterte vor innerer Erregung, „aufgedrungen, schrieb er. Ich solle kommen, schnell kommen; denn er sei doch auch nur ein Mensch, und sein Herz fange an schwach zu werden. Kommen sollte ich, Thilde. Ich kommen, und schnell kommen! Ha, wußte er denn nicht, daß ich bis New-York gebunden und verheuert war?! Ich antwortete nichts. Aber es blutete in mir, als müßte ich sterben an so viel quellendem, heißem Herzblut. Die Reise war lang. Und dann – was fand ich in New-York? Keinen Brief, Thilde. Nein, aber ein Kästchen. Die Adresse war von seiner Hand geschrieben. Und darin? Nichts Geschriebenes, nein! Tod und Teufel! Darin lag nur – dies.“

Er nahm etwas aus der Brusttasche und warf es auf den Tisch, daß es klirrte und rollte.

„Mein Ring,“ rief sie, „mein Trauring!“ und Thränen erstickten ihre Stimme. „Mir abgelistet, Wilhelm, mir abgelistet durch Versprechungen und Drohungen. Ach, der Hunger und das Kind!“ Sie warf sich ihm zu Füßen. „O, glaube mir, bei Allem, was Dir heilig ist – –“

„Laß’ das!“ wehrte er ab, und ein Zug von Güte und Milde ging über sein bleiches, ernstes Gesicht, indem er sie aufhob. „Nun war ich in New-York,“ sagte er nach kurzer Pause, „nun war ich frei und konnte heimkehren nach Europa. Heimkehren? Ich hatte keine Heimath mehr. Alles dahin, Alles! Denn mein Herz war todt. Ich verfluchte Gott, die Welt, mein Leben; ich verfluchte Dich und mein Kind. Auf einem fremden Schiffe verdingte ich mich nach China. Dann war ich an der Küste von Guinea und in den Gewässern des Stillen Oceans. So schwanden die Jahre, und die Jahre, Thilde“ – ein Klang schmelzender Wehmuth mischte sich in seine Worte – „die Jahre führen Balsam in ihren leise rauschenden Fittigen. Oft wenn ich in der Sternennacht des Südens auf Deck saß und hinauf blickte in die Tiefen des Himmels, dann kam es über mich, als lebe hier“ – und er zeigte auf die Brust – „noch ein armes, schiffbrüchiges Gefühl, weich und innig – o, Du kennst es nicht – Heimweh, Thilde, Heimweh!“ Er fuhr sich über die Augen, als blende ihn das Licht des kleinen Christbaumes, der zu seinen Füßen auf dem steinernen Boden des ärmlichen Zimmers stand. „Und nun bin ich hier,“ sagte er nach einer Weile. „Ich konnte es nicht lassen; ich mußte ihn noch einmal sehen – meinen Jungen, meinen Hans – –“

Und er nahm den Knaben, der von einem Winkel des Zimmers aus der erregten Scene verwundert zugesehen, er nahm ihn auf die Kniee und drückte ihn leidenschaftlich an’s Herz. Das Kind schlang die Arme um den Hals des Vaters. Es war ein rührendes Bild – und alles Leid und alles Weh der Jahre, nun löste es sich allgewaltig – der starke Mann weinte.

„Mein Junge, mein Hans, mein Sohn –“

„Und hier Dein Weib!“ sagte Thilde schüchtern; sie hatte abwärts gestanden, und nun kam sie leise daher und umschlang ihn innig. Eine bange, unausgesprochene Frage stand in ihren Mienen.

„Vergieb!“ rang es sich von seinen Lippen. Er ließ den Knaben aus den Armen und zog sie an seine Brust.

„Jahre lang hast Du um mich getrauert. Thilde, ich glaub’ an Dich; denn ich sah Dich beten für den todten Gatten.“

„O, Du guter, lieber Mann!“ – –

Sie sprachen lange kein Wort. Es war still in dem kleinen Zimmer. Durch die Linde vor der Thür aber wehte der Athem der Nacht, der heiligen Nacht, und dann und wann klopfte ein dürrer Ast verstohlen an’s Fenster.

„Und Adam?“

„Such’ ihn an der Friedhofsmauer,“ antwortete Thilde, „im Winkel, wo keine Kreuze stehn – nur Steine ohne Namen! Der Sturm einer einzigen Nacht hat seine Schiffe zerschellt. Man fand ihn, die Kugel im Herzen.“

„Gott hat ihn gerichtet,“ sagte Wilhelm. Dann hob er den kleinen strahlenden Christbaum von der Diele auf und setzte ihn mitten auf den Tisch.

„Ist das ein Weihnachtsabend!“ flüsterte er, innerlich bewegt; er legte die Rechte auf das Haupt des Knaben und hielt mit der Linken sein Weib umschlungen. „Laßt uns vertrauen und arbeiten! Laßt uns gut bleiben bis an’s Ende!“ –

Draußen zog es daher, klingend und singend, die Gasse entlang – sie hielten nach Vätersitte den Weihnachtsumzug durch’s Dorf. Wilhelm öffnete das Fenster und stieß den Laden auf, und als sie näher kamen, brennende Kerzen und Tannenzweige in den Händen, da sang auch er, wie die Andern alle, hell und kräftig in die Mitternacht hinaus. Und vom Eise herüber antwortete das Echo: „Nun danket Alle Gott!“



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