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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Plötzlich war es ihm – nein, es konnte keine Vision sein.

Hatte doch eben ein Besucher, von Kopf bis zu Fuß sommerlich hell wie ein Kohlweißling, seine Cigarre angebrannt, und bei dem plötzlichen Schein, der die Düsterheit des Felsendomes erhellte, glaubte er ein Gesicht zu erkennen – ein Gesicht, das er seit einem Jahr hundertmal in seinen Träumen gesehen. Doch es war nur ein Augenblick; da verschwand es wieder in der Menge der bunten flatternden Bänder und der Modehüte, die hoch oben auf den aufgethürmten Frisuren saßen. Das Gesicht aber, das er zu erkennen glaubte, trug den schlichten, runden, breitrandigen Strohhut mit den Feldblumen am blauen Bande.

Der Hauptmann hatte nur einen Gedanken, dem Traumbild nachzustürzen, das er im flüchtigen Lichtschein gesehen; draußen im Licht des Tages war keine Täuschung mehr möglich. Doch nicht so leicht war es, seiner krampfhaften Ungeduld zu folgen. Ein langer Zug schöner Damen, zum Theil mit staubaufwirbelnden Schleppen, drängte sich durch die enge Pforte, und die Galanterie gebot ihm, den Parademarsch dieser Modekupfer nicht zu stören. Wenn er sie wieder verlor, nachdem er sie kaum gefunden hatte! Dieser Gedanke ließ ihn alle Rücksicht vergessen. Mit einem kühnen Entschlusse schlüpfte er mitten in den Zug hinein.

Er beflügelte seine Schritte und ging, an verschiedenen Gruppen vorüber, auf den Waldwegen, zu denen sich hier anfangs das Felsenlabyrinth erweitert; doch den entzückenden Strohhut bemerkte er nicht darunter. Sollte sie einen andern Weg nach Weckelsdorf zurückgegangen sein?

In diesen mißmuthigen Gedanken wurde er plötzlich durch den überraschenden Anblick eines großartigen Amphitheaters unterbrochen. Ein herrlicher Architekt, dieser Quadersandstein! Welche prachtvolle Rotunde er hier errichtet hat! O, wenn es Berg- und Waldgeister giebt, so müssen sie in Mondnächten auf diesen Felsenspitzen ihre Nationalversammlung abhalten oder zusehen, wenn drunten in der mit Felsen durchwachsenen Arena die Elfen ihre Mondscheintänze aufführen. Auf der kleinen Bergfahrt, die der Hauptmann unternommen, hatte noch kein Naturschauspiel auf ihn einen so gewaltiger Zauber ausgeübt. Einen Augenblick vergaß er darüber sogar die Hast, welche seine Entdeckungsreise nöthig machte, und bewegte sich in langsamerem Schritt. Plötzlich, als der Weg um eine Felsenecke bog, sah er den schäferlichen Strohhut vor sich; jetzt war kein Zweifel mehr möglich; auf einer Bank saß Hulda – und ganz allein.

„Fräulein Hulda!“ rief er mit einem so triumphirenden Jubel, wie er vom Mast des Schiffes ertönte, als die Genossen des Columbus zuerst das langersehnte Land entdeckt hatten.

Hulda fuhr empor, die linke Hand auf’s Herz gepreßt.

„O, wie möcht’ ich Sie schelten!“ rief der Hauptmann jetzt herzlich auf sie zugehend und ihr die Hand schüttelnd, „so zu verschwinden, ohne eine Spur zu verrathen, so Ihre Freunde im Ungewissen zu lassen! Selbst den Dank für das reizende Vergißmeinnichtkissen konnte ich Ihnen nicht abtragen.“

„Die Verhältnisse zwangen mich dazu,“ sagte Hulda, deren Antlitz eine feurige Röthe überflog.

„Wie bin ich glücklich, Sie wiederzufinden! Wie oft habe ich an Sie gedacht, meine holde Francesca von Rimini –“

„Herr Hauptmann!“ sagte Hulda verlegen.

„Und Sie sind allein hier?“

„Nur mit meinem Vormund, der dort beschäftigt ist das Echo des Amphitheaters mit den Namen aller Hauptfirmen der Hansestadt Bremen zu ermüden.“

„Jetzt müssen Sie mir beichten; hier giebt es kein Entrinnen mehr.“

„Die Umstände, die mich damals bestimmten –“

„Mögen sein, wie sie wollen,“ warf der Hauptmann ein, „das ist gleichgültig. Ich habe ein Jahr lang Ihr Bild im Herzen getragen, ein Jahr lang über dem Räthsel gebrütet, welches den Namen Hulda Freiberg führt. Länger will ich mich nicht mit Schatten quälen – und ich habe ein Recht auf Enthüllungen, da ich sie selbst Ihnen zu geben vermag.“

„Sie selbst, Herr Hauptmann?“ fragte Hulda zweifelnd.

„Ich selbst, und wer weiß, ob das, was ich Ihnen mittheilen kann, nicht in Ihr Leben eingreift!“

„Das ist kaum möglich,“ sagte sie lächelnd, „ich habe den Schleier des Geheimnisses, in das ich mich hüllen mußte, Ihnen gegenüber doch niemals gelüftet, und so neugierig das Bergstädtchen auch ist, es wird doch an seiner unbefriedigten Neugierde, was mich betrifft, noch lange zehren müssen.“

„Sie irren, mein Fräulein. Ihr Schleier ist an einer Stelle durchsichtig; um es zu beweisen, brauche ich blos einen Namen zu nennen.“

„Und dieser Name?“

„John Smith,“ sagte der Hauptmann mit nachdrücklicher Betonung.

Hulda fuhr zusammen. Glücklicherweise ertönte gleichzeitig mit den Worten des Hauptmanns ein Böllerschuß, den der Vormund hatte abbrennen lassen; der Wiederhall sprang von Fels zu Fels, wie ein endloser Donner.

„Wie ich erschrocken bin!“ sagte sie, indem sie die Schuld auf den Lärm des Böllers schob.

„Ihr Vormund wird sich von dem Echo sobald nicht trennen,“ erwiderte der Hauptmann; „wie ich sehe, läßt er den Böller noch einmal laden. Ich beschwöre Sie, mein Fräulein – ein so günstiger Augenblick kehrt uns sobald nicht wieder – reden Sie, brechen Sie jetzt Ihr Schweigen! Das Glück Ihres Lebens steht auf dem Spiel, und ein alter vergessener Freund will nicht in die Einsamkeit zurückkehren, wo er längst seine thörichten Wünsche und Hoffnungen begraben hat, ohne diesen Augenblick für sich und auch für Sie, mein Fräulein, benutzt zu haben.“

„Woher kennen Sie Herrn John Smith?“ fragte Hulda.

„Das ist zunächst mein Geheimniß. Ich kenne ihn nicht, aber glauben Sie mir, Sie sollen ihn durch mich kennen lernen.“

Hulda sah den Hauptmann mit fragenden Blicken an, und seine letzten Worte erweckten in ihr eine unbestimmte Hoffnung; es schien ihr jetzt eine Pflicht, ihr Schweigen zu brechen. Sie waren ungestört; der Vormund legte ein ganzes Capital in Böllerschüssen an und schien über die reiche Verzinsung durch ein höchst solventes Echo eine kindische Freude zu empfinden: denn man hörte ihn von fern mehrmals applaudiren, als wäre das Echo eine Primadonna oder Ballettänzerin. Freilich wurde die Erzählung Hulda’s oft zur Unzeit durch das lärmende Vergnügen unterbrochen; denn die Interpunction, welche die Böllerschüsse anbrachten, war keineswegs correct.

„Wie ich Ihnen erzählte,“ begann das anmuthige Mädchen, „habe ich meine Eltern verloren; mein Vormund, ein reicher Onkel in Bremen, nahm mich zu sich und verwaltete mein kleines Vermögen; es ist derselbe Herr, der dort so unermüdlich die Gebirgsartillerie commandirt. Trotz mancher Eigenheiten, zu denen auch ein zu häufiger Besuch des Bremer Rathskellers gehört, war er freundlich gegen mich, eine Freundlichkeit, welche nur, wenn die zwölf Apostel ihn in eine erregbare Stimmung versetzt hatten, bisweilen heftigeren Ergüssen Raum gab. Im Uebrigen ist er ein Ehrenmann, nur von engherzigen Lebensansichten. Da traf es sich, daß ein junger Geschäftsfreund aus London zu ihm kam –“

„John Smith,“ warf der Hauptmann dazwischen.

„Derselbe,“ sagte Hulda.

„Ich habe ihn gesehen, bei Ihrem Abbild, der kalten, steinernen Lautenschlägerin, gesehen mit seiner Byron’schen Cravatte, diesen fliegenden Engländer.“

„Ich flößte ihm eine mir unerklärliche Theilnahme ein, denn unsere Naturen sind grundverschieden; mir widerstrebte sein überlegener, spöttischer Ton. Er glaubte, weil er die Welt gesehen, weil er im Osten, wie im Westen zu Hause war, alles verachten zu können, was Anderen heilig ist. Er kam öfter nach Bremen und blieb länger dort, als seine Geschäfte nöthig machten; er nannte mich seine Lotosblume, doch ich hatte keine Lust, mich in einen Sumpf verpflanzen zu lassen, wo diese Blumen mit ihren indischen Göttern blühen. Versumpft erschien mir sein ganzes Wesen, geistig todt, trotz der aufflackernden Lichter des Witzes. Unglücklicher Weise nahm die Verzauberung zu, in die ich ihn versetzt hatte; er hielt bei meinem Onkel um meine Hand an. Ein Geschäftsfreund, eine glänzende Partie – Sie können sich denken, mit welchem Jubel der Antrag aufgenommen wurde. Der Onkel hielt mein Sträuben für eine kindische Laune; es begann eine Zeit der Marter für mich, die mich oft in Verzweiflung versetzte.

Da kam ein Zwischenfall. Ein kaufmännisches Unternehmen des Onkels war gescheitert; er wurde dadurch nicht

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 866. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_866.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)