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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


weiteren Betrachtungen daran geknüpft werden. Denn wenn es vorkommt, daß ein Director zwei junge Deutsche, die in ihrer Pension den Sedantag in harmloser Weise durch schwarz-weiß-rothe Schleifen auf den weißen Kleidern ehren wollen, daß er diese Beiden heftig und in Gegenwart des ganzen Pensionats vom Frühstückstisch hinweg weist mit dem Befehl, sich anders anzuziehen, dann ist wohl auch von diesem Director nicht besondere Parteilosigkeit und Objectivität bei seinem Geschichtsunterricht zu erwarten. Etwas Parteinahme gegen Deutschland findet sich in sehr vielen dieser Industrie-Institute. Es ist dies eine instinctive Selbstwehr; sie leben nur durch ihr Französisch und stellen sich unwillkürlich jeder Macht, die das Franzosenthum bekämpft oder bekämpft hat, entgegen.

An ähnlicher Weise wie der Geschichtsunterricht wird auch der in den übrigen Fächern ertheilt. Es sei nochmals erwähnt, daß es glänzende Ausnahmen in dieser Unterrichtsweise giebt, aber es sind Ausnahmen. Nicht nur von deutscher Seite wird dieser Vorwurf gegen die Pensionate der Südwest-Schweiz erhoben, die eigenen Landsleute, die Deutsch-Schweizer, Lehrer, die an deutschen und[1] welschen Schulen gewirkt, Eltern, deren Kinder die beiderseitigen Anstalten besucht, die Schüler selbst, wenn sie reif genug geworden, um den Unterschied zu erkennen, bezeugen es: die Lehrkunst dieser Pensionate ist das Auswendiglernen.

Diese Institute versprechen zu viel; sie wollen in dem kurzen Jahr zu viel geben und erreichen deshalb fast nichts. In dem einen Jahr, von dem mindestens das erste Viertel der Bewältigung der neuen Lehrsprache gehört, von dem ferner acht Wochen Ferien abzuziehen sind, also in sieben Monaten wollen sie noch einmal den gesammten Stoff der Schuljahre durchjagen. Dabei bleibt dann freilich keine Zeit zu eingehenden Untersuchungen; mit eignem Suchen nach der Wahrheit, mit selbstständigem Folgern und Urtheilen kann man sich nicht aufhalten. Alles wird schon hübsch zubereitet den jungen Mädchen als geistige Nahrung eingegeben, und sie brauchen es nur hinunterzuschlucken.

Nicht das ist das Bedenkliche dabei, daß die Schülerinnen so Manches, was sie noch hätten erlernen können und sollen, auf diese Weise nicht erlernen, auch nicht, daß sie im Institut Vieles wieder vergessen, was sie in der Schule gelernt; beides ist schade, ist sehr zu bedauern, aber wirklich verderblich ist ein Anderes. Die jungen Mädchen gewöhnen sich, dieses leichte und mühelose Drüberweghuschen für ernste Arbeit zu halten; die Erzieher selbst oder doch die, die sich so nennen, bringen ihnen diese Meinung bei, und jedes aufmerksame Auge erkennt wohl, wohin solche von den Lehrern selbst protegirte Oberflächlichkeit führen kann. Jede Arbeit, die ein Leben füllen soll, erfordert Mühe und Anstrengung. Wenn unsern Mädchen gesagt wird: „In diesem Jahr sollt ihr lernen,“ so müssen sie eben lernen, das heißt geistig arbeiten. Das Lernen in diesen Pensionen aber ist keine Arbeit, es ist Spielerei, und die Jahre des Spiels sind für Mädchen dieses Alters lange vorüber.

Die hier geschilderten Anstalten haben meist noch irgend einen Nebenzweck. Entweder soll die Schülerin auch neben der französischen Sprache etwas Wirthschaftsthätigkeit üben lernen, oder wenn sie kränklich ist, soll sie sich in gesunder und milder Gegend erholen – solche Pensionate finden sich bei Vevey und Montreux – oder sie soll, ehe sie als fertige Dame in die Welt tritt, noch ein recht vergnügtes Jahr unter Altersgenossinnen verleben, oder endlich sie soll für die Gesellschaft, in der sie einst leben wird, sich in der Pension Tournüre und Auftreten erwerben. Den beiden letzten Forderungen entsprechen die sogenannten Vergnügungspensionate.

Wir wollen nicht erörtern, ob für ein Mädchen, das wirthschaften und geselliges Auftreten üben soll, nicht just für seine Verhältnisse und seinen Kreis das Elternhaus der geeignetste Boden und die Augen der Mutter die beste Leitung sind; es giebt ja leider Verhältnisse genug, wo Beides der heranwachsenden Tochter nicht ist und nicht sein kann, was es sollte. Gewiß ist, daß die betreffenden Anstalten auch solchen Nebenzweck vollständig und zur Zufriedenheit der Eltern erfüllen. Ebenso gewiß ist, daß die jungen Mädchen fast ausnahmslos vergnügt und froh ihr Pensionsjahr dahinleben. Sie verkehren täglich und stündlich mit Altersgenossinnen; Freundschaften werden geschlossen, und die herrliche Natur, die zu jedem Fenster herein grüßt, erfüllt, wenn vielleicht auch unbewußt, das junge Herz mit Licht und Sonnenschein. Dazu genießen die französischen Schweizerinnen mit Recht den Ruf großer Liebenswürdigkeit. Die Vorsteherin eines Pensionats weiß die jungen Seelen sich schnell zu gewinnen, und es werden wenig Institute zu finden sein, wo nicht das herzlichste und innigste Einvernehmen zwischen Zöglingen und Vorsteherin herrschte. Was Letztere fehlt in Unterricht und Erziehung oder fehlen läßt, das geschieht nicht aus Leichtsinn oder gar bösem Willen, sondern aus Nichtwissen.

Und wenn nun die Tochter jubelnd in’s elterliche Haus zurückkehrt, dann wird sie ein hübsches, vielleicht sogar ein elegantes Französisch sprechen, lesen und schreiben können; sie wird, wenn der Lehrer gut war, Fortschritte in der Musik gemacht haben, sie wird der Vorsteherin entweder einige häusliche Verrichtungen oder ein gewandtes geselliges Auftreten abgelauscht haben, sie wird Sehnsucht haben nach ihr, nach den Freundinnen, nach dem Alpenland, sie wird zärtliche Briefe dorthin senden – aber an allgemeiner Bildung hat sie nichts hinzuerworben, was ihr nicht eine Schule der Heimath in der halben Zeit und mit einem Viertel der Kosten hätte gewähren können.

In einem Bericht, der sich zwar bestrebt, die guten Seiten rückhaltlos anzuerkennen, der aber auch die Klagen, welche bisher von Eltern und Lehrern zurückgekehrter Schülerinnen nur in Privatkreisen geführt wurden, in’s weitere Publicum trägt, dürfte sich von den betreffenden Anstalten fast wie von den Frauen sagen lassen: die Besten sind die, von denen man am wenigsten spricht. Doch auch diese Besten seien kurz erwähnt. Sie werden von tüchtigen Erziehern geleitet, die sich schon an Schulen der Schweiz oder des Auslandes oft jahrelange praktische Erfahrung gesammelt haben. Mit der großen Schwierigkeit, zu Gunsten der französischen Sprache alle übrigen Fächer auf ein Minimum von Zeit und Arbeit anweisen zu müssen, kämpfen auch sie. Auch bei ihnen ist die Sprache der Hauptunterrichtsgegenstand, aber sie ist nicht Alleinherrscherin. Sie beschränken die Zahl der übrigen Fächer und in dem einzelnen Fach das Jahrespensum; sie geben weniger als die andern, aber sie geben Gutes. Zwar finden wir auch hier noch bei einzelnen eine Vorliebe für das Auswendiglernen, die unsere deutsche Schule (auch die der deutschen Schweiz) verurtheilt. Aber daneben zeigt sich doch immer das Streben, den Schülerinnen wirklichen Stoff und Gehalt mitzutheilen; wir finden strengere Anforderungen an die Lernenden. Mit einem Wort, hier will man erziehen und lehren, dort nur den Lehrstoff abhaspeln, den der Prospect versprochen hat. Dem innern Bau einer solchen wirklichen Lehranstalt finden wir auch da und dort eine oder einige Classen für Nichtpensionäre eingefügt. Eltern, die am Orte selbst wohnen, können besser als die im Auslande beurtheilen, welche Anstalten etwas leisten, welche nicht; in erstere schicken sie ihre Kinder, wenn diese keine öffentliche Schule besuchen sollen.

Die Institute, denen es nur um ein Geschäft zu thun ist, zählen nach Hunderten; die wirklichen Erziehungsanstalten erreichen kaum die Zehner. Wenn es ein Zufall ist, so ist es jedenfalls ein uns ehrender, daß gerade unter der geringen Zahl der Letzteren auch deutsche Namen sich finden. Einen ganz hervorragenden Platz aber nehmen die Schulen der Brüdergemeinde ein. Die deutsche Pädagogik wirft den Herrnhutern ein starres Festhalten am Alten, ein Zurückbleiben hinter den Fortschritten vor, die diese Wissenschaft in neuerer Zeit gemacht. Hier ist wohl nicht der Ort, ein Für oder Wider über Princip oder Methode darzulegen. Das aber darf in einer Beurtheilung der Mädcheninstitute der Westschweiz nicht verschwiegen werden, daß die Anstalten der Herrnhuter dort aus der Fluth von Nichtigkeit und Oberflächlichkeit hoch emporragen und unter den guten in erster Reihe stehen. Von ihnen gilt speciell, was vorhin im Allgemeinen gesagt worden.

Es läßt sich nicht rathen: „Schickt eure Töchter dort hin“, oder „schickt sie nicht!“. Der Einen kann dasselbe Haus wirklichen Gewinn bringen, das auf die Andere nachtheilig und verderblich gewirkt hat. Wir konnten nur darlegen, was die Schülerinnen dort finden, was sie dort entbehren; wir konnten nur melden, was man als sicher von den Pensionaten erwarten darf, und wir konnten nur zu erklären suchen, warum dieses Sichere ein so Geringes ist. Ob das junge Mädchen auf einige Zeit in den geschilderten Boden zu versetzen ist, das hängt

  1. Vorlage: „nnd“
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 871. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_871.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)