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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


am 15. gegen Abend anlangte und bis zum 19. verblieb, und wo der Kanzler in dem stattlichen Hause des Vicomte de la Motte auf der Rue Tronchon wohnte, während ich mein Quartier unmittelbar gegenüber bei einem Baron de Vaudeuvre hatte, der ausgeflogen war.

Man war hier nur noch etwa fünfzig Kilometer von Paris entfernt und schon unter den ersten unvermischten Galliern, die inzwischen, wie bekannt, die Republik erklärt und eine Regierung der nationalen Vertheidigung eingesetzt hatten. Schon am 15. erfuhr man, daß letztere mit uns unterhandeln wollte, indem Sir Edward Mallet, ein Attaché der englischen Gesandtschaft in Paris, beim Chef erschien, um anzufragen, ob er geneigt sei, mit Jules Favre die Bedingungen eines Waffenstillstandes zu besprechen. Der Kanzler sollte ihm geantwortet haben: „Die Bedingungen eines Friedens, ja, die eines Waffenstillstandes, nein“ – was nach späteren Vorgängen wohl nicht richtig war.

Am 19. früh hörten wir, daß Favre sich für zwölf Uhr Mittags habe ansagen lassen. Zwei Stunden vorher machte sich Alles auf Befehl des Chefs zur Abreise bereit, und als Favre um zwölf Uhr noch nicht da war, wurde aufgebrochen. Doch ließ der Minister auf der Mairie einen Brief für Jenen zurück und sagte dem Bedienten der Vicomtesse, er möge ihn, falls er noch käme, darauf aufmerksam machen. Der Kanzler und die Räthe waren bei dieser Tour zu Pferde und ritten nach einiger Zeit den Wagen voraus, von denen ich den zweiten allein einnahm. Wir folgten erst im Marnethale dem Laufe des Canals und verließen diesen dann beim Dorfe Mareuil, um auf der Höhe über dem uns zur Rechten bleibenden Flusse weiter zu fahren.

Hier kommt uns zwischen den Ortschaften Mareuil und Montry an einer Stelle, wo die Chaussee unter breitwipfeligen Bäumen stark bergab geht, eine zweispännige Kutsche mit zugemachter Decke entgegen, in der mehrere Herren in Civil und ein preußischer Officier sitzen. Unter den Civilisten ist ein graubärtiger Herr mit hervortretender Unterlippe. „Das ist Favre,“ sage ich zum Kanzleidiener Krüger, der hinter mir sitzt: „wo ist der Minister?“ Er war nicht zu sehen, aber wahrscheinlich vor uns und der langen Colonne von Fuhrwerken, welche uns die Aussicht versperrte. Ich ließ rascher fahren, und nach einer Weile begegnete uns der Chef, mit Hatzfeldt und Keudell zurückreitend, in dem Dorfe Chessy, wo Bauern ein todtes Pferd mit Stroh und Häckerling bedeckt hatten, welches brannte und ganz abscheulich roch. „Favre ist vorbei, Excellenz, da hinauf,“ sagte ich.

„Weiß schon,“ erwidert er lächelnd und trabte weiter.

Tags darauf erzählte uns Graf Hatzfeldt Einiges von der Begegnung des Kanzlers mit dem Pariser Advocaten und Regenten. Der Minister und der Graf waren uns wohl eine gute halbe Stunde Wegs voraus gewesen, als Hofrath Taglioni, der Chiffreur des Königs, ihnen gesagt, daß Favre vorbeigefahren. Er war eine andere Straße gekommen und hatte die Stelle, wo diese in die unsrige mündete, später als der Chef passirt. Der letztere war ungehalten, daß er davon nicht eher benachrichtigt worden. Hatzfeldt jagte Favre dann nach und kehrte, als er ihn gefunden, mit ihm um. Nach einer Weile kam ihnen Graf Bismarck-Bohlen entgegengeritten, der es dem mit Keudell noch weit entfernten Chef melden mußte. Endlich sahen sie bei Montry denselben herankommen. Man wollte hier in ein Haus. Sie wurden aber auf das hochliegende Schlößchen Haute-Maison, zehn Minuten Wegs von da, aufmerksam gemacht, und so begab man sich dahin. Hier trafen sie zwei württembergische Dragoner, von denen der eine seinen Karabiner nehmen und vor dem Hause Wache stehen mußte. Auch ein französischer Bauer fand sich vor, der im Gesichte aussah, als ob er soeben eine Tracht Prügel bekommen, und den man fragte, ob es hier wohl etwas zu essen und zu trinken gäbe. Während sie noch mit ihm sprachen, trat Favre, der inzwischen mit dem Chef hineingegangen, auf einen Augenblick heraus und hielt seinem Landsmann eine Rede voll Pathos und Hochsinn. Es wären Ueberfälle vorgekommen, aber das dürfe nicht sein. Er sei Mitglied der neuen Regierung, die das Wohl des Vaterlands in die Hand genommen und dessen Würde zu vertreten habe, und er fordere ihn im Namen des Völkerrechts und der Ehre Frankreichs auf, zu wachen, daß man diese Stätte heilig halte. Seine, des Regenten, und ebenso seine, des Bäuerleins, Ehre forderten dies gebieterisch, und dergleichen mehr. Der gute dumme Bauernknabe zeigte diesem Wortschwall ein sehr einfältiges Gesicht; er verstand davon offenbar so wenig, als ob es Griechisch gewesen wäre, und machte eine Figur, daß Keudell sagte: „Wenn der uns vor Ueberfall behüten soll, da ist mir der Soldat dort doch viel lieber.“

Von anderer Seite hörte ich noch, daß Favre von den Herren Rink und Hell, früheren Legationssecretären Benedetti's, und von dem Fürsten Biron begleitet gewesen, und daß für ihn hier im Dorfe Quartier bestellt worden. Keudell aber erzählte: Als der Bundeskanzler aus dem Zimmer, wo er sich etwa drei Viertelstunden mit jenem besprochen, wieder heraustrat, fragte er den Dragoner vor der Thür, woher er wäre. „Aus Schwäbisch-Hall.“ – „Na, Sie können sich was darauf einbilden, bei der ersten Friedensverhandlung in diesem Kriege Wache gestanden zu haben.“

Wir Andern hatten inzwischen eine Weile in Chessy auf die Rückkunft des Kanzlers gewartet und waren dann, vermuthlich mit dessen Erlaubniß, weiter gefahren, bis wir nach etwa zwei Stunden Ferrières erreichten. Wir befanden uns jetzt innerhalb der Zone, welche die Franzosen um Paris geflissentlich verwüstet hatten. Doch war die Zerstörung hier noch mäßig, nur schien die Bevölkerung der Dörfer, die wir berührten, von den Mobilgarden zum großen Theil verjagt worden zu sein. Nirgends hörte man einen Hund, dagegen sahen wir in einigen Höfen Hühner umhergehen. An den meisten Thüren, die wir passirten, stand mit Kreide „Corporalschaft N.“ oder „1. Officier und 2 Pferde“ oder etwas Anderes der Art geschrieben. In den Dörfern befanden sich oft städtische Häuser, seitwärts Villen und Schlösser mit Parks, was auf die Nähe der Großstadt deutete. Von Wachtposten am Wege und anderen Vorsichtsmaßregeln wie vor Château-Thierry und Meaux war hier nichts zu bemerken, was für den Chef, wenn er spät und mit schwacher Begleitung nachkam, bedenklich werden konnte.

Endlich, als es zu dämmern anfing, fuhren wir in das Dorf Ferrières und bald darauf in das daneben gelegene Gut Rothschild's hinein, in dessen Schloß der König und mit ihm die erste Staffel des großen Hauptquartiers für längere Zeit Wohnung nahm. Der Minister sollte in den letzten drei Zimmern im ersten Stock des rechten Flügels Quartier haben, wo er auf die Wiesen, den Teich und den Park des Schlosses hinaussah; das Bureau etablirte sich in einer der größeren Stuben des Parterre, während wir in einer kleineren speisten.

Es war schon dunkel, als der Chef auch eintrat und sich bald nachher mit uns zum Diner setzte. Während wir aßen, ließ Favre anfragen, wann er kommen könne, um die Unterhandlungen fortzusetzen, und von halb zehn bis nach elf Uhr hatte er in unserm Bureau eine Conferenz mit dem Minister. Als er wieder ging, sah er (vielleicht noch Rest einer Mimik, die drinnen hatte rühren sollen, bemerkt mein Tagebuch) bedrückt, niedergeschlagen, fast verzweifelnd aus. Es schien also noch nichts aus dem Frieden werden zu sollen. Im Uebrigen erschien er als ein ziemlich großer, ältlicher Herr mit grauem Backenbart, der sich auch um das Kinn zog, etwas jüdischem Gesichtstypus und dicker, hängender Unterlippe.

Bei Tische hatten wir eine Probe von der Gastlichkeit und dem Anstandsgefühl des Herrn Baron bekommen, dessen Haus der König mit seiner Gegenwart beehrte, und dessen Besitz in Folge dessen in jeder Weise geschont wurde. Herr von Rothschild, bis vor Kurzem Generalconsul Preußens in Paris, ließ uns durch seinen „Regisseur“ oder Haushofmeister patzig den Wein verweigern, dessen wir bedurften, wozu ich bemerke, daß derselbe wie jede andere Lieferung bezahlt werden sollte. Vor den Chef citirt, setzte der dreiste Mensch seine Renitenz fort, leugnete erst ganz und gar, Wein im Hause zu haben und gab dann zwar zu, daß er „nur ein paar hundert Flaschen Petit Bordeaux im Keller habe“[1], erklärte aber, uns davon nichts abtreten zu wollen. Der Chef machte ihm jedoch den Standpunkt in sehr kräftiger Rede klar, hob hervor, was das für eine unartige und filzige Manier sei, mit der sein Herr die Ehre erwidere, die ihm der König dadurch erwiesen, daß er bei ihm abgestiegen sei, und fragte, als der vierschrötige Patron sich wieder aufbäumen wollte, kurz und bündig, ob er wisse, was ein Strohbund sei. Er schien das zu ahnen; denn er wurde

  1. In Wahrheit waren es 17,000.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 873. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_873.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)