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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

„Wir haben nie Glück auf dieser Seite, und überhaupt – ’s ist nicht viel mehr mit der Böhämmerjagd. Die Viecher riechen förmlich ’s Blasrohr schon von Weitem.“

„Vorwärts,“ murrte mahnend ein Anderer. „Noch ist die 'Hohe Tanne' und 'Weidenboll' abzusuchen. Dann fertig für heute. Ueber’s Münsterer Thal hinaus gehen wir diesmal nicht.“

Und der ganze Schwarm, Fackel-, Korb- und Blasrohrträger, brach das vergebliche Suchen an der Stelle ab und wanderte weiter. Wir sahen lange dem abenteuerlichen Zuge nach, wie die Leuchtpfannen durch den Wald blitzten, verschwanden, wieder auftauchten und in wunderbarem Effect die Tannenkronen bestrahlten, um dann, ein wandelndes Feuer um das andere, hinter dem Bergkamm unterzutauchen.

Wie gern wäre ich ihnen gefolgt! Der Vater jedoch schüttelte das Haupt. Die Böhämmerschützen, meinte er, fänden für heute keine Beute und dürften die Jagd aufgeben, nachdem sie ihr Wild durch irgend welche Unvorsichtigkeit verscheucht hätten. Der „Flug“ müsse mindestens über’s Thal nach den Röxelhalden am Treitelsberge oder noch weiter, über den Hundsfelsen und Leberstein nach dem Rehberge gegangen, vielleicht in die Buchenwälder des Trifels eingefallen sein. Zudem stob jetzt der Schnee stürmischer auf dem hohen Bergjoch und wirbelte, während wir weiter eilten, nachgerade so heftig, daß das Rauschen der Mühlen im tiefen Klingthale uns als Gruß der Heimath traulich herauf klang.

Als ich später mit dem Schulränzchen auf dem Rücken täglich nach dem Progymnasium Bergzaberns wanderte, fand sich Gelegenheit genug, mit der nächtlichen Jagd bekannter zu werden.

Die Böhämmer-Metropole Bergzabern liegt an der Stelle altrömischer Bergschenken – tabernae montanae – vor einem Vogesenpasse, zwischen dessen frische, üppige Waldhänge sich die Mühlen seines Westends malerisch hineindrängen. Noch wird das von zwei Rundthürmen flankirte Schloß bewohnt, der Wittwensitz der Wittelsbacher von Zweibrücken, in welchem die große Landgräfin Henriette eine hoffnungsvolle Jugend verlebte und in schöner Natur zu ihrem edlen Fürstenberufe heranwuchs. Noch zeigt das alte Wasgaustädtchen, neben anderen interessanten Renaissancehäusern, den „Engel“, einen malerischen, mit Erkern, Kuppeln und vorragenden Drachenhäusern versehenen Bau im barocken Geschmacke des holländischen Schiffsstyles. Geburtsort eines Reformators und des alten Kräuterkenners Tabernämontanus, sowie mehrerer in der politischen Welt bekannter Männer neuerer Zeit, hat es in der Zeitgeschichte schon öfter lebhaft von sich reden gemacht, ist aber im Lande selbst am bekanntesten wegen seiner Böhämmerjagd.

Wenn die Felder bestellt sind, der Wein gekeltert ist und im kühlen Keller gährt, verlegen sich Bergzaberner Bewohner gegen den Winter hin auf Vogelkunde, ein Zug, den sie mit den Thüringern gemein haben und der nirgends in der Pfalz so hervortritt, wie hier. Die tiefen, frischen Laubforste der oberen Mundat, welche einst der Abtei Weißenburg gehörten, begünstigen diese Liebhaberei, und des Städtchens eigener Wald hat noch schöne, ursprüngliche Bestände von Edeltannen, in welchen mitten im Winterschnee der Kreuzschnabel brütet und auf Leimruthen gefangen wird. Allein dieser Vogelsang tritt völlig vor dem Leben zurück, das in der Wintersaison des stillen Wasgaustädtchens bei Ankunft der Böhämmer herrscht. –

Nicht alljährlich, sondern nur, wenn die Bucheckern gerathen, in sogenannten „Büchelmastjahren“, welche mit guten Weinjahren und nachfolgendem strengerem Winter zusammenzufallen pflegen, kommen nämlich aus dem höchsten Norden zur Zeit des Vorwinters ungeheuere Schaaren von Zugvögeln in die Waldschluchten des Wasgaues hinter Bergzabern, weiden am Tage die Forste ab und gehen zur Nachtruhe in die hohen Tannenwipfel der Berge. Die Züge sind manchmal so stark und dicht, daß sie die Sonne verfinstern. Wo sie einfallen, erfüllt ihr Geschrei Berg und Thal. Nun eilen aufpassende Boten in die Stadt mit der aufregenden Kunde: „Die Böhämmer sind da.“

Frohe Botschaft! Alt und Jung, Reich und Arm, Beamter und Handwerker rüstet sich zur lang ersehnten nächtlichen Jagd. Die Leuchtpfannen werden hervorgeholt, denn das seltene Waidwerk findet bei Fackellicht statt; der Kienspahn wird in die Rückkörbe gefüllt, die bereit gehaltene übliche Waffe – ein fein gearbeitetes, neun bis zehn Fuß langes Blasrohr – zur Hand genommen, die Kugeltasche umgehängt. Hat man sich doch längst schon mit dem nöthigen Geschosse versehen, kleinen Lehm- und Lettenkugeln, die in eigenem Werkzeuge geformt und – etwas getrocknet – durch das Kugeleisen gerieben werden, um ihnen die nöthige Rundung und Glätte zu geben.

So vorbereitet und ausgerüstet, zieht man in freudiger Erwartung gegen Anbruch der Nacht truppweise hinaus in die beschneiten und bereiften Bergwälder, deren Schlüfte bald von wandelnden Feuern leuchten. Es gilt, die Böhämmer im Schlafe zu überrumpeln und dabei jedes Geräusch zu vermeiden. Denn nicht der Fackelschein, der die Vögel nur blendet, sondern der unvorsichtige Laut stört und schreckt sie auf, dem strengstens vorgebeugt werden muß, wenn diese stille Jagd ohne Pulver gelingen soll.

Endlich ist der Schlummerplatz der Vögel entdeckt. Alle Aeste und Zweige der Baumkronen biegen sich unter der Last dicht neben einander sitzender Böhämmer. Die Kienspahnflammen aus den Feuerpfannen der Fackelträger beleuchten weithin im Walde eine reiche Ernte. Denn die unglaubliche Menge der Vögel erinnert in der That an die Züge der Wandertauben in Nordamerika.

Jeder „Schütze“ hat seinen Fackelträger und seinen Rückkorbträger, welcher letztere den Kienspahn in den Wald und die Jagdbeute heimschleppt. Während nun die beiden Theilnehmer in athemloser Spannung harren, nimmt der Schütze sein Blasrohr an die Lippen, richtet die Waffe nach dem nächsten Vogel, pustet hinein, – von der Lehmkngel getroffen, sinkt der Böhämmer lautlos zur Erde. Indeß die Rückkorbträger die Beute sammeln, erlegen die Schützen nun Stück für Stück auf dieselbe stumme Jagdweise. Die Vögel kommen ihnen dabei in wunderlicher – aber verbürgter – Gepflogenheit entgegen. Fühlen nämlich die Böhämmer auf ihrem luftigen Sitze die entstandene Lücke, wenn einer aus ihrer dichten warmen Reihe herausgeschossen wird, so rücken sie dumpf und leise zwitschernd, wie im Traume, zusammen, um zur Bequemlichkeit des Jägers die erkältende Lücke wieder auszufüllen. Der Böhämmerschütze kann also gelegentlich von demselben Standpunkte aus Vogel um Vogel herunterblasen und, ohne sich weiter zu bemühen, oft viele Dutzende von seinem Platze aus erlegen.

Dazu gehört freilich sicherer Blick, kräftige Lunge, gute Waffe und Uebung. Ein einziger Fehlschuß kann die ganze stille Jagd verderben. Selbst eine gutgezielte Kugel kann das Wild an falschem Orte treffen oder am harten Ast zerschellen. Ein böser Umstand! Ist nämlich ein Böhämmer nicht so getroffen, daß er gleich todt von der Tanne sinkt, so flattert er ängstlich oder flößt einen durchdringenden Schrei aus. Dieser Alarmruf weckt die Schlummernden zum allgemeinen Aufbruch. Nun rauscht und braust und schwirrt und lärmt es aus den hohen Baumwipfeln in die nachtschwarze Luft; das Böhämmervolk saust dahin, als ob der Gott des Sturmes selbst durch die Schluchten des alten Wasgenwaldes johlend wüthe. Dann ist für diese Nacht, oft auch für die nachfolgenden Nächte, keine Beute mehr zu hoffen. Der eine flüchtige Schwarm weckt durch seinen lärmenden Abzug die übrigen, im weiten Gebirge zerstreuten „Flüge“, und fort zieht das Volk der Böhämmer zu Millionen in entlegenere Forste.

Daraus läßt sich ein Schluß machen, wie verpönt ein Flintenschuß im Gebiete der Böhämmerjagd ist. Als zu meiner Jugendzeit dereinst einer der angesehensten Bürger von Bergzabern jagdlustig unter die Böhämmer feuerte, kam es nächtlicher Weise fast zu Mord und Todtschlag im Walde. Behauptet man doch, daß die Böhämmer nicht wieder nach Gegenden kommen, in welchen ihnen einmal mit Pulver und Blei zu Leibe gegangen worden. In der That ließ sich in einem besonders reichen Vogeljahre kein Böhämmer mehr in den Bergwäldern hinter Klingenmünster sehen, nachdem der Förster sein Gewehr in einen das Thal überstreichenden Flug abgeschossen, während die Forste hinter Bergzabern eine gesegnete Ernte boten. Und gerade dem ausschließlichen Gebrauche des Blasrohrs bei dem seltsamen Waidwerke wird es zugeschrieben, daß sich diese nordischen Streuner in der Umgebung des Wasgaustädtchens mit Vorliebe niederlassen, weil die überlebenden Böhämmer von so geräuschloser Jagd nichts inne zu werden pflegen, also ahnungslos wiederkommen. Möglich, daß sie sich auch von der Waldlandschaft angezogen fühlen, die im Winter Aehnlichkeiten mit ihrer nordischen Heimath bieten mag.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 10. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_010.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)