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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

weit von der Villa, bat sie um die Erlaubniß, zurückbleiben und das Haus mit seinen Umgebungen zeichnen zu dürfen; beim Rückwege werde man nicht auf sie warten wollen. Der Maler wählte ihr die günstigste Stelle neben einem großen Stein aus, der die Mappe stützen konnte, und gab ihr Weisungen, wie sie das Blatt einzurichten habe. Ihre Mutter widersprach nicht.

An der Thür stand die alte Ursel mit ihrem Enkel, Beide in Kirchentoilette. Sie eilte, nachdem sie die Dame begrüßt hatte, voran in’s Haus und öffnete ein Zimmer linker Hand gerade über dem Atelier. Es war ganz neu, aber im Geschmacke der alten Ledertapete, der Stuckarbeit an der Decke und des Parquets möblirt. Auf einem mit feinstem Linnen gedeckten Tische in der Mitte waren drei Couverts von buntem Porcellan hergerichtet; einige Flaschen Wein und Schüsseln mit kalten Speisen standen darauf, zum Gebrauche einladend.

Elise trat an’s Fenster und prüfte die Aussicht. „Wenn’s Ihnen genehm ist,“ sagte sie, „so setzen wir uns nicht eher zu Tische – falls diese gedeckte Tafel wirklich auf uns wartet – bis Irmgard mit ihrer Aufnahme fertig ist und uns folgt. Zunächst verlangt mich’s, Ihr Bild zu sehen; darin ist mir meine Tochter voraus, und bis ich das Versäumte nachgeholt habe, ist sie da. Dann dürfen wir auch einen Rundgang um die Terrasse nicht unterlassen; die Aussicht hier von halber Höhe ist bezaubernd.“

Er nickte ihr verständnißvoll zu und führte sie, ohne etwas zu entgegnen, nach seiner Werkstatt hinüber. Auch diese hatte ein verändertes Aussehen. Die Spinnengewebe waren aus den Ecken fortgefegt, Vorhänge von feinem Stoffe hingen in gefälligen Falten an Fenstern und Thüren; einige Bilder in Goldrahmen zierten die Wand; die Studien waren besser geordnet, und vor der Staffelei lud ein kleines Sopha zum Sitzen und behaglicheren Beschauen des neuen Werkes ein. Ueber das Bild auf der Staffelei war eine grüne Decke gehängt. Er bat „die gnädige Frau“ Platz zu nehmen und zog die Hülle dann fort. Ein Ausruf der freudigsten Ueberraschung belohnte ihn. Er galt nicht dem Gegenstande, den sie ja aus der Beschreibung kannte, sondern der lebendigen Wirkung der Malerei. Ihre Befriedigung darüber äußerte sich mit so warmem Enthusiasmus, daß an der Aufrichtigkeit ihres Gefallens kein Zweifel bleiben konnte. Dann folgten einige Minuten stillen Beschauens, und dann hatte das Auge so viele liebenswürdige Motive gefunden, daß nun der Mund nicht länger mit lebhafter Anerkennung der einzelnen Theile der Composition zurückhalten konnte.

Werner hatte anfangs seinen Platz neben der Staffelei behalten, er konnte so am besten von ihrem Gesichte den Eindruck seines Werkes ablesen. Nun aber war er längst schon einen Schritt vorgetreten und hatte, während er ihre Erklärungen bestätigte oder ergänzte, die Partien, auf die sie sich bezogen, mit der Hand umzirkelt und abgegrenzt. Je mehr das Bild sie fesselte, desto mehr beschäftigte es auch ihn. Er ließ es in allen Figuren wieder in sich und vor ihr entstehen, und dann stellte er sich in einige Entfernung davon hinter das Sopha, gleichsam um nun selbst nachzusehen, ob es gelungen sei. Er stützte sich dabei auf die Polsterlehne und berührte ihre Schulter. Das Blut rann heiß durch seine Adern zum Herzen.

„Was ich nicht am wenigsten bewundere,“ sagte sie, bald auf das Bild, bald mit einer reizenden Wendung des Kopfes zu ihm halb zurückschauend, „ist ein Umstand, den nur Ihre vertrautesten Freunde würdigen können.“

„Und der wäre?“ fragte er gespannt.

„Wer die traurige Lage kennt, in der Sie sich nach Ihrer eigenen Schilderung bis vor Kurzem befunden haben, das Gefühl der trostlosesten Verlassenheit, das Ihre Stimmung beherrscht haben muß, wird Ihren Muth bewundern, einen so heiteren Gegenstand zu wählen, und Ihre Fähigkeit, ihn so echt humoristisch auszuführen. Der Widerspruch ist nicht leicht zu beseitigen.“

„O doch!“ antwortete er, sich vorbeugend, sodaß er ihr Profil sehen konnte. „Es ist freilich ein sehr erklärlicher Irrthum, daß der Mensch und der Künstler im Moment des Schaffens dieselbe Person sind – aber doch ein Irrthum. In jedem Künstler liegt nicht nur ein bestimmtes Maß des Könnens, sondern auch eine bestimmte Anschauungsform, in der er leistungsfähig ist. Er giebt sie sich nicht – sie ist in ihm; sie beherrscht und zwingt ihn unter ihr Gesetz. Es giebt für ihn nur die Wahl, so zu schaffen, wie ihm die Bedingungen von der Natur vorgeschrieben sind, oder – gar nicht zu schaffen. Wohl ist eine Störung seiner rein menschlichen Empfindungen denkbar, die jeden Schaffenstrieb aufhebt – das ist ein entsetzlicher Zustand, der auch mir nicht fremd geblieben ist – aber wenn dieser Störung keine Zerstörung folgt, wenn eine Selbstrettung durch Thätigkeit möglich ist, dann wird auch jedes künstlerische Schaffen eine Befreiung von der Angst und Noth der den Menschen bedrückenden Stimmung, und leicht geschieht es, daß er gerade zum Gegensatz strebt, um sich leichter von sich weg zu helfen.“

„So ist es wieder ein schönes Vorrecht des Genies,“ antwortete sie, „Heilmittel zu besitzen, die uns gewöhnlichen Sterblichen nicht zu Gebote stehen.“

„Sollte denen, die Sie gewöhnliche Sterbliche nennen, der Weg zu diesem Heil wirklich verschlossen sein?“ fragte er. „Befreiung in meinem Sinne ist Hingabe, volle Hingabe an ein Anderes, Uebermächtiges. Wer das findet –“

„Sie haben Recht,“ fiel sie ein. „Auch wir können das Vergessen eigenen Leides suchen, indem wir mit ganzer Hingabe bemüht sind, die Thränen unserer Mitmenschen zu trocknen. Wohlthun – das ist etwas. Aber ist dies sein Grund, so bleibt doch immer etwas zurück: es fehlt die rechte Liebe.“

„Wie dort in der Kunst!“ rief er, „und nur die rechte Liebe schafft das Liebenswürdige. Glauben Sie mir, auch dem Bilde da fehlte vor einigen Wochen noch viel zu dem vollen Leben, das Ihnen jetzt daraus entgegenlacht. Alle die Linien und Farbzusammenstellungen waren da – ich hätte kaum noch etwas hinzuthun können. Und fertig ist’s doch erst geworden, seit ich Sie fand, Elise, und durch Sie wieder ein anderer Mensch geworden bin. Da erst sind diese hellen, lachenden Lichter aufgesetzt worden; da erst lernten alle diese Augen sprechen, aus geschickt gruppirten Puppen wurden Figuren mit dem künstlerischen Schein des Lebens.“

Die schöne Frau stand auf und trat näher an die Staffelei heran, als wollte sie das Einzelne genauer betrachten. Aber ihr klopfte stürmisch das Herz. Er hatte das Gespräch auf sie selbst hingelenkt – wo hinaus sollte es, wenn die Wogen seiner Empfindung höher gingen? Und Irmgard kam noch nicht.

Er folgte ihr mit einem Blick, der ganz sehnsüchtiges Verlangen war, die hohe Gestalt in sich hineinzuziehen. Die Hand krampfte sich auf der Brust zusammen. Entschlossen trat er an sie heran. „Elise,“ sagte er mit bewegter Stimme, „sollen zwei Menschen, die wissen, daß sie sich einander in allem Heiligsten angehören, auf der Erde für immer getrennt und glücklos hinwandern müssen? Sollen sie ihr kümmerliche Heil nur in der Kunst des Vergessens suchen? Giebt es für sie nicht eine Befreiung von allem Leid, das sie sich auf den Irrwegen des Lebens selbst zufügten, in der vollsten und reinstes Hingabe an einander? Sagen Sie nicht, es sei zu spät! Nie kommt zu spät, was eine ewige Dauer haben soll. Elise, wenn Sie mich doch liebten – doch –“

Er umfaßte sie und zog sie an sich. Sie widerstand nicht, lehnte die glühende Stirn auf seine Schulter und weinte still. „Man hatte mir ja gesagt, Sie hätten mich aufgegeben,“ schluchzte sie, „und ich mußte es wohl glauben, denn mein Vater … Nein, keine Anklage! Meine Schwäche war’s – meine Muthlosigkeit und dann meine Gleichgültigkeit gegen Alles, was über mich bestimmt wurde.“

„Keine Anklage!“ wiederholte er und küßte ihr die Thränen vom Auge fort. „Ich war geliebt – ich bin geliebt. Was dazwischen lag, ist verronnen wie ein wüster Traum. Fort mit der Erinnerung daran! Hier ist Glück; hier ist Leben.“

Er blickte, trunken von Seligkeit, in ihre schönen Augen, die nun ganz freudige Verheißung waren.

So standen sie eine Weile. Da wurde hinter ihnen die Thür geöffnet und gleich wieder, wie mit einem heftigen Ruck geschlossen.

Sie blickten erschreckt auf und zurück. Es war Niemand eingetreten. „Die Ursel wahrscheinlich,“ sagte er.

„Oder Irmgard.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 24. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_024.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)