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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Thier-Charaktere.

Von Adolf und Karl Müller.
Ein geharnischter Harmloser.

Wir sind gewohnt, ritterliche Thaten mit Vorliebe aus dem Leben unserer eigentlichen Raubthiere zu verkünden, Thaten der Kraft und des Muthes, der Großmuth und aufopfernden Mutterliebe, Kämpfe der Eifersucht und Nebenbuhlerschaft, Raubzüge verwegener Kühnheit und nächtliche Ueberfälle. Im „Löwenritt“ ist die Reitkunst des Wüstenkönigs durch den Dichter verherrlicht worden; seine Stärke gipfelt in dem bewunderten Sprunge, den er, das zweijährige Rind im Maule, über den drei Meter hohen Zaun des Krâls macht, und unsere Anerkennung schlägt ihn gleichsam zum Ehren- und Königsritter. Die Riesensprünge der Katzen vom Königstiger herab bis zum Luchs, des letzteren Geduld und Ausdauer im Lauern und auf meilenweiten Raubgängen – sie sind Beurkundungen bevorzugter Thierfamilien von edlerem Stande. Selbst der Sprung des Edelmarders in den Nacken des Rehes vom Baume herab erscheint uns als ritterliche That. Und sehen wir gar, wie der gnomenhafte Dächsel, schon rühmlich bewährt in der Feste Malepartus durch Mißachtung der Prankenschläge und Bisse Meisters Grimmbart, dem Tiger lautgebend sich entgegenstellt, fürwahr, dann können wir nicht anders, als von einer ritterlichen Großthat reden. Ehre, dem Ehre gebührt!

Aber ich möchte auf die Erfahrungsregel hinweisen, daß die Welt vor allem Anderen geneigt ist, die großartige, imponirende Gestalt der That anzuerkennen und dafür das, was im Kleinen sich groß erweist, die Leistung im Stillen und Niederen, welche nicht in die Augen springt, zu übersehen. Solche verborgene, nur der mühsamen Forschung zugängliche Großthaten treten aber innerhalb der Ordnung der Insectenfresser oder Kerfjäger (Insectivora) zahlreich auf, ohne daß sie in der Oeffentlichkeit Aufsehen erregen.

Was will die Muskelstärke des Berberlöwen im Verhältniß zu derjenigen des Maulwurfs bedeuten? Die Last, welche der Nacken des Maulwurfs hebt, die Stoffmasse, welche seine Hände unermüdlich nach hinten schaufeln, der Erfolg, mit welchem der Knorpelrüssel wühlt: das ist mehr als ritterliche That, das ist Herculesarbeit. Was will das Gebiß des furchtbarsten Raubthierkiefers gegen dasjenige des Maulwurfs und der Spitzmaus gelten? Ich antworte mit Karl Vogt’s Vergleich: „Das Gebiß einer Spitzmaus, zu den Maßen desjenigen eines Löwen vergrößert, würde ein wahrhaft schauderhaftes Zerstörungswerkzeug darstellen.“ Man sollte meinen, die Instrumentenmacher hätten dem Insectivorengebiß das Muster zu ihren Bohr-, Schneide- und Säge-Instrumenten entlehnt. Und neben diesen Verwüstungswerkzeugen, welch ein Verdauungsvermögen, welch ein Stoffwechsel! Das Gewicht der beiden genannten Insectivoren entspricht dem Gewichte dessen, was sie täglich fressen. Der „Löwenritt“ ist weltberühmt, der Ritt einer Wasserspitzmaus aber auf dem Kopfe eines mehrere Pfund schweren Karpfens, dem die nadelspitzen Zähnchen die Augen zerfleischen und das Gehirn anbohren, zumal im Wasser, dem Elemente des Fisches – ist er auch kein dichterischer Stoff für einen Freiligrath gewesen, ihn soll doch die Feder des Thierkundigen rühmend verzeichnen als Großthat des Zwerges in sammetschwarzem Pelzmantel mit Silberperlenverbrämung.

Doch heute haben wir es mit einem anderen Kerfjäger zu thun, den der Künstlergriffel leibhaftig in dem Bilde verherrlicht, das die Unterschrift trägt: „Igel und Kreuzotter“.

Dort liegt aus dem Stoppelacker am Feldrain eine eirunde Stachelkugel. Ich trete hinzu, und ohne Gewaltmittel in Anwendung zu bringen, streiche ich die Menge starrender Stacheln von vorn nach hinten, fasse, so geschützt vor Verletzung, den Stachelklumpen und trage ihn auf eine überhängende Felsplatte. Es vergeht eine Zeit von fünfzehn Minuten, ehe ein leises Zucken an dem Panzer sichtbar wird, dann aber streckt sich unter mehrmals wiederholtem Rucke zu gleicher Zeit der vordere und hintere Theil desselben, und vorsichtig prüfend taucht zuerst eine rüsselförmige Schnauze und alsdann das finster blickende Gesicht hervor. Ist es wirklich drohender Zorn, unheilverkündender Rachegedanke, der in dem faltenreichen Gesichte geschrieben steht? Wie doch die äußere Miene täuschen kann!

Der entrollte Igel läßt das Auge prüfend in die Umgebung blicken und rollt dann linkisch dem Rande der Platte zu. Täppisch poltert er hinunter, aber, im Nu wieder zusammengerollt, fällt er als Kugel zu Boden, ohne im Mindesten sich weh zu thun. Fällt er doch so von hohen Mauern nieder, ohne sich zu beschädigen.

Eine so merkwürdige Einrichtung, welche das Thier plötzlich in eine gänzlich veränderte Gestalt umzuwandeln vermag, verdient eine genauere Untersuchung. Ein stark entwickelter Hautmuskel, welcher theils als Fortsetzung der dicken Faserschicht des Hinterkopfs erscheint, theils an dem Nasen- und Stirnbeine entspringt, umgiebt gürtelartig die beiden Seiten des Igelleibes. Das nach hinten zu beiden Seiten seiner Seitenabschnitte breit verlaufende, am Bauche dick, nach dem Rücken zu dünn werdende Muskelband hängt mit der Haut des Stachelpanzers von dessen Ursprung am Bauche bis zum Rücken zusammen. Die Seitenhälften des Muskels verbinden sich auf dem Stummelschwanze des Igels miteinander. Sobald er nun den Muskel zusammenzieht, wird der Panzer verkürzt und seine Stacheln richten sich folgerecht empor. Es tritt zugleich die Mithülfe von Bauchmuskeln hinzu, sodaß die Panzerhaut gleich einem Strupfbeutel die am Bauche vereinigten Füße sammt Kopf und Schwanz umhüllt. Nur in der Mitte des panzerlosen Bauches bleibt eine kleine, schmale Naht. Beim Entrollen der Stachelhaut sind zwei Muskelpartien thätig, die vordere, welche in strahlig auf der Rückenseite verlaufenden Muskelbündeln der Haut über Stirn- und Nasenbein wie an den Ohrmuscheln und am Halse einverleibt sind und durch Zusammenziehen das Vordertheil, die Kapuze, entrollen, und ein hinteres Muskelpaar, welches in den mittleren Schwanzwirbeln seinen Ursprung hat, im Verlaufe der Fasern der Bauchseite sich vereinigt und in den Rückenrändern des großen Hautringmuskels endet.

Ausgerollt und gestreckt, steht ein plumpgestaltetes, ohne das 2,5 Centimeter messende Stummelschwänzchen 30 Centimeter Länge und etwas über 12 Centimeter Höhe einnehmendes Thier vor uns mit gelbröthlichgrauem Kopfe und glänzend schwarzen Augen, schwarzbraunen „Läufen“, weißgrau grundirter und röthlichgelb überflogener Brust- und Bauchpartie und mit Stacheln bewaffnet, deren Grund und Spitze braun, deren Mitteltheil aber gelblichweiß erscheint und die ihrer Länge nach abwechselnd feingefurcht und mit erhabenen Leisten versehen sind. Wir gönnen dem geharnischten Harmlosen seine Freiheit und ertheilen ihm unbedenklich Absolution bezüglich seiner vereinzelten Angriffe auf Vogelnester am Boden und junge Häschen im Grase oder auch Mordversuche im Hühnerhofe, wo er erfolglos unter die ihren Augen kaum trauenden und ob der Verwegenheit langhälsig staunenden Hennen springt und dieselben zum erschreckten Auffluge veranlaßt. Wir sehen dem Sohlengänger unter der Zusicherung unseres unwandelbaren Protectorats wohlwollend nach und suchen ihn zu gelegener Zeit wieder auf.

Wo sind sie, die einsamen Plätze alle an den Waldrändern, an Dornrainen, in heckenreichen Feldgärten, in kleinen Feldgehölzen und in Parkanlagen, wo auf meinen Beobachtungsgängen und Ständen der Igel mich Blicke thun ließ in seinen Wandel, sein Wesen und Familienleben?

Es will allmählich Abend werden. Leiser Wind lispelt im Gezweige und fächelt erquickend die Augustschwüle. Ein Rascheln auf dem Laubboden lenkt mein spähendes Auge nach jenem aufgeschichteten Heckenreisig im Gebüsche. Dort regt es sich an mehreren Stellen, und deutlich tritt zunächst ein alter Igel in den Abendsonnenschein. Die Nase gesenkt und nach allen Richtungen hin Blätter, Wurzelausschläge, bemooste Steine und Vertiefungen beschnüffelnd, rückt er dem zwischen Bosquetpartien sich hinschlängelnden Wege näher. Da gewahrt er eine Maus. Wie eine Bildsäule steht er stille, mit gespanntem Gehöre und haftendem Blicke, bis die Beute nur noch einen Meter von ihm entfernt ist. Dann springt er, rascher zufahrend, als das seither beobachtete täppisches Auftreten vermuthen läßt, der im Zickzack ausweichenden Maus behende nach und hält im nächsten Augenblicke

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 31. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_031.jpg&oldid=- (Version vom 8.1.2023)