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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Gebunden.
Erzählung von Ernst Wichert.
(Fortsetzung.)


4.

Irmgard war mit ihrer Skizze unzufrieden gewesen. In der Umrißzeichnung sah das Haus so gewöhnlich aus, es fehlte ihm das, was es ihr beim ersten Besuche so interessant gemacht hatte, und was wohl mehr mit der Stimmung, als mit dem Auge zu erfassen war. Diese Stimmung fehlte heute. Sie hatte nach einigen vergeblichen Versuchen durch Andeutungen von Licht und Schatten eine mehr charakteristische Wirkung hervorzubringen, das Blatt in die Mappe geworfen und war nach der Villa gegangen. Da sie den Eingang zum Atelier kannte, hatte sie nicht Bedenken getragen, die Thür zu öffnen. Da standen –

Ein furchtbarer Schreck lähmte ihr im Augenblicke die Besinnung. Sie hatte etwas gesehen, wofür es in ihrem Fassungsvermögen gar keine Stelle gab: Ihre Mutter in den Armen eines fremden Mannes –! Dieses Mannes –! ihre Mutter! Wie von einem Schlage vor die Stirn getroffen, trat sie zurück und zog die Thür zu, daß sie geräuschvoll in’s Schloß fiel. Einer Ohnmacht nahe, stand sie eine Weile im Flure, hastig athmend, bald bleich, bald roth. Wachte sie wirklich? War das eine gespenstische Vision gewesen? Sie fühlte einen heftigen Schmerz in der Brust – ein Stechen und Nagen. Es war ihr ein Leid geschehen – das Herz wußte es.

Ihr Blick heftete sich noch immer auf die Thür. Da hinein durfte sie nicht. Die Phantasie malte ihr noch einmal das Bild, das sie so tödtlich erschreckt hatte. Der Kopf schwindelte ihr; sie schwankte seitwärts und sank mit der Schulter gegen die Wand. Aber es war ihr, als ob Jemand hinter ihr rief: fort - fort! keine Secunde länger in diesem Hause! – Sie raffte sich mit aller Kraft auf und eilte über die Wiese hin. Ohne umzuschauen lief sie bergab, bis sie die Landstraße erreichte. Ihre Brust keuchte, aber ohne Aufenthalt setzte sie ihren Weg fort. Wer sie sah, mußte sie auf der Flucht glauben. Erst in der Stadt mäßigte sie ein wenig den Schritt.

In ihrer Wohnung angelangt, eilte sie sofort auf ihr Zimmer und schloß hinter sich die Thür. Der heftige Weinkrampf, der sie befiel, brachte nur Erschöpfung, nicht aber Erleichterung.

Als ihre Mutter nach Hause kam und an der Thür horchte, hörte sie ihr leises Schluchzen. Sie wollte zu ihr, konnte jedoch nicht öffnen. Sie klopfte an, erhielt aber keine Antwort.

Werner wartete im Pavillon. Elise bat ihn, sich für heute zu verabschieden. Irmgard scheine sehr unwohl zu sein; sie würde doch nicht Ruhe haben, außer in der nächsten Nähe des Kindes. Es sei auch besser, sie erführe erst von ihr, was vorgegangen, oder wenigstens die näheren Umstände. „Ich fürchte, sie hat vorzeitig entdeckt,“ setzte sie hinzu, „was sich ihr nur nach gehöriger Vorbereitung hätte enthüllen sollen.“ Er konnte nicht begreifen, was dabei zu fürchten sei. Man brauche doch nur ein Wort zu sprechen. Er hätte am liebsten mit Elise ein kleines Boot bestiegen und sich mit ihr auf den See hinausrudern mögen. Mit ihr allein in stiller Mondnacht auf dem Wasser! Das hatte er immer in Gedanken gehabt beim Gange am Ufer entlang und wohl auch ausgesprochen. Nun mußte er sich gleich vom ersten Tage seines jungen Lebensglückes einen Abzug gefallen lassen. „Ich habe Pflichten,“ sagte sie, als er zögerte; „wenn ich Dir gehören soll, mußt Du sie mit übernehmen.“

„Ich will ihr ja auch der zärtlichste Vater sein,“ entgegnete er. „Aber warum kann sie nicht froh sein mit den Fröhlichen? Sage ihr –“

„Gute Nacht, Liebster, und komm morgen früh. Ich hoffe, es ist dann Alles gut.“

„Was könnte denn nicht gut sein?“

„Geh’ nur! Du begreifst es doch nicht.“

Sie geleitete ihn durch den Garten, drückte seine Hand und rief ihm noch von der Treppe her ein leises Lebewohl nach.

Elise verbrachte eine sehr unruhige Nacht. Sie hatte wieder und wieder bei Irmgard angeklopft – vergeblich. Die Thür wurde nicht geöffnet. Sie gab es nun auf, ihre Tochter diesen Abend noch zu sprechen, aber sie beschloß wach zu bleiben, wie bei einer Kranken. Immer wieder von Zeit zu Zeit horchte sie an der Thür, das Ohr am Schlüsselloche. Lange noch ließ sich das leise Schluchzen vernehmen. Dann wurde es still innen. Aber gegen Morgen, vielleicht nach kurzem Schlafe, wurde wieder der klagende Laut deutlich hörbar. Die beängstigte Mutter glaubte nun nicht länger zögern zu dürfen. Sie verlangte Einlaß. Als auch darauf keine Antwort erfolgte, drohte sie, die Thür öffnen zu lassen. Nun vernahm sie schleppende Schritte; der Schlüssel wurde umgedreht. Als sie eintrat, wendete sich Irmgard mit einem Schrei ab, warf sich wieder auf das Bett und drückte das Gesicht in die Kissen. Die besorgte Frau ging zu ihr, setzte sich auf die Leiste des Bettgestelles und berührte ihre Schulter leise mit der Hand. „Was ist Dir geschehen, Kind?“ fragte sie.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 41. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_041.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)