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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Aus dem Herzensleben einer geistvollen Frau.

Die Jägerstraße in Berlin hat noch heute inmitten des brausenden, hastigen Treibens der Geschäftsgegenden der großen Stadt einen überwiegend friedlich-heiteren Charakter. Am Ausgang des vorigen Jahrhunderts konnte man sie einsam und vornehm nennen. Eins ihrer behäbig erbauten Häuser wurde damals von der reichen jüdischen Familie Levin bewohnt, und seit Jahren schon war es fast Tag um Tag, an einzelnen Abenden in der Woche besonders, das Ziel meist vornehmer Besucher. Und noch Jahre lang später sollte es in dieser Weise sich ausgezeichnet sehen. Equipagen rollten vor mit männlichen und weiblichen Angehörigen der aristokratischen und diplomatischen Kreise; in den Zimmern der Familienwohnung fanden sich des Abends immer wechselnde Gruppen aus der Welt des geistigen Adels ein. Unzählige Berühmtheiten, die man heute nicht mehr nennt, wie solche, deren Namen die Zeit noch nicht verwischen konnte – ein Humboldt, Schleiermacher, Prinz Louis Ferdinand, Schlegel, Gentz, Varnhagen, Tieck, Fouqué – sind dort ein- und ausgegangen; ausgezeichnete Fremde aus allen Ländern haben sich fort und fort daselbst Stelldichein gegeben. Kein zweites Haus in Berlin war so lange und so ausgesprochen ein Mittelpunkt vornehmer Geister und Menschen, wie dieses.

Und wie oft stiegen die enger Befreundeten aus diesen weitgezogenen Kreisen in die Dachzimmer hinauf, wo in einer dieser „Mansarden“ in aller bürgerlichen Einfachheit Diejenige wohnte, welche einzig und allein die Anziehungskraft des so vielbesuchten Hauses bildete – die Tochter, Fräulein Rahel Levin, immer nur einfach Rahel genannt, und als solche von den Hervorragendsten unter ihren Zeitgenossen gekannt und verehrt.

Die Ursache einer so großen und andauernden, einer so außergewöhnlichen Wirkung dieses Weibes auf Alle, die ihm nahe kamen, lag nicht etwa in einem begehrenswerten Reichthum desselben; denn Rahel hielt mit einem ihr ausgesetzten Jahreseinkommen von nur zwölfhundert Thalern diesen glänzenden Hof, und in dem Hause gab es keinerlei Feste des materiellen Wohllebens. Sie war auch nicht schön, selbst nicht in den Blüthenjahren ihrer Jugend. Sie selber schildert sich einmal allzu abfällig in ihrer Erscheinung: „Ich habe keine Grazie. Das denk’ ich schon sehr lange. … Doch es ist ausgemacht, daß ich eklig bin … ich bin unansehnlicher als häßlich.“ Dennoch, wenn man ihre Büste anschaut, wie sie in ihrem fünfundzwanzigsten Jahre der Meißel Friedrich Tieck’s in marmornen Relief darstellte und wie sie in photographischer Abnahme eine neueste Sammlung ihres Briefwechsels[1] schmückt, so wird man frappirt sein von der classischen Pracht dieses Kopfes mit einem Antlitze, durchleuchtet von Geist.

Nichts als ihr Geist war denn auch der Magnet, der so zauberhaft wirkte und sie zu einer Hohenpriesterin inmitten einer stets sich erneuenden Gesellschaft machte, wo das Schöne und Edle in der Menschennatur seinen weihevollen, fast enthusiastischen Cultus fand. Dies allein machte sie von ihrer Jugend bis zur sechszigjährigen Frau zum „Salz und Quirl“ eines glorreichen Geisterkreises. „Ueberall,“ so suchte ihr späterer Gatte Varnhagen das Geheimniß ihres wunderbaren Einflusses zu enträthseln, „Natur und Geist in frischem Wechselhauche, überall organisches Gebild, zuckende Faser, mitlebender Zusammenhang für die ganze Natur, überall originelle und naive Geistes- und Sinnesäußerungen, großartig durch Unschuld und durch Klugheit, und dabei in Worten wie in Handlungen die rascheste, gewandteste, zutreffendste Gegenwart. Dies Alles war durchwärmt von der reinsten Güte, der schönsten, stets regen und thätigen Menschenliebe, der lebhaftesten Theilnahme für fremdes Wohl und Wehe. Die Vorzüge menschlicher Erscheinung, die mir bisher einzeln begegnet waren, fand ich hier beisammen: Geist und Witz, Tiefsinn und Wahrheitsliebe, Einbildungskunst und Laune, verbunden zu einer Folge von raschen, leisen, graziösen Lebensbewegungen, welche, gleich Goethe’s Werken, ganz dicht an der Sache sich halten, ja diese selber sind, und mit der ganzen Macht ihres tiefsten Gehaltes augenblicklich wirken;, neben allem Großen und Scharfen quoll aber auch immerfort die weibliche Milde und Anmuth hervor, welche besonders den Augen und dem edlen Munde den lieblichsten Ausdruck gab, ohne den starken der gewaltigsten Leidenschaft und des heftigsten Aufwallens zu verhindern.“

Stürmische Leidenschaften in Männerherzen, wie die innigsten verehrungsvollen Neigungen haben sie in jungen Mädchenjahren und lange darüber hinaus umworben; in stürmischen Leidenschaften und in seelenvoller Hingebung hat Rahel darüber ihre reiche Herzenswelt bis in alle geheimsten Tiefen aufgerührt gefühlt. Als Muster wollen wir diese Wechsel gewaltiger Herzensstürme nicht aufstellen. Aber Genialitäten, wie die Rahel’s, bilden eben Ausnahmen, und man darf sie nicht mit dem Maßstab der Durchschnitts–Philisterhaftigkeit messen wollen; in der Vergeistigung ihres ganzen Wesens, wie sie ihr eigenthümlich gewesen, gingen alle Empfindungen Rahel’s über das Maß des Alltäglichen hinaus, in’s Dämonische, in nervöseste Schwingungen, in einen Kampf mit sich selbst und mit der Wirklichkeit der Dinge, in dem sich wie selten die Wahrheit und das Geheimnißvolle einer zu reifster und höchster Entfaltung gekommenen weiblichen Natur offenbart.

Im Jahre 1796 kam in das Levin’sche Haus in der Jägerstraße auch der junge Graf Karl von Finckenstein, der Sohn des damaligen preußischen Staatsministers. Er war vierundzwanzig Jahre alt, ein schöner, junger Mann von gewinnender Liebenswürdigkeit, von Gemüth und Bildung. Hellblonde Haare umlockten sein Antlitz und fielen nach der Pariser Mode jener Tage nach hinten auf die Schultern, nach vorn in die Stirn herab. Mit blauen Augen, fein geformter Nase, einem anmuthigen Kinn, erschien sein Gesicht, bartlos wie es war, fast mädchenhaft anmuthig. Rahel war im fünfundzwanzigsten Jahre und noch hatte sie nicht geliebt. Aus ihrem so reichen, schon vom sechszehnten Lebensjahre her gesammelten und so außerordentlich geständnißreichen Briefwechsel verräth nichts eine ernstere Neigung vor der Bekanntschaft mit Graf Finckenstein. Um so mächtiger erfaßte sie jetzt die Gluth der Leidenschaft zu diesem, der sie durch sein Bewerben aufgerufen hatte. Er erkor sie zu seiner Braut, zum Trotz seiner Familie, die in eine solche ihr unebenbürtig scheinende Verbindung nicht willigen wollte; er huldigte ihr wie dem Ideal seines Lebens, von dem keine Macht der Erde ihn trennen könne, und sie, nachdem das aus dem Schlummer geweckte Verlangen nach Liebe sie mit aller Leidenschaft erfüllte, ging in derselben mit ihren ganzen Wesen auf, Sein oder Nichtsein in der Weihe dieser höchsten Empfindung suchend. Zwei Jahre lang tauschten sie sich die Sehnsucht und die Hoffnung ihrer Herzen aus; die süßesten Geständnisse der Liebe legte Finckenstein derjenigen zu Füßen, die ihm das Höchste im Leben bedeutete; die innersten Falten ihrer Seele enthüllte ihm Rahel unter der Wonne und Qual, die ihr eine Leidenschaft bereitete, deren unglücklichen Ausgang sie schon ahnte. Während dieser Zeit war der junge Graf zu diplomatischem Dienst nach Rastatt auf den Congreß geschickt worden. Er hatte die Briefe Mirabeau’s an Sophie gelesen, und bewundernd schrieb er darüber an Rahel: „Diese Wahrheit, diese Tausendseitigkeit, diese Klarheit, diese Energie der Empfindung fand ich im Leben nur bei Dir, mein geliebter, einziger Engel; auf jeder Seite habe ich an Dich gedacht, alles erinnerte mich an Dich und an das, was Du für mich sagtest und dachtest und empfindest und thatst, was wie mit Feuer in meine Seele geschrieben steht.“ Ihre geistige Ueberlegentheit war ihm längst Ueberzeugung und bildete seinen Stolz. „Wäre ich nicht ein elender, nichtswürdiger Mensch, wenn mir das Glück eines Wesens nicht am Herzen läge, das für mich Alles that, was ein Mensch nur für den andern thun kann?“ „Wer mit Dir gelebt hat, wie ich, kann den Eindruck Deines Wesens nie verlieren, nichts in der Welt kann ihm das ersetzen, was er bei Dir hatte; Du hast meine Bildung vollendet und mußtest sie vollenden; Du hast meinem Wesen Charakter, Gestalt gegeben, indem Du Allem, was noch so todt und unbewegt in ihm lag, Leben und Bewegung gabst und es mit dem Bilde Deines Wesens ausprägtest.“

Ueberschwänglich, wie sie fühlte, rief sie in ihren Briefen nach ihm mit verzehrender Sehnsucht. Aber die Zaghaftigkeit und Leichtfertigkeit seines Wesens marterte und empörte sie doch

  1. „Aus Rahel’s Herzensleben“. Briefe und Tagebuchblätter, herausgegeben von Ludmilla Assing. Leipzig, F. A. Brockhaus. 1877.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 48. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_048.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)