Seite:Die Gartenlaube (1878) 092.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

„Spotten Sie nur! Ich habe doch meine Gründe. Der Mann muß seine Frau zärtlich geliebt haben, da er neben ihr ruhen wollte und einen so stattlichen Grabhügel für sie ausrichtete. Warum sollen wir nicht annehmen, daß sie ihm früh verstorben war, wenn wir schon dichten? Aber ich mache auch noch einen andern Schluß: junge Frauen schmücken sich gern.“

„Ah! die Bernsteinperlen!“

„Sie nicht allein. Ich darf behaupten, daß die junge Dame eine sehr kleine Hand gehabt hat –“ er warf einen Blick seitwärts – „ich glaube, keine größere Hand, als Sie, mein Fräulein.“

Irmgard versteckte unwillkürlich ihre Hand in den Falten des Kleides. „Als ich? Wie kommen Sie darauf?“

Er griff in die Tasche. „Wenn Sie einmal die Probe gestatten wollen.“ Er trat ganz nahe an sie heran, haschte ihre Hand und zog ihr einen Ring auf den Finger, der eine mehrmals gewundene Schlange darstellte, die Windungen bestanden aus glattem Silberdraht, nur Kopf und Schwanz waren figürlich dargestellt. „Sehen Sie – das Ringelchen paßt vortrefflich.“

Das junge Mädchen wurde blutroth im Gesichte. Die Hand zuckte und entzog sich ihm doch nicht. „Ein Ring?“ stammelte der kaum geöffnete Mund. „Und den fanden Sie in der Asche – und den soll ich …“

„Behalten, wie alle die übrigen Sachen,“ ergänzte er, „vielleicht auch zum Andenken an diesen Tag tragen – zum Andenken an die junge schöne Frau, um die gewiß einmal viel Thränen geflossen sind, die sie verdiente, und die geliebt war, wie die beste und glücklichste ihres Geschlechts.“

„Die geliebt war …“ wiederholte Irmgard ganz leise. Sie sah unverwandt auf den Ring an ihrem Finger, und ihre Augen wurden feucht.

„Und wenn Sie nun die kleine Schlange betrachten,“ fuhr er fort, die sich so zierlich um den Finger ringelt, „so gedenken Sie dessen, daß vor vielen, vielen hundert Jahren einmal ein Augenblick war, dem dieser Ring eine frohe Bedeutung gab. Dann werden Sie selbst froh sein und beglücken wollen. Eine bessere Auslegung weiß ich diesem Funde nicht zu geben.“

Sie ging schweigend neben ihm her, bis sie mit den Vorausgeeilten zusammentrafen. Vielleicht um den Ring nicht sehen zu lassen, zog sie einen Handschuh an. Als ihre Mutter den Ring zu Hause bemerkte, sagte Irmgard: „Er wurde auch in der Kapurne gefunden.“

Es war vielleicht nur Täuschung, wenn Robert Harder sich einredete, sie erröthe jedesmal, sobald ihr Blick von ihm ab auf den Ring streifte. Er wiederholte sich dann in Gedanken, ohne es zu wollen, die Worte, die er zu ihr gesprochen hatte, und meinte, sie müsse die gleiche Erinnerung haben.

Rath Pfaff hatte mit dem Quartett einen weiteren Ausflug nach Brüsterort verabredet, Frau von der Wehr, die sich für verpflichtet hielt, den Architekten als ihren Gast möglichst gut zu unterhalten, erklärte sich zur Mitfahrt bereit. Es wurde deshalb noch ein zweiter Wagen bestellt.

Man bestieg den Leuchtthurm, um die weite Aussicht über die Nord- und Westküste des Samlandes und über das Meer recht aus der Höhe zu genießen. Dann wurde den Tauchern auf der See ein Besuch abgestattet, bei dem sich jedoch die ältere Dame nicht betheiligte, die reiche Bernsteinkammer besichtigt, der Taucherapparat genau in Augenschein genommen und spät erst die Rückfahrt angetreten. Man hatte auf den Mond gerechnet, aber der Himmel hatte sich bewölkt, da ein starker Seenebel aufstieg, und die Leuchte war recht trübe.

Der „Musikwagen“, wie ihn der Referendar nannte, fuhr voran. Das Quartett wurde nicht müde zu musiciren. Auf dem zweiten Wagen saß der Rath neben Frau von der Wehr und hinter ihnen Harder neben Irmgard. Man hatte nicht nöthig zu plaudern, da der Gesang das Ohr beschäftigte – wenigstens schienen die jungen Leute durchaus dieser Meinung zu sein. Es lag wohl an der mangelhaften Construction des Strohgefäßes, daß sie einander näher und näher rückten, wie es aber gekommen war, daß ihre Hände sich gefunden hatten und nun festhielten, dafür wußten sie wahrscheinlich selbst den ausreichenden Grund nicht anzugeben. –

Irmgard befand sich in jenem Traumzustande des Glückes, der sich nur des unendlich wonnigen Gefühls bewußt ist, etwas ganz Neues, Wundersames, bis dahin nie Geahntes zu erleben, in eine reichere und lichtere Welt einzutreten, nicht aber das Bedürfniß hat, sich über diese Veränderung aufzuklären oder ihren Bedingungen nachzuforschen. Sie wußte nicht, „wie ihr geschehen“, beunruhigte sich aber auch nicht darüber, daß sie’s nicht wußte. Nie vorher hatte sie so wenig über sich nachgedacht, nie sich so ganz als eine fühlende Seele empfunden. Es war, als ob alle die Thüren des Hauses, in dem sie sich heimisch wußte, nicht nur geschlossen, sondern gänzlich verschwunden wären und die Wände, wie bloße Täuschungen des Auges, überall freien Durchlaß in einen magisch erleuchteten Garten von lauter unbekannten und doch gar nicht befremdenden Bäumen und Blumen gewährten. So träumte sie, bevor sie einschlief, und so träumte sie wieder, als sie erwachte. Sie liebte, aber sie war weit entfernt, sich zu sagen, daß sie liebe. Sie fühlte sich nur sehr glücklich, sehr glücklich, sehr wohl. Als sie sich des Morgens bei einer Näharbeit tief in den Finger stach, merkte sie es erst, als das Blut tropfte: der körperliche Schmerz war ohnmächtig gegen dieses Gefühl des Wohlseins, das den ganzen Menschen erfaßt hatte.

Erst als Robert Harder kam und ihr zum Gruß die Hand reichte – dieselbe Hand, welche heimlich von der ihren Besitz genommen hatte – erhielt dieses Gefühl eine bestimmte Richtung auf die Person. Ein leises Zittern befiel sie. Unwillkürlich gab sie ihm nicht die rechte, sondern die linke Hand, an der sie den Schlangenring trug, und schien dann darüber zu erschrecken, als der gesenkte Blick ihn streifte. Harder war in seiner ganzen Art milder, weicher als sonst, aber nicht befangen; seine Ruhe und Sicherheit gab auch ihrem Wesen die frühere Unbefangenheit zurück. Er sagte ihr, daß er den Zauberwald gefunden habe und sich getraue, sie ohne Umwege dorthin zu führen. Es war in seinen Worten wieder etwas, das über ihre gewöhnliche Bedeutung hinausging, aber sie forschte nicht nach dem geheimen Sinne; es schien sich ihr ganz von selbst zu verstehen, daß Alles, was er zu ihr sprach, einen geheimen Sinn haben müßte.

Auf die Haide zu gehen, dazu war das Wetter nicht einladend. Die Wolken hatten sich völlig seit der Nacht zusammengezogen, und nun hing die graue einförmige Masse schwer über dem sonst so freundlichen Thale. Der Westwind schüttelte von Zeit zu Zeit dichte Regenschauer hinaus zur großen Freude der Landleute, deren sandige Aecker von der Dürre viel zu leiden gehabt hatten. Zum Glück hatte das Zelt eine feste Decke; die Damen konnten auch während des Regens darin verweilen, und Harder leistete ihnen Gesellschaft.

Irmgard brachte ihre Mappe mit Zeichnungen und ihre Skizzenbücher. Harder hatte schon früher den Wunsch ausgesprochen, sie zu sehen; nun gab sie unaufgefordert, was sie damals verweigert hatte. Er bemühte sich zum Dank dafür ein recht milder Kritiker zu sein. Nur zu loben, war freilich zu sehr gegen seine Art.

Wie er nun so langsam Blatt nach Blatt umschlug und zu jedem seine klugen Bemerkungen machte, schien plötzlich seine Aufmerksamkeit in ungewöhnlicher Weise beansprucht zu werden. Er hob den Kopf, setzte sich aufrecht, brachte die Zeichnung in einige Entfernung vom Auge und sah mit einem fragenden Blicke darauf hin. Irmgard, die seitwärts saß, wußte nicht sogleich, um welche Aufnahme es sich handelte, bemerkte aber sein besonderes Interesse. Wie sie sich nun vorbeugte, um über seinen Arm hin das Blatt zu mustern, fuhr sie erschreckt zurück und griff mit der Hand danach, um es ihm zu entziehen.

„Ach! das ist nichts,“ sagte sie eilig, „eine ganz verunglückte Skizze! Ich hätte sie längst vernichten sollen.“

Er ließ das Blatt nicht los. „Die Perspective ist allerdings verfehlt,“ antwortete er, „und auch das Verhältniß von Höhe und Breite nicht richtig getroffen, aber das ist’s nicht, was mir bei dieser Zeichnung auffällt. Der Gegenstand selbst … Wie sind Sie zu diesem Hause gekommen?“

„Ach, fragen Sie nicht!“ bat sie ängstlich. „Es ist eine unglückliche Verknüpfung von Umständen, die – die …“

Ihre Mutter wurde aufmerksam. „Was ist das für ein Haus?“ fragte sie. Nun sah sie auch von ihrer Arbeit auf und zu dem Blatte hin, das Harder ihr zugewendet hatte, obgleich Irmgard es zu hindern suchte. Sie wurde bleich. „Ah, das!“ stieß sie leise hervor. „Ich wußte nicht, daß Du jene Zeichnung …“

Irmgard war aufgesprungen und zu ihr geeilt, umfaßte sie und sagte beruhigend: „Sie sollte Dir nie vor Augen kommen – ich selbst hatte sie vergessen.“

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 92. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_092.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)