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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

seinem Vortrage lauschte, und hatte dabei meine eigenen Gedanken, bis es endlich kalte Küche und weißen Wein gab.“ – „Es war dem alten Herrn sehr verdrießlich, wenn er nicht das Wort führen durfte. Ich erinnere mich, einmal war Einer da, der die Rede an sich riß und zwar auf ganz natürliche Weise, indem er Dinge, die Alle interessirten, hübsch zu erzählen wußte. Humboldt war außer sich. Mürrisch füllte er sich den Teller mit einem Haufen – so hoch – (zeigt es mit der Hand) von Gänseleberpastete, fettem Aal, Hummerschwanz und anderen Unverdaulichkeiten – ein wahrer Berg! – es war erstaunlich, was der alte Mann essen konnte.“ – „Als er nicht mehr konnte, ließ es ihm keine Ruhe mehr, und er machte einen Versuch, sich das Wort zu erobern. ‚Auf dem Gipfel des Popocatepetl,‘ fing er an. Aber es half nichts; der Erzähler ließ sich seinem Thema nicht abwendig machen. ‚Auf dem Gipfel des Popocatepetl, siebentausend Toisen über‘ – wieder drang er nicht durch, der Erzähler sprach gelassen weiter. ‚Auf dem Gipfel des Popocatepetl, siebentausend Toisen über der Meeresfläche‘ – er sprach es mit lauter erregter Stimme, jedoch es gelang ihm auch damit nicht: der Erzähler redete weiter, und die Gesellschaft hörte nur auf ihn. Das war unerhört – Frevel! Wüthend setzte Humboldt sich nieder und versank in Betrachtungen über die Undankbarkeit der Menschheit und bald darauf ging er.“ – „Die Liberalen haben viel aus ihm gemacht, ihn zu ihren Leuten gezählt. Aber er war ein Mensch, dem Fürstengunst unentbehrlich war und der sich nur wohl fühlte, wenn ihn die Sonne des Hofes beschien. Das hinderte nicht, daß er dann mit Varnhagen über den Hof raisonnirte und allerlei schlechte Geschichten von ihm erzählte. Varnhagen hat hernach Bücher daraus gemacht, die ich mir auch gekauft habe. Sie sind erschrecklich theuer, wenn man die paar Zeilen bedenkt, die eines groß gedruckt auf der Seite hat.“ – Keudell meinte, aber für die Geschichte wären sie doch nicht zu entbehren. – „Ja,“ erwiderte der Chef, „im Einzelnen sind sie nicht viel werth, aber als Ganzes sind sie der Ausdruck der Berliner Säure in einer Zeit, wo es nichts gab. Da redete alle Welt mit dieser malitiösen Impotenz.“

Häufig kam der Minister auf Erinnerungen an seine Jugendzeit zurück, die er anmuthig zu erzählen wußte, bisweilen auch auf den einen oder den andern seiner Ahnen, z. B. auf seinen Aeltervater, der, wenn ich recht verstand, bei Czaslau gefallen war. „Die alten Leute bei uns haben ihn,“ so berichtete er, „meinem Vater oft noch beschrieben. Er war ein gewaltiger Jäger vor dem Herrn und ein starker Zecher. Er hat einmal in einem Jahre einhundertvierundfünfzig Rothhirsche geschossen, was ihm der Prinz Friedrich Karl nicht nachthun wird, aber der Herzog von Dessau.“ – „Wie er in Gollnow stand, da aßen die Officiere zusammen; die Küche führte der Oberst. Da war’s Mode, daß bei Tische fünf oder sechs Dragoner aufmarschirten hinter den Stühlen; die schossen zu den Toasten aus ihren Karabinern. Es waren da überhaupt seltsame Sitten. So zum Beispiel hatten sie statt der Latten einen hölzernen Esel mit scharfen Kanten; auf dem mußten die Dragoner, die sich etwas hatten zu Schulden kommen lassen, sitzen – ein paar Stunden oft, eine sehr schmerzhafte Strafe. Und immer am Geburtstage des Obersten und Anderer zogen sie nach der Brücke und warfen den Esel hinein, es kam aber immer ein neuer. Sie hätten wohl hundertmal einen neuen gehabt, sagte die Bürgermeisterin (Name nicht recht verständlich – es klang wie Talmer) meinem Vater.“ – „Dieser Aeltervater – ich habe sein Bild in Berlin – ich sehe ihm wie aus den Augen geschnitten ähnlich, das heißt wie ich jung war; da war’s, wie wenn ich mich im Spiegel sähe.“

Einmal wurde erwähnt, daß man Briefe an Favre mit „Monsieur le Ministre“ anfinge, worauf der Chef äußerte: „Ich werde nächstens an ihn schreiben: Hochwohlgeborener Herr!“ Daraus entspinnt sich eine byzantinische Disputation über Titulaturen und die Anreden: Excellenz, Hochwohlgeboren und Wohlgeboren. Der Chef vertritt dabei entschieden antibyzantinische Ansichten und Absichten. „Man sollte das ganz weglassen,“ sagte er. „In Privatbriefen brauche ich’s auch nicht mehr, und sonst gebe ich das Hochwohlgeboren den Räthen bis zur dritten Classe.“ Abeken als reiner Byzantiner meint, die Diplomaten hätten es schon übel vermerkt, daß man ihnen bisweilen ihre Titulaturen nicht ganz hätte zu Theil werden lassen, und das Hochwohlgeboren gebühre nur den Räthen der zweiten Classe. „Und den Lieutenants,“ ruft Jemand. „Ich will’s aber ganz abschaffen bei unsern Leuten,“ erwidert der Minister, „es wird damit im Jahre ein Meer von Tinte verschrieben, worüber sich die Steuerzahler mit Recht als über eine Verschwendung beklagen können. Mir ist’s ganz recht, wenn man an mich einfach: An den Ministerpräsidenten Graf von Bismarck schreibt. Ich bitte Sie (zu Abeken), mir darüber Vortrag zu erstatten; es ist ein unnützer Schwanz und ich wünsche, daß das wegfällt.“ Abeken Zopfabschneider – eigene Fügung!

Eines Tages kam die Rede auch auf schöne Literatur. Man sprach von Spielhagen’s „Problematischen Naturen“, die der Kanzler gelesen hatte und über die er nicht ungünstig urtheilte, aber doch bemerkte: „Das wird ihm allerdings nicht passiren, daß ich ihn zweimal lese. Man hat dazu überhaupt hier keine Zeit. Sonst aber kommt es doch wohl vor, daß ein vielbeschäftigter Minister so ein Buch zur Hand nimmt und ein paar Stunden daran hängen bleibt, bevor er wieder zu seinen Acten greift.“ Auch „Soll und Haben“ Hofrath Freytag’s wird erwähnt, und man lobt die Darstellung des Polenkrawalls in Krakau, sowie die Ballgeschichte mit den Backfischen, wogegen man seine Helden unschmackhaft zu finden scheint. Abeken, der sich an dem Gespräch lebhaft betheiligt, macht die Bemerkung, er könne doch nichts von dieser Sachen zweimal lesen, und von den bekannten neueren Schriftstellern sei meistens nur ein Buch wirklich gut. „Na,“ sagt der Chef, „von Goethe schenke ich Ihnen auch drei Viertel. Das Uebrige freilich – mit sieben oder acht Bänden etwa von den vierzig, wollte ich wohl eine Zeit lang auf einer wüsten Insel leben.“ Zuletzt wird auch Fritz Reuter’s gedacht. „Ja,“ äußert der Minister, „Ut de Franzosentid’ ist sehr hübsch, aber es ist kein Roman.“ Man nennt die „Stromtid“. „Hm,“ sagt er, „dat is as dat Ledder is. Das ist allerdings ein Roman, Manches gut, Anderes mittelgut, aber so, wie der Bauer geschildert ist, so sind sie wirklich.“

Als wir einmal von Favre sprachen, sagte der Kanzler: „Uebrigens hat der keine Idee, wie es bei uns zugeht. Er ließ mich mehrmals merken, daß Frankreich das Land der Freiheit wäre, während bei uns Despotismus herrsche. Ich hatte ihm z. B. gesagt, wir brauchten Geld, und Paris müßte welches schaffen. Er dagegen meinte, wir könnten ja eine Anleihe machen. Ich erwiderte, das ginge nicht ohne den Reichstag oder den Landtag. Ach, sagte er, fünfhundert Millionen Franken, die könnte man doch auch auftreiben, ohne die Kammer. Ich entgegnete: Nein, nicht fünf Franken. Er wollte es nicht glauben. Aber ich sagte ihm, daß ich vier Jahre lang mit der Volksvertretung im Kriegszustande gelebt hätte, aber eine Anleihe ohne den Landtag aufzunehmen, das wäre immer die Barriere gewesen, bis zu der ich gegangen, und es wäre mir nie eingefallen, die zu überschreiten. Das schien ihn doch in seiner Ansicht etwas irre zu machen. Er sagte nur, in Frankreich würde man sich nicht geniren. Doch kam er immer wieder darauf zurück, daß Frankreich ungeheure Freiheit besäße. Es ist wirklich sehr komisch, einen Franzosen so sprechen zu hören, und besonders Favre, der immer zur Opposition gehört hat. Aber so sind sie. Man kann einem Franzosen fünfundzwanzig aufzählen – wenn man ihm dabei nur eine schöne Rede von der Freiheit und Menschenwürde hält, die darin sich ausdrücke, und die entsprechende Attitude dazu macht, so bildet er sich ein, er werde nicht geprügelt.“

Jemand hatte die Entwickelungsgeschichte der deutschen Frage auf’s Tapet gebracht. Da bemerkte der Minister unter Anderem: „Ich erinnere mich: vor dreißig und mehr Jahren wettete ich in Göttingen einmal mit einem Amerikaner, ob Deutschland in fünfundzwanzig Jahren einig sein würde. Wir wetteten um fünfundzwanzig Flaschen Champagner, die der geben sollte, der gewänne. Wer verlor, sollte über’s Meer kommen. Er hatte für nicht einig gewettet, ich für einig. Darauf besann ich mich 1853 und wollte hinüber. Wie ich mich aber erkundigte, war er todt. Er hatte so einen Namen, der kein langes Leben versprach – Coffin, d. h. Sarg. Das Merkwürdigste dabei ist, daß ich damals schon den Gedanken und die Hoffnung gehabt haben muß, die jetzt mit Gottes Hülfe wahr geworden ist, obwohl ich zu der Zeit mit den Verbindungen, die das wollten, nur im Gefechtszustande verkehrte.“

Anfang Februar war der Kanzler einmal in St. Cloud gewesen. Er erzählte dann: „Wie ich mir die Brandstelle des

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 100. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_100.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)