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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

aber er stand vor einem unglücklichen Paare, an das er nicht hatte denken können, denn in dem Wagen saßen der Rittmeister und seine Schwägerin. Sie waren ein paar arme, unglückliche Menschen.

Als der Rittmeister sich allein auf den Schloßhof begeben, hatten die Bauern nicht den Muth gehabt, auf ihn zu schießen. Da stürmten die Husaren heran, und auf beiden Seiten wurde geschossen. Der Freiherr Ottokar von Waltershausen fiel. Der Kampf wurde ein wüthender, und die Kugeln flogen hin und her.

In den Kampf hinein stürzte aus dem Schlosse eine von Schmerz und Wahnsinn gejagte Frau. Sie hatte sich nicht um die Menschen gekümmert, die im Schlosse sie hatten zurückhalten wollen, nicht um die Kugeln, die sie aus dem Hofe umflogen. Sie warf sich über den Mann, der in seinem Blute am Boden lag, hob ihn auf mit der Riesenkraft der Verzweiflung und trug ihn in’s Schloß. Als sie ihn den Kugeln entrissen hatte, sank sie erschöpft zusammen.

Der Verwundete wurde untersucht. Er hatte eine unaufhaltsam blutende Wunde in der Brust. Da im Schlosse kein Wundarzt war, so wurde schnell ein vorläufiger Verband angelegt.

„Nach Friedenthal!“ rief dann die Schloßherrin, die wieder zu sich gekommen war. „Angespannt! Sofort!“ befahl sie.

Sie hatte den einzigen Ausweg gefunden, der offen stand, und Niemand widersprach ihr. Der Wagen wurde angespannt und der Verwundete in Betten hineingetragen. Die Schloßherrin setzte sich zu ihm, und ein paar alte Diener begleiteten sie.

„Adalbert,“ sagte sie zu ihrem Gatten, der ebenfalls in den Wagen steigen wollte, „Ehre und Muth gestatten Dir nicht, Dein Schloß und Deine Leute in der Gefahr zu verlassen.“

„Ja, Adalbert,“ meinte auch der Baron Kurt, „unser Ehrenplatz ist hier.“

Die beiden Brüder blieben. Durch ein Hinterthor mußte der Wagen das Schloß verlassen, und an den Oekonomiegebäuden entlang seinen Weg nehmen, denn der Kampf zwischen den Bauern und Husaren dauerte fort.

Man erreichte ohne Gefahr durch einsame Waldwege das Landhaus des Doctor Fabricius. Dieser fand den Verwundeten, umfangen von den weichen Armen der schönen Frau, im Zustande völliger Ermattung und Erschlaffung, einem Todten gleich.

„Möchten Sie helfen, möchten Sie retten können!“ sagte Emma von Waltershausen.

„Hoffen wir!“ erwiderte der Arzt.

Der Verwundete wurde in ein Zimmer gebracht und auf ein Bett gelegt. Er schlug die Augen nicht auf.

„Jetzt, gnädige Frau,“ sagte der Arzt, „muß er mir gehören. Darf ich bitten, sich in ein Gemach zu begeben, das meine alte Margarethe für Sie hergerichtet?“

„Muß es sein?“ fragte die Dame.

„Es muß sein, um Ihretwillen und um seinetwillen.“

Sie verließ, von ihrer Kammerfrau begleitet, das Zimmer.

Der Arzt begann die Untersuchung des Verwundeten; sein alter Diener und der der Baronin unterstützten ihn. Die Kugel war in die Brust gedrungen, tief in die rechte Lunge hinein.

„Werde ich leben, Doctor?“ fragte der Rittmeister, jetzt erst die Augen aufschlagend.

„Ihr Leben steht in Gottes Hand,“ antwortete der Doctor, „ich will aufrichtig sein, wie der Arzt gegenüber einem Manne, der den Tod nicht fürchtet, es sein darf. Die Kugel muß aus dem Körper entfernt werden, wenn Sie genesen sollen, und es muß schleunigst geschehen, lieber Baron. Die nächste Viertelstunde entscheidet über Ihr Leben.“

„Ich danke Ihnen,“ sagte Ottokar von Waltershausen. „Darf ich meine Schwägerin sehen?“ fragte er dann.

„Ich führe sie zu Ihnen.“

Der Doctor ging zu der Baronin. Sie las in seinem Gesichte die Nachricht, die er ihr zu bringen hatte.

„Er stirbt; ist er schon todt?“

„Er lebt!“ erwiderte der stets ruhige Arzt.

„Aber muß er sterben? Und ich bin seine Mörderin.“

„Gnädige Frau, er wünscht Sie zu sprechen. Es muß sofort eine Operation vorgenommen werden, um die Kugel aus der Brust zu entfernen. Ich habe wenig Vertrauen, daß sie gelingt. Ich kenne vollkommen Ihre Lage gegenüber Ihrem vortrefflichen Schwager. Machen Sie in den wenigen Minuten, die Sie ihm noch widmen können, sich keinen Vorwurf! Jeder solcher Vorwurf würde für ihn ein Fluch sein, mit dem er vom Leben scheiden müßte. Geben Sie mir als muthige Frau Ihre Hand!“

„Gehen wir!“ sagte sie und reichte ihm die Rechte.

Sie gingen in’s Zimmer des Verwundeten. Beide sprachen kein Wort weiter mit einander. Der Arzt gab den Dienern einen Wink und entfernte sich mit ihnen.

Emma von Waltershausen war mit ihrem Schwager Ottokar allein. Sie war leise eingetreten, und der Arzt hatte ihre Anwesenheit dem Freiherrn nicht mitgetheilt: dieser lag mit geschlossenen Augen auf seinem Lager; er hatte also auch ihr Eintreten nicht wahrgenommen. Aber er hatte ja den Arzt gebeten, sie zu ihm zu führen und konnte durch ihr Erscheinen nicht überrascht werden. Sie setzte sich leise auf einen Stuhl vor dem Bette und regte sich nicht, wartend, bis er die Augen aufschlagen werde; sie durfte seinen Schlummer, und wenn er auch nicht schlummerte, seine Ruhe nicht stören. Ihre Augen waren auf ihn gerichtet, auf die schönen männlichen Züge, die auch in der Nähe des Todes den Ausdruck der Kraft, des Muthes bewahrt hatten.

Der Verwundete schlug die Augen auf, und sein Blick begegnete dem ihrigen. Er wollte ihren Namen aussprechen, aber die Kräfte versagten ihm. Sie legte ihre Hand leicht und weich auf die seinige.

„Ottokar,“ hauchte sie, „mein theurer Ottokar!“

Sie wollte weiter sprechen, allein ein leiser Druck seiner Hand hinderte sie. Sie sah ihn fragend an. Seine Augen baten sie um eine Pause – er schien sprechen zu wollen. Sie möge sich zu ihm neigen, winkte er ihr dann. Sie that es, und er sprach flüsternd zu ihr:

„Emma, ich fühle den Tod herannahen. Er befreiet mich; denn in seiner Nähe darf ich Dir sagen, wie unendlich ich Dich liebe. Dem Sterbenden verzeihst Du auch die unglückliche Stunde des heutigen Tages –“

„Ich trieb Dich in den Tod, Ottokar,“ unterbrach sie ihn, „o, diese unglückliche Stunde! Ich war herzlos –“

Sie wand sich in Schmerz; sie hätte sich auflösen mögen in Thränen. Er aber hatte angesichts des Todes sich die Ruhe des muthigen Mannes bewahrt.

„Nein, meine Emma! Du triebst mich nicht in den Tod. Als ich Dich wiedersah nach so langer Zeit, als es mir zum klaren Bewußtsein wurde, daß ein Leben ohne Dich mir eine Qual sei, da – ich gestehe es – kam der Gedanke über mich, die Qual von mir zu werfen, den Tod zu suchen. Aber Herr wurde der Gedanke nicht über mich. Meiner Ehre und meiner Pflicht, ihnen allein wollte ich folgen; ihnen folgte ich, als die tödtliche Kugel mich traf.“

Sie hatte sich gefaßt.

„Du bist großmüthig,“ sagte sie.

„Ich bin nur aufrichtig, Emma. Und, um es Dir ganz zu beweisen, wiederhole ich meine Bitte. Verzeihe mir jene Stunde! Vertilge sie aus Deinem Gedächtnisse!“

Ruhig, wie er, konnte auch sie nun sprechen.

„Ottokar, ich hatte Dir in dem Augenblicke verziehen, da ich Dir zürnen wollte. Aber für mich hatte ich keine Verzeihung. Ich trug eine schwere Schuld, ich allein – und ich mußte hart, zurückstoßend gegen Dich scheinen, um Dir nicht zu verrathen, wie unendlich mein Herz litt. Jedes Wort hätte Deine Leidenschaft wieder anfachen müssen; ich fühlte meine Schwäche, und ich wollte eine ehrliche Frau bleiben.“

„Habe Dank, Emma!“

Es waren seine letzten Worte. Noch einmal drückte er ihre Hand. Dann griff er krampfhaft nach dem Herzen. Die Stimme versagte ihm; seine Augen waren gebrochen; sein Herz hatte aufgehört zu schlagen.

Die unglückliche Frau umklammerte die theure Leiche und preßte heiße Küsse auf die Lippen, die Augen und die Stirn des Todten. Der Tod gab ihr, was das Leben ihr versagt hatte, sie durfte ihn küssen.

Der Arzt hatte draußen die Bewegung im Zimmer gehört. Er trat ein und sah das Antlitz des Todten.

„Er starb den Tod des Glücklichen!“ sagte er. „Kommen Sie, unglückliche Frau!“ fügte er hinzu und zog sie sanft von dem Todten hinweg. „Ihr Platz darf hier nicht länger sein.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 123. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_123.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)