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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

„Ach, wohl aus dem Briefe,“ fiel Ursula ein, „den ich zurückschicken mußte, weil mein armer Herr ihn doch nicht mehr lesen konnte. Der Postbote sagte, daß Ihr Name darauf angegeben sei, und daß er schon seinen Weg zurückfinden werde. Er wollte draufschreiben, was Sie wissen müßten. Ja, es war ein grausiger Sturm; im Sommer haben wir ihn selten so stark; das Dampfboot ist sogar in Gefahr gewesen.“

„Theilen Sie uns Alles mit, was Sie über den Unfall wissen,“ nahm der Rath das Wort. „Die Dame war die beste Freundin Ihres Herrn.“

„Weiß wohl, weiß wohl,“ knurrte die Alte, „und vielleicht noch etwas mehr. Es war nicht seine Art über solche Dinge zu sprechen, aber ich sah doch damals, was auch blöde Augen sehen mußten, und mehr als einmal hat er mir später aufgetragen, Ihnen das Bild zu schicken, wenn er gestorben sei, und dabei Ihren Namen oft wiederholt, daß ich ihn fest im Gedächtniß behalten sollte. Nun können Sie’s ja gleich selbst in Empfang nehmen. Ich dachte wohl, daß Sie sich melden würden auf den Brief.“

Elise weinte still. Die Alte betrachtete sie wehmüthig und nickte mit dem grauen Kopf dazu. „Ja, ja – es ist den Menschen manchmal nicht bestimmt,“ sagte sie. Sie nahm einen Schlüssel vom Handbrett. „Kommen Sie! Das Zimmer sieht noch so aus, wie es zu Ihrem Empfang hergerichtet wurde. Vielleicht erweisen Sie heut’ dem Hause die Ehre, ein Glas Wein zu trinken.“

Sie ging voran und öffnete die Thür. Widerspruch wäre vergebens gewesen. Da stand wirklich noch der gedeckte Tisch. Auf Tellern und Gläsern lag Staub; die Alte begann ihn mit ihrer Schürze fortzuwischen. Elise trat nicht über die Schwelle. „Lassen Sie uns drüben eintreten!“ bat sie, kaum noch fähig sich aufrecht zu halten.

„Wie die Herrschaften befehlen,“ sagte Ursel, „aber es sieht da recht unordentlich aus, wie er das Zimmer verlassen hat. Ich wollte nichts rühren, damit ich’s vor Gericht mit gutem Gewissen beschwören könnte, wenn sich die Erben melden würden. Nur die Thüren hab’ ich verschlossen.“

Im Atelier stand die verhängte Staffelei vor dem Sopha. Elise setzte sich ganz erschöpft, und die Alte sagte, wieder kopfnickend: „Ganz recht, ganz recht – das war für Sie.“

„Wo ist er begraben?“ fragte Frau von der Wehr nach einer Minute stillen Nachsinnens.

„Wo ist er begraben?“ wiederholte die Alte achselzuckend. „Das ist ja das Traurigste, daß er nicht einmal ein ordentliches Grab hat, wo man für ihn ein Vaterunser sprechen kann. Der See ist sein Grab. Er ist unergründlich tief, und wen er gefaßt hat, den giebt er nicht wieder.“

„Und wie weiß man denn, daß er ertrunken ist?“ mischte sich der Jurist ein.

„Er ist nicht wiedergekommen, Herr.“

„Das ist noch kein Beweis.“

„O doch, Herr – bei dem Unwetter! Ich habe abgerathen, so viel ich konnte. Der Sturm stieß wohl von den Bergen herunter auf das Wasser, daß es an den Ufern fußhoch übertrat; der ganze See war ein Schaum. Und auf der Nußschale von Boot mit zwei schwachen Rudern –! Aber er hörte nicht auf mich; es war immer, als ob es ihn im Sturm am liebsten hinauszog, und oft genug ist’s ja auch geglückt.“

„Hat man ihn auf dem See in Todesgefahr gesehen?“

„Nicht daß ich wüßte, Herr. Wer das Unwetter kommen sah, eilte an’s Land. Er blieb allein auf der Höhe – zu seinem Verderben.“

„Das ist nur Muthmaßung.“

„Aber man hat ja am anderen Tage das Boot auf dem See gefunden. Es war ganz voll Wasser geschlagen – da ist’s doch gewiß.“

Der Rath wagte keinen weiteren Einwand. Es war spät geworden und Weiteres von der Alten nicht zu erfahren. Sie fuhren nach der Stadt zurück. –

Am andern Tage fand sich auch Robert Harder ein. Während der Gerichtsrath die Behörden ermittelte, mit denen nach den Gesetzen des Landes zu verhandeln war, und mit der dem Juristen eigenen Zähigkeit Nachforschungen in allen Ortschaften am See anordnete, um mindestens doch einen Zeugen zu entdecken, führte Harder Frau von der Wehr wieder zur Villa hinauf. Er durfte sich als den Erben betrachten, und nahm daher auch keinen Anstand, im Atelier und Schlafcabinet des Malers aufzuräumen und seine Papiere zu durchsuchen. Es fand sich eine Art von letztwilliger Verfügung in einem offenen Briefe an seinen Neffen. Es war darin gesagt, daß das Staffeleibild Elise von der Wehr gehöre und daß ihm das Medaillonportrait in der Tischschublade unter dem Spiegel in’s Grab mitgegeben werden solle.

Ueber diesem Medaillonportrait flossen wieder reichliche Thränen. Auf der Rückseite war von des Malers Hand jener bekannte Vers aus Uhland’s „der Wirthin Töchterlein“ aufgeschrieben:

„Dich liebt’ ich immer, Dich lieb’ ich noch heut’,
Und werde Dich lieben in Ewigkeit.“

Es befand sich darunter das Datum seines Todestages: er hatte das ihm so theure Bild vor seinem letzten Gange betrachtet und, von der Ahnung seines nahen Endes ergriffen, diesen Abschied genommen.

Auch Irmgards Visitenkärtchen war aufbewahrt worden.

„Versenken wir das Bild in den See!“ entschied Elise. „Es war sein letzter Wille, daß es ihm ins Grab mitgegeben werden sollte. Der See, auf dem wir die glücklichste Stunde unseres Lebens genossen, ist sein Grab geworden. Diese Aufschrift bezeugt, daß er mich seitdem betrauert hat wie eine todte Geliebte.“

Gegen Abend, aber früher als er erwartet wurde, kam der Enkel der alten Ursula von den Bergen herunter, wo er mit dem Sohn eines der Gebirgsbauern dessen Vieh gehütet hatte. Er war gelaufen und noch ganz außer Athem, erzählte auch seiner Großmutter eine lange Geschichte, die von ihr mit Spannung angehört wurde, von der aber die Fremden wegen des schweizer Dialekts kein Wort verstanden. Die Alte schien beunruhigt, forschte ihn näher aus, schüttelte bedenklich den Kopf und überlegte, was zu thun sei. Endlich wendete sie sich doch an die Dame und ihren Begleiter. „Ich glaube nicht daran,“ sagte sie; „es ist gewiß wieder ein unnützes Gerede, aber wissen sollen es die Herrschaften doch.“

„Um was handelt es sich?“ fragte Robert.

„Ich bin eine alte Frau,“ fuhr Ursel fort, „und habe immer hier am See gewohnt. Da ist’s in manchem Jahr passirt, daß ein Boot umgeschlagen und der Fährmann verschwunden ist, weil der See die Ertrunkenen nicht zurückgiebt. Da hat’s denn jedesmal hinterher geheißen, man hat ihn da oder dort gesehen; das hat sich herumgesprochen, und wenn man ordentlich nachgeforscht hat, ist’s nichts gewesen.“

Frau von der Wehr wurde aufmerksam. „Und auch diesmal spricht man …? Sagen Sie uns Alles!“

„Mein Enkel hütet bei einem Bauer, den Herr Werner oft besucht hat, um dort zu zeichnen, und sein Sohn hat ihm persönlich den Malkasten und Schirm getragen. Die Knaben sind zusammen auf der Weide gewesen; dabei ist der Bauer zurückgekommen und hat ihnen allerlei erzählt. Er hat nämlich einen fremden Herrn über den Singriswyler Grat und den Beatenberg geführt. Kurz vor Neuhaus hat er ihn verabschiedet und den bequemeren Weg am Seeufer entlang für die Rücktour eingeschlagen, vorher aber in einem Wirthshause Station gemacht, in dem die Fischer und Schiffer viel verkehren. Da ist von dem Schaden gesprochen worden, den der letzte Sturm angerichtet, und so hat auch einer gesagt, nicht weit von dort liege ein Todtkranker, den sie aus dem See aufgefischt hätten, sie wüßten aber nicht, wer er wäre, denn er könne kein Wort hervorbringen. Indem sei einer auch von Neuhaus gekommen, den das Dampfboot von Thun dahin brachte; der habe gesagt, daß er sich überall nach einem verunglückten Maler erkundigen solle, und nun hätten sie sich’s gleich zusammengereimt, daß das wohl der Kranke sein könne. Der Bauer ist nun nach Hause geeilt und hat meinem Enkel aufgetragen, mir’s mitzutheilen. Es ist aber sicher nur unnützes Gerede: wen der See hat, den giebt er nicht heraus.“

So ruhig die Alte dies vortrug, Frau von der Wehr wurde doch dadurch in fieberhafte Aufregung versetzt. „Tausendmal mag ein solches Gerücht lügen,“ sagte sie mit bebender Stimme, „einmal kann’s doch guten Grund haben. Unmöglich ist eine solche Rettung nicht, und warum sollte nicht Werner …“ Der Ton versagte ihr, sie brach in ein krampfhaftes Schluchzen aus.

Robert Harder erbot sich sogleich, mit dem Enkel der alten

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 129. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_129.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)