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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Frau den Bauer herbeizuholen, damit man ihn näher ausforschen könne. Nach zwei Stunden kamen sie in seiner Begleitung zurück. Er wußte freilich nicht viel mehr, als was er schon dem Knaben mitgeteilt hatte, erklärte sich aber bereit, die Herrschaften zu dem Wirthshause zu bringen und ihnen bei weiteren Nachforschungen zu helfen. „Ich hätte schon selbst den Kranken aufgesucht,“ schloß er, „aber es hieß, daß sie Niemand zu ihm einlassen wollten.“

Man begab sich nun sofort nach Thun hinab. Der Gerichtsrath hatte auch schon von seinem Boten aus Neuhaus einen Zettel mit der vorläufigen Nachricht erhalten und schickte ihnen entgegen. Leider ging ein Dampfboot nicht mehr ab; man mußte sich entschließen, zu Wagen um den See zu fahren. Die Herren baten Frau von der Wehr zurückzubleiben und abzuwarten, bis sich Sicheres ergebe; sie war nicht dazu zu vermögen.

„Wenn er’s wäre,“ sagte sie, „und ich hätte ihn noch lebend antreffen können …! Nein, nein! Ich muß zu ihm.“

Es war Nacht geworden, als man in Neuhaus anlangte. Dennoch wurde der Weg ohne Rast fortgesetzt, das Wirthshaus am See und nach den dortigen Weisungen das Fischerhaus aufgesucht, in dem eine halbe Stunde weiter der Kranke liegen sollte. Sie begegneten einem Geistlichen und fragten ihn aus. Er bestätigte die Nachricht und fügte hinzu, die Leute hätten ihn geholt, um dem Sterbenden den letzten Trost zu spenden; er scheine aber schon das Bewußtsein verloren zu haben.

„An den Arzt hat das Volk wahrscheinlich wieder zuletzt gedacht,“ murrte der Rath.

Sie beeilten sich. Hinter den Fenstern des kleinen Hauses war nur matter Lichtschein zu bemerken. Von einigen Männer- und Frauenstimmen wurde ein geistliches Lied gesungen – vielleicht die Todtenklage. Von Angst getrieben, eilte Elise, Allen voran, in’s Zimmer.

Der Gesang verstummte plötzlich. Die Leute, die in der Nähe der Gardinenbettstelle knieten, erhoben sich und schauten verwundert auf die Dame, die sofort den Leuchter vom Tische nahm und mit hastigen Schritten auf das Bett zueilte.

„Max!“ schrie sie auf und sank neben demselben nieder.

Es war nicht ein Todter, der durch diesen Schrei erweckt zu werden brauchte. Werner athmete noch, aber freilich unruhig und ungleichmäßig wie ein Sterbender. Nun schien der Laut einer lieben Stimme sein inneres Ohr zu erreichen; er schreckte zusammen und öffnete die schweren Augenlider. Robert hatte das Licht schnell aus Elisens Hand genommen und leuchtete vom Fußende her. Sie richtete sich mit aller Anstrengung am Stollen auf und beugte sich über den Kranken. Er erkannte sie; über das marmorbleiche Gesicht verbreitete sich ein freundliches Lächeln. Die Lippen bewegten sich zitternd – Elise glaubte ihren Namen zu verstehen. Dann schien er wieder in Schlaf zu versinken. – –

Frau von der Wehr wachte die ganze Nacht am Krankenlager. Sie hielt die Hand des geliebten unglücklichen Mannes und blickte ihn unverwandt an, stille Gebete sprechend, für die das Herz unaufhörlich neue und innige Worte fand. Das Athmen des Kranken wurde von Stunde zu Stunde leichter und sanfter, der röchelnde Ton setzte öfter aus. Ging es zum Ende?

Harder war nach Neuhaus zurückgekehrt und von da nach Interlaken gegangen, um mit dem Frühesten Aerzte herbeizuschaffen. Der Gerichtsrath hatte sofort als guter Praktiker eingegriffen, die Fischerleute vermocht, das Zimmer zu räumen, und es gegen gute Belohnung der Dame zu überlassen, bis sich’s wegen des ihr sehr theuren Kranken entschieden habe. Man erzählte ihm nun auch, wie die Rettung gelungen sei. Der Fischer hätte sich an jenem Sturmtage auf dem See befunden und anfangs gemeint, das Unwetter vorüberziehen lassen zu können. Bei steigender Gefahr hätte er aber das Segel aufgesetzt und irgendwo mit günstigem Winde das Ufer zu erreichen gesucht. Da sei sein Boot gegen etwas Hartes angestoßen und wegen des Widerstandes beinahe umgeschlagen. Nun habe er seinem Buben das Steuer überlassen und, unter dem Segel durchkriechend, nachgeschaut. Ein kleines Boot, mehr als zur Hälfte mit Wasser gefüllt, sei von den Wellen auf- und abgetrieben worden. Es habe darin ein Mann gesessen, ohne Hut, die Arme übereinander geschlagen, lachend wie ein Toller. Indem sei sein Kahn mit dem Vordersteven wieder gegen die Langseite des kleinen Fahrzeugs gestoßen worden, dasselbe habe einen argen Ruck erhalten, vollends Wasser geschöpft und den Mann ausgeworfen. Doch sei zum Glücke sein Rock mit der Tasche an dem eisernen Ruderhaken hängen geblieben, sodaß er nicht gleich versinken konnte. Trotz der Gefahr für ihn selbst habe der Fischer über Bord gegriffen, den Rand des Bootes erfaßt und dasselbe zu wenden gesucht, bis er den Menschen packen und hinaufziehen konnte. Darüber sei allerdings einige Zeit vergangen, sodaß er viel Wasser geschluckt. Mit Mühe und Noth habe man das Land erreicht und dann den Ertrunkenen in’s Haus geschafft. Der sei zwar wieder zu sich gekommen, habe aber verboten, eine Anzeige zu machen und bald kein Wort mehr sprechen können oder wollen. Sie hätten noch immer gewartet, daß er sich bessern möchte, aber von Tag zu Tag sei’s schlechter geworden, und nun werde er wohl den Morgen nicht mehr erleben.

Die Aerzte konnten wenig Hoffnung geben, trafen aber die sorgfältigsten Anordnungen. Da der Kranke nicht transportirt werden konnte, quartierte Elise sich ganz in dem Hause ein. Der Fischer holte mit seinem Kahne herbei, was für einen längeren Aufenthalt notwendig war. Kaum konnte sie vermocht werden, einige Stunden zu schlafen, um ihre Kräfte nicht gänzlich zu erschöpfen. Dann saß sie wieder am Bette des Kranken, streichelte seine Wange, hielt seine Hand und beobachtete seine Athemzüge. Gegen Mittag erwachte er. Wie er die Augen aufschlug, fiel sein Blick auf Elise. Er schien anfangs erstaunt über ihre Nähe; dann war’s, als ob eine Erinnerung in ihm aufdämmerte, und er lächelte wieder selig. Mit leisem Drucke der Finger prüfte er, ob er etwas Greifbares halte. Er winkte nach einer Weile mit den Augen; sie beugte sich über ihn, und er flüsterte leise, aber vernehmlich: „in Ewigkeit.“ Sie konnte die Thränen nicht zurückhalten. Thränen der Freude und des Schmerzes, senkte das Gesicht noch tiefer und küßte seine Stirn.

Das that ihm wohl. Er athmete kräftiger und wendete den Kopf zur Seite, um sie besser sehen zu können. Nach einigen Minuten fühlte sie ein Ziehen seiner Hand. Sie näherte wieder das Ohr seinem Munde. „Irmgard –“ sagte er kaum vernehmlich.

„Sie ist nicht hier,“ antwortete Elise, „aber sorge nicht ihretwegen! Sie ist ganz versöhnt und würde Dich jetzt mit aller Herzlichkeit begrüßen. Wie glücklich wird sie sein, wenn sie von diesem Wiedersehen erfährt, auf das sie nicht hoffen konnte! Sie hatte Dir geschrieben, aber der Brief kam zurück. Und daß Du ganz ruhig sein kannst, sollst Du gleich erfahren: sie ist Robert’s Braut. Aber nun sprich kein Wort mehr! Ich bin Dein Arzt und darf’s nicht leiden.“

Er schien nur langsam den ganzen freudigen Inhalt ihrer Worte fassen zu können. Dann verklärte sich sein Gesicht mehr und mehr; seine Augen ließen nicht von den ihrigen, bis er zuletzt sich doch wieder dem Schlafe ergeben mußte, aber seine Gesichtszüge waren nun sanft und auf den eingefallenen Wangen zeigte sich eine leise Röthe.

Einige Tage vergingen zwischen Furcht und Hoffnung. Die Aerzte wechselten einander ab; es geschah, was geschehen konnte. Der Zustand von Schlaftrunkenheit wich, aber nun zeigte sich oft Beängstigung und fieberhafte Unruhe. Das Bewußtsein nahm eher zu als ab. Er war meist bei klarer Besinnung und schien nun den Tod zu fürchten, der ja ein Scheiden von der geliebten Frau bedeutete.

Der Gerichtsrath hatte sofort an Irmgard geschrieben und Robert ein Briefchen eingelegt. Nun kam umgehend die Antwort zurück: „Gott wolle ihm das Leben schenken und die Liebenden vereinen! Ich habe keinen Wunsch über diesen.“ Der alte Herr, so schwer ihm zu Muthe war, mußte doch dazu lächeln. „Keinen Wunsch über diesen? Freilich – wenn er sich erfüllt, findet sich das Andere von selbst.“

Ob Werner’s Leben zu erhalten sein würde, stand allerdings ganz in Gottes Hand, aber „die Liebenden zu vereinen …“ dazu bedurfte es nur eines raschen Entschlusses, und es war vielleicht gut, wenn er gefaßt wurde. Nach reiflicher Ueberlegung nahm der Rath mit der Erklärung, daß er ihr etwas Wichtiges zu sagen habe, Elisens Arm und führte sie in’s Freie hinaus. „Wir wissen nicht,“ sagte er, „ob wir lange Zeit zum Abwarten haben; so fest wir an der Hoffnung halten wollen, müssen wir doch auf den schlimmsten Ausgang gefaßt sein. War es nun Ihre Absicht, beste Cousine, Werner Ihre Hand zu

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 130. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_130.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)