Seite:Die Gartenlaube (1878) 164.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)


Hier hatte nun vorläufig die Herrlichkeit ein Ende; das schüchterne Mädchen mit dem einfachen Kattunkleidchen und ohne jedes Verständniß für die außerberuflichen Hülfsmittel einer Künstlerin ward kaum beachtet. Der Scharfblick Emil Pohl’s entdeckte sie. In seinem Lebensbilde: „Auf eigenen Füßen“, einem der gelungensten Versuche dieser Art, betraute er sie mit dem „Lieschen Spröde“. Und so stand sie denn auch auf dem neuen schlüpfrigen Boden endlich auf ihren eigenen Füßen und überwand die Sprödigkeit des Publicums schon am ersten Abende; über ein Jahr währte ununterbrochen die Wallfahrt zu dem neuen Stern. Noch war es keine Sonne, denn nicht das Woltersdorff-, das Wallner-Theater ist Berlin und der ehrgeizige Wandelstern fühlte das Bedürfniß, dort sich zu fixiren. Aber die Wege auch des Kunstgottes sind wunderbar - die Uebersiedelung von der Chaussee- in die Blumenstraße, eine einfache Droschkentour, war nur über Hamburg auszuführen. Wer Meister werden will, muß in die Fremde gehen; es steckt eben noch mehr Zunftzwang im Volke, als die Gewerbefreiheitler sich vorstellen. Am Thalia-Theater, der unvergleichlichen Bühnen-Erziehungsanstalt des Franzosen Maurice, dem die deutsche Kunst so viele ihrer Besten verdankt, erhielt auch „die kleine Wegner“ den letzten Schliff, und schon nach anderthalb Jahren, als die Begeisterung der Hamburger und die Sehnsucht der Berliner sich eben zu überbieten begannen, hielt sie ihren Einzug in der Hauptstadt des neugeeinigten deutschen Reiches und bestieg ihren Thron, gegen den niemals ein particularistisches Gelüste sich zu erheben wagt. Sie beherrscht Berlin; sie ist ein Dogma der Berliner.

Und dabei ist sie nicht einmal eine specifisch Berliner Soubrette, sondern ebenso gut ein „lieber Fratz“ wie eine „nette Jöhre“; das hat ihr glänzendes Gastspiel in Wien erwiesen. Bisher galt es für eine unbestreitbare, weil hüben und drüben so häufig bestätigte Thatsache, daß zwischen der Komik des Nordens und Südens die Mainlinie unüberwindlich. Der Wegner gelang es, sie zu überbrücken. Nicht allein das Publicum, nein auch die in diesem Punkte starr-, fast abergläubige Wiener Kritik haben sich widerstandslos ihr gefangen gegeben, und nicht nur mit den spitzen Tönen des preußischen Militärjargons, nein auch mit den weichen Lauten heimischer Gemächlichkeit sich fesseln lassen. Sie hatte die Wahl zwischen zwei Kaiserstädten, und sie ist ihr nicht leicht geworden, vielleicht ebenso schwer wie uns Allen die Trennung von Oesterreich, dem deutscher Geist und deutsche Kunst uns ewig verbinden werden.

Und daß Ernestine Wegner eine wirkliche Künstlerin, hat auch das feinfühlige, warmblütige Wien sofort erkannt und gewürdigt. Ihr sprudelnder Humor, ihre liebenswürdige, kecke Unbefangenheit, ihre übermütige Laune machen sie zu einer der vorzüglichsten, unwiderstehlichsten Soubretten, aber sie ist unendlich mehr, als ein weiblicher Clown oder ein Hanswurst im Unterrocke. Sie hat Natur und Herz und jenes seine Gefühl, das man den künstlerischen Verstand nennen möchte; ihre jedes Hindernisses spottende Gestaltungsfähigkeit bleibt immer auf jenem Gebiete, das von den Linien der Wahrheit und der Schönheit begrenzt wird. Und zu dem allem jenes geheimnißvolle Etwas, jener bestrickende Zauber, all die unsichtbaren Fäden der Leitung zwischen Darsteller und Zuschauer, die allein die zündende Wirkung vermittelt. Ihre reizende Stimme, ihre vorzügliche musikalische Anlage haben Herrn von Hülsen zu dem ganz ernsthaften Versuche veranlaßt, sie für die Oper zu gewinnen; von den verschiedensten Seiten ward sie bestürmt, sich dem Lustspiele zu widmen.

Als ob man nicht überall eine ganze Künstlerin, und als ob man überhaupt mehr sein könnte! Auch auf dem Theater vollzieht sich die allgemeine Umwälzung. Die so lange aufrecht erhaltenen Zwangsgrenzen der Gattung und des Faches werden erweitert und beseitigt; die daran geknüpften Rangunterschiede im Freistaat der Kunst verschwinden; in jeder Form sollen nur die Kunst und der Künstler zu Geltung und Ansehen kommen. Und unter den Vorkämpfern der neuen Richtung nimmt Ernestine Wegner einen hervorragenden und berufenen Platz ein, die Jedem, der sie blos als Soubrette anerkennen möchte, stolz entgegenrufen darf: „auch ich bin eine Künstlerin.“




Die Glaubwürdigkeit der Wunderheilungen in Lourdes und Marpingen.
Von J. Frohschammer.

Aus dem französischen Lourdes wie aus dem deutschen Marpingen wird noch immer die Mär von wunderbaren Heilungen, die daselbst geschehen sollen, in allen Blättern der päpstlichen Kirche eifrig verbreitet, um die Gläubigen theils anzulocken, theils in ihrem Glauben zu bestärken, der ungläubigen Wissenschaft und dem bösen Liberalismus aber Trotz zu bieten und wider ihre Angriffe und ihren Unglauben die wunderbare Offenbarung der „Mutter Gottes“ zu behaupten. Die Ultramontanen verfahren von ihrem Standpunkte aus richtig, indem sie dieses thun. Denn die sogenannten Wunderheilungen sind es einzig und allein, durch welche sie versuchen können, wenigstens indirect dem Volke Beweise beizubringen für die wirkliche Erscheinung der „Mutter Gottes“ und deren Wirksamkeit an den betreffenden Stätten. Die directen Zeugnisse dagegen bestehen nur in Angaben von Kindern über eine Erscheinung, die Niemand controliren konnte, da die übrigen Anwesenden nur die krankhaft erregten Visionärinnen sahen, nicht die Erscheinung selbst, und somit bezüglich derselben lediglich auf kindisches Behaupten angewiesen waren. Läßt sich also zeigen, auch den sogenannten wunderbaren Heilungen wohne in keiner Weise die Beweiskraft inne, daß sie wirklich und nothwendig von einer übernatürlichen Macht stammen, kann vielmehr erwiesen werden, daß sie ganz wohl von natürlichen, wenn auch ungewöhnliche Ursachen veranlaßt sein können - dann ist auch der Beweis geliefert, daß die vermeintliche Erscheinung der „Mutter Gottes“ ein Trug- oder Wahngebilde sei und daß das Volk durch eine falsche Vorspiegelung beschwindelt werde.

Schwindel ist ein Unternehmen, das, als auf fester, sicherer Grundlage beruhend, dem Volke angepriesen wird, um es zur Theilnahme anzulocken, während jene versicherte Festigkeit doch nur Schein und Trug ist. Läßt sich nun darthun, daß die Behauptung einer Erscheinung der „Mutter Gottes“ keinerlei sichere Begründung hat, wie keine directe, so auch keine indirecte, dann ist auch gezeigt, daß das ganze Thun und Treiben an diesen sogenannten Wunder-Orten der soliden Grundlage entbehrt, und mit Fug und Recht nach allen Beziehungen, sowohl was die Ursache wie was die Wirkungen (die Heilungen) betrifft, als Schwindel bezeichnet werden kann. Doch soll damit nicht gesagt sein, was sich mit voller Bestimmtheit noch nicht beweisen läßt, daß nämlich der Schwindel mit vollem Bewußtsein und mit klarer Absicht eingeleitet sei und fortgesetzt werde, da die Acteurs vielleicht selbst in dem Wahne befangen sind, den sie Anderen beizubringen suchen. Gewiß bleibt nur, daß die Heilungen als der sicherste Beweis der Anwesenheit der „Mutter Gottes“ und ihrer wunderthätigen Kraft angenommen wurden und die (in Lourdes) erfolgte kirchliche Approbation sich im Grunde ebenfalls auf nichts Anderes stützen konnte. Alles kommt also darauf an, ob wirklich wunderbare Heilungen stattfanden und ob Zeugnisse dafür, daß solche stattgefunden haben, genügen, um die Uebernatürlichkeit und Göttlichkeit solcher Geschehnisse zu beweisen.[1]

Wenn man auch nicht selber Augenzeuge war, kann man doch vollständig gelten lassen und braucht nicht zu bestreiten, daß in

  1. Da die „Gartenlaube“ in den Nummern 36, Jahrg. 1876 und 40 des letzten Jahrgangs bereits ausführlichere Berichte über die Vorgänge in Lourdes und Marpingen mitgetheilt hat, glauben wir die Kenntniß des rein Thatsächlichen bei unsern Lesern voraussetzen zu dürfen. Eine solche Kenntnis aber reicht noch nicht aus zur Gewinnung eines vollen Urtheils über diese für unsere Zeit so beschämend traurigen und doch mit so unverschämtem Geräusche in’s Werk gesetzten Erscheinungen. Zur besonderen Freude gereicht es uns daher, das, Herr Professor Frohschammer in München auf unser an ihn gerichtetes Ersuchen die obigen kritischen Beleuchtungen den Leserkreisen unseres Blattes, darbietet. Es spricht also hier über die Sache eine namentlich auf diesem Gebiete anerkannt bewährte Autorität, ein durch Wissen, Geist und Scharfsinn ausgezeichneter Gelehrter und Schriftsteller, der als katholischer Priester schon mehr als ein Jahrzehnt vor dem vaticanischen Concil und vor der Entstehung des Altkatholicismus in vereinsamter Stellung entschieden den Kampf des deutschen Gedankens und der freien Wissenschaft wider Rom aufgenommen und trotz aller Verfolgungen bis zum heutigen Tage mit unentwegtem Mannesmuthe und immer frischer Geisteskraft geführt hat.
    D. Red.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 164. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_164.jpg&oldid=- (Version vom 12.5.2019)