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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Glaubens auch wirklich fast überall mehr oder minder so gegen einander gedacht und gehandelt haben. Es hat schweres Ringen gekostet, diesen Standpunkt der Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit zu überwinden, und er wird doch wohl überwunden bleiben trotz des Kampfes, den die Orthodoxen und Wundergläubigen aller Orten gegen den Sieg der Humanität unterhalten.

Fehlt so den wirklichen oder scheinbaren Heilungen, die an den fraglichen Wunderorten geschehen, alle Beweiskraft, daß daselbst wirklich eine höhere übernatürliche Macht thätig sei, so fehlt auch den Aussagen der Kinder über eine Erscheinung der „Mutter Gottes“ alle Gewähr und Glaubwürdigkeit. Es sind dieselben daher nur als Producte kindischer Einbildung und krankhafter Erregung zu betrachten, auf die man selbst in gewöhnlichen menschlichen Verhältnissen nicht das Mindeste bauen möchte, geschweige denn, daß ihnen in den höchsten und ernstesten Angelegenheiten menschlichen Daseins irgend ein Gewicht beigelegt werden könnte. Wie die vermeintlichen Wunderheilungen sich zur Genüge aus erregter Phantasie, gespannter Erwartung und hingebendem Vertrauen erklären lassen, so auch und noch mehr sind jene Erscheinungen, Visionen oder Hallucinationen aus krankhaften körperlichen Zuständen und aus regelwidriger Thätigkeit der Einbildungskraft zu erklären.

Die Erscheinungen sind nicht wirkliche, gegenständliche Dinge oder Personen, sondern Gebilde der eigenen Phantasie, die so ungemein lebhaft sind, daß sie auf die Sinne wirken und von diesen wahrgenommen werden, als wären sie äußerlich dastehende oder sich bewegende Erscheinungen. Daß die sogenannten Erscheinungen der „Mutter Gottes“ in Lourdes wie in Marpingen nur Product der krankhaft erregten Einbildungskraft der Mädchen selber waren, geht aus vielen Umständen hervor. In Lourdes erscheint die Mutter Gottes als „Unbefleckte Empfängniß“, denn damals war diese eben zum Dogma erklärt worden, und man war durch Unterricht in den Schulen und Predigt in den Kirchen eifrig bemüht, das neuverkündete Dogma einzuführen. Die Kinder wurden beständig damit beschäftigt, deren Phantasie davon angefüllt, sodaß, wo Anlage vorhanden war, das Bild vielfach im Traume erschien und, wo die Krankhaftigkeit stärker wurde, in ähnlicher Weise auch im Wachen erscheinen konnte, oder in einem abnormen oder „verklärten“ Zustande, der vom Traum sich nicht viel unterscheidet. Besonders auf die Gestalt und namentlich auf die Toilette der Erscheinung muß geachtet werden. Es gleicht dieselbe dem damals nach dem Traume einer französischen Nonne verfertigten und allgemein verbreiteten Bilde der „Unbefleckten Empfängniß“.

Die kleine Bernadette Soubirous in Lourdes war also ganz wohl auf die Erscheinung vorbereitet, als sie dieselbe gesehen haben wollte, und diese mußte dem verbreiteten Bilde und überhaupt einer vornehmen französischen frommen Dame gleichen, mit allen Attributen einer solchen, mit Rosenkranz, schönen Kleidern, andächtiger Gebährde etc. ausgestattet sein und außerdem „Unbefleckte Empfängniß“ heißen. Es scheint fast, als ob Bernadette sich noch besonders auf die Erscheinung vorbereitet hätte, denn obwohl sie damals nur zum Holzsuchen ausging, hatte sie doch den Rosenkranz bei sich und blieb angesichts des Felsens hinter ihren Gefährtinnen zurück. Wir wollen indeß hier ihr selbst keinen Betrug zur Last legen sondern nur unabsichtliche Täuschung. Thatsache aber ist, daß sich sogleich Leute fanden, welche die Sache in die Hand nahmen, ausbildeten und keinen Widerspruch mehr aufkommen ließen.

Auch in Marpingen wollen wir den Beginn nicht einem eigentlichen geplanten Betrug zuschreiben, obwohl besonders hier Manches auf einen solchen hindeutet, z. B. daß die erste Erscheinung gerade an jenem 3. Juli stattfand, wo in Lourdes die priesterliche Gründung durch eine großartige Festfeier abgeschlossen wurde. Sehr auffallend ist ferner die Abwesenheit des Pfarrers zu dieser Zeit, das späte Verweilen der achtjährigen Mädchen im Freien und fern vom Hause, sowie auch der Umstand, daß sich ganz in der Nähe bereits eine alte Capelle nebst einer Quelle befand. Indeß davon abgesehen – jedenfalls indirect war die Wundererscheinung reichlich vorbereitet. Schon die Gegend in der Nähe des bekannten Echternach disponirt zu Marien-Erscheinungen, die daselbst im Traume bei vielen Leuten vorkommen sollen; dann die starke Pflege des Marien-Cultus von Seite des Pfarrers, die Erzählungen und Wundergeschichten aus Lourdes etc. Daß es der Mädchen eigene Phantasie war oder eines derselben, welches das Wort zu führen pflegt, zeigt sich sehr deutlich an einer Verbesserung in der Antwort der erscheinenden „Mutter Gottes“. Sie sagt nicht mehr wie in Lourdes: „Ich bin die ‚Unbefleckte Empfängniß‘“, sondern: „Ich bin die unbefleckt Empfangene“. Dies kommt vom besseren Schulunterricht der Mädchen. Ohne Zweifel ist ihnen bemerkt worden, daß man die heilige Jungfrau nicht die „Unbefleckte Empfängniß“ nennen dürfte, daß man (ein wenig correcter, wenngleich noch incorrect) sagen müsse: „die unbefleckt Empfangene“. Dies macht sich also auch in der Vision oder Hallucination der Mädchen geltend, da ja eben auch die Antwort auf ihre Frage nur von ihnen selbst kam – in ähnlicher Weise wie im Traume der Träumende Fragender und Antwortender zugleich ist, ja sich noch mehr spalten kann, z. B. in zwei oder mehrere Schüler, und er allenfalls als der Eine oder er selbst (Ich) die gestellte Frage nicht zu beantworten vermag, die er als Anderer beantworten kann. Daß die Phantasie der Kinder selbst das ganze Spiel der Erscheinungen hervorbrachte, zeigt dann insbesondere die Erweiterung der Erscheinungen, in Folge deren endlich das ganze Repertoire der biblischen Scenen, welche die Kinder aus Schule und Kirche inne hatten, sich abspielte und zuletzt auch der Teufel nicht ausblieb. Daß bald noch andere Personen die Erscheinung sahen oder zu sehen glaubten, wird man leicht erklärlich finden, wenn man die Macht der Ansteckung in Betracht zieht, welche solchen krankhaften Zuständen innewohnt.

Bei den religiösen Erweckungsversammlungen (Revivals) in Nordamerika wurden Manche, die nur als Zuschauer dabei sein wollten, von der Tanzwuth der hier Tobenden ergriffen und mitgerissen. In einem französischen Kloster fing eine Nonne wie eine Katze zu miauen an und bald folgten alle anderen nach und miauten jeden Tag ganze Stunden lang. Das Miauen hörte nicht eher auf, als bis man eine Compagnie Soldaten schickte, mit der Drohung, jede zu peitschen die wieder miauen würde. In einem anderen Kloster soll nach Cardanus’ Bericht eine Nonne die anderen mit der Lust zu beißen angesteckt und von hier aus sich diese Sucht von einem Kloster zum anderen verbreitet haben. Aus dem Alterthum erwähnt Plutarch einer epidemischen Selbstmordmanie der Mädchen von Milos. Diese fingen zu toben an ohne alle erkennbare Ursache, so daß man sie durch die Luft vergiftet glaubte, verlangten zu sterben und führten trotz aller Vorstellungen und aller Vorsicht ihr Vorhaben durch Erhängen aus. Da alle Mittel dagegen sich wirkungslos erwiesen, wurde endlich verkündet, daß die Leiche jeder, die sich tödte, nackt durch alle Straßen geschleppt werden solle. Dadurch wurde der Epidemie rasch ein Ende bereitet – offenbar deshalb, weil die Vorstellung der schmachvollen Bloßstellung ihrer Leiber sich so lebhaft in ihrer (subjectiven) Phantasie gestaltete, daß dadurch der krankhafte Drang zum Selbstmord überwunden wurde, der jeder vernünftigen Mahnung widerstanden hatte. Auch sonst ist der ansteckende Charakter körperlich-seelischer Krankheiten durch viele Beispiele bezeugt. Selbst die sogenannte Besessenheit wirkt ansteckend auf dazu disponirte Personen. In Betreff der Ansteckung der krankhaften Sucht, Visionen zu haben, fehlt es nicht an manchen Beispielen. In Deutschland zeigen sich in der That schon jetzt Spuren von Ansteckung oder Nachahmung des visionären Treibens in Marpingen, und es droht diesem Orte starke Concurrenz zu entstehen, was natürlich dort mit Ingrimm vernommen und dem Teufel oder der Betrügerei zugeschrieben wird. In Lourdes war man klüger, indem man die krankhafte Person möglichst bald entfernte und in ein Kloster that, um vor den Wandlungen ihrer Stimmung sicher zu sein. Nicht einmal zu den großen Festlichkeiten hat man sie dankbar herangezogen.

Um übrigens dergleichen Erscheinungen wenigstens einigermaßen richtig zu würdigen, ist es nothwendig, Wesen und Bethätigung jener Seelenkraft näher zu untersuchen, die man als Phantasie bezeichnet. Hier indeß muß ich mir versagen, näher auf diesen Gegenstand einzugehen, doch möge gestattet sein, diejenigen Leser, die ein tieferes Interesse an der Sache nehmen, auf mein Werk zu verweisen, das der Untersuchung desselben gewidmet ist: „Die Phantasie als Grundprincip des Weltprocesses“ (München. Th. Ackermannn 1877). Inn demselben wird nicht blos die gewöhnlich so genannte Phantasie nach allen Beziehungen untersucht, sondern es wird deren Begriff erweitert und zu zeigen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 166. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_166.jpg&oldid=- (Version vom 12.5.2019)