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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Ich glaube kaum, daß es damals eine deutsche Hausfrau gegeben, welche nicht den Stoffen aus Nesseln huldigte. Wir sehen daraus, daß die Nessel nicht immer das unnütze Ding gewesen, das seiner Häßlichkeit wegen in Ecken und Winkel verbannt und mit Füßen getreten wurde, wie heute. Die Nessel war damals ebenso geachtet wie Flachs und Hanf; sie war eine gesuchte Pflanze, welche man ihres vielseitigen Nutzens wegen allüberall gern pflanzte und pflegte.

Vor mir liegt ein altes Medicinbuch aus dem 15. Jahrhundert, worin viele Seiten lang über die Brauchbarkeit und Wirksamkeit der Nessel in der Arzeneikunde zu lesen steht. Es ist da hauptsächlich unsere gemeine hochgehende Nessel, die urtica divica, gerühmt, aus deren Blättern man Thee gegen allerlei Uebel und aus deren Stengel man Tränke aller Art bereitete. Ein altes Verschen allda lautet:

Wenn sie Nesselsaft trunken im März
Bei helllichtem Mondenschein,
So ginge noch manche Maid
Spazieren am Ufer des Rhein.

Selbst die Eitelkeit damaliger Zeit stellte die Nessel in ihren Dienst, indem Nesselsamen, in destillirtem Wasser gekocht, als vielfach begehrtes und umworbenes Schönheitsmittel in gewissen Kreisen verkauft wurde. Es sollte dieses Säftchen, auf die Haut gestrichen und auf derselben von selbst trocknend, der Haut eine Weiße wie Alabaster und eine Zartheit gleich dem Sammet verleihen. Quacksalber und Zauberer priesen die Liebestränke aus Nesseln. Wer an Liebe krank, den ließen sie Nesselsamen in Wasser kochen und unter Gemurmel folgenden Sprüchleins das Gebräu umrühren:

Wie Jesus jeden Mensch geliebt,
Auch selber den, der ihn betrübt,
So sei auch Du in Liebe mein,
So brennend, als die Nesseln sein!

Mit diesem Safte begoß man die Thürschwelle des Liebsten. Natürlich entbrannte derselbe sofort in unwandelbarer Liebe zu der holden Zauberin.

Noch jetzt findet sich der Aberglaube, der Blitz fürchte sich vor der Nessel, weshalb sie in vielen Gegenden Donnernessel genannt wird. Der Blitz - so glaubt man - schlüge nie in einen Nesselstrauch. In Tirol legt man deshalb bei starkem Gewitter einen Nesselstrauß auf den Herd, damit der Blitz das Haus verschone, und in den Kellern legen sie Nesseln auf die Bierfässer, damit das Bier bei dem Gewitter nicht sauer werde.

Die Indier sagen: ich werde meine Rachegedanken in die Nesseln werfen, was so viel heißen soll, als: ich werde sie nie wieder aufnehmen. Kurz, man fand in ihr alle möglichen guten Eigenschaften und verehrte unsere wildwachsende urtica divica, wie vielleicht keine andere Pflanze.

Da kam vor etwas mehr denn hundert Jahren, von den Engländern eingeführt, die Baumwolle, King cotton, aus Osten, welche unserer armen divica eine sehr gefährliche Rivalin werden sollte und es auch ward.

War es der Reiz der Neuheit, welcher uns Deutsche ja stets so mächtig angezogen, oder war es die große Billigkeit, mit welcher sie ausgeboten wurde, kurz, die junge Engländerin trat gegen unsere bescheidene Landsmännin in offenem Kampfe auf und nach einigen Jahren war die arme Deutsche ohne Schutz und Schirm von jener aus den Schranken geschlagen. Von der stolzen Feindin verdrängt, mußte sie sogar erleben, daß Alle, welche sie früher verehrt, nun ihrer bittersten Feindin huldigten. Sie war eben alt und die Baumwolle - sagen wir neu. Arme divica!

Lange, lange Jahre schlief unsere nun nicht mehr geehrte und gepriesene divica den Schlaf der Vergessenheit, und als wollte sie im Schmollwinkel, in den sie sich zurückgezogen, über die Undankbarkeit des Menschen nachdenken, so verkroch sie sich an die Hecken, die Felsenrisse, überhaupt an von dem Fuße der Sterblichen wenig betretene Orte, um von ihrem entschwundenen Ruhme zu träumen. Aber die Seele ihres Lebens bewahrte sie ängstlich für die kommenden Generationen, und die ihr innewohnende Kraft wollte sie nicht preisgeben oder verleugnen, gerade als ob die Ahnung sie aufrecht erhielte, daß sie, nachdem das Geschlecht der Undankbaren ausgestorben, dereinst wieder zu vollen Ehren aufgenommen würde. Und so sollte es kommen. Ihr Mißcredit, in den sie ohne Schuld gerathen war, ging über an wohlverdienten Credit, welchen Sachverständige ihr erwiesen. Und wunderbarer Weise war das Ausland, welches die Nessel aus der von ihr innegehabten Stellung verdrängt hatte, dazu berufen, sie wieder an das Licht zu ziehen.

Als nach der Weltausstellung zu Philadelphia Professor Reuleaux[WS 1] in Berlin der deutschen Industrie das bekannte niederbeugende, aber durchaus wahre und nicht übertriebene Zeugniß ausstellte, daß sie, wenn anders sie eine gebietende Machtstellung unter den industriellen Producten für die Zukunft einnehmen wolle, andere, gewissenhaftere Wege einschlagen müsse, als der genannte Vertreter der deutschen Industrie dieser letzteren in wohlverstandenem und wohlgemeintem Interesse den Rath ertheilte, die fachliche und persönliche Aufmerksamkeit wieder mehr inländischen Erwerbserzeugnissen zuzuwenden, um sich so allmählich unabhängiger von dem Auslande zu machen, da wurde auch die Brennnessel wieder in das Gedächtniß ihrer Verächter zurückgerufen. Man erinnerte sich mit einem Male aller der guten Eigenschaften des verkannten Unkrautes.

Verschiedene Autoritäten auf dem Gebiete der Industrie, namentlich der aus seinem Berufsfeld so tüchtige und bewährte Garteninspector Bouché in Berlin beschäftigte sich in Gemeinschaft mit dem Reichstagsabgeordneten Dr. Grothe damit, die in Vergessenheit gerathene Nesselcultur wieder an das Tageslicht zu ziehen. Bouché scheute weder Mühe noch Aufopferung ihr aufzuhelfen. Die Herren richteten jedoch vielfach ihr Augenmerk auf fremde Nesselarten, von denen bereits günstige Ergebnisse vorliegen. Da ist vor allen Dingen eine chinesische Nesselart zu nennen, die urtica nivea (schneeweiße Nessel), welche bei der Berührung nicht brennt, wie unsere einheimische. Sie liefert einen Faserstoff, welcher einzigartig ist und an gediegener Schönheit, seidenartigem Glanze und haltbarer Feinheit von keinem andern übertroffen wird. Natürlich erhebt sie bei solchen Resultate auch ganz andere Ansprüche als unsere ausdauernde und bewährte divica. Sie verlangt ein besonderes Klima und eine eigens präparirte Bodenbeschaffenheit, um eine einigermaßen dankbare Ernte zu liefern, während unsere deutsche Brennnessel gar keine Umstände macht und allüberall zu Hause ist, wo man sie hinstellt.

Die Chinesin ist zart, gleich der Theerose, verlangt im Winter ein warmes Bett und einen warmen Mantel und gedeiht nur schwer im südlichen Europa.

Professor Reuleaux hatte die Güte, mir Fasern dieser urtica nivea zukommen zu lassen, welche der feinsten Seide, ja ich kann behaupten, dem gesponnenen Glase im Aussehen gleich kamen. Von diesen Fasern wird der wunderbare Stoff verfertigt, welchen wir unter dem Namen Chinagras oder Grasleinen kennen. Ob es gelingen wird, diesen Fremdling in unserer Gegend zu acclimatisiren, darüber schon jetzt ein endgültiges Urtheil zu füllen dürfte nach den wenigen Versuchen, welche man bisher mit seiner Verpflanzung auf deutschen Boden augestellt hat, verfrüht sein. Jedenfalls kann erst die Zukunft lehren, ob die urtica nivea durch ihre Acclimatisirung auf fremden Boden nicht von ihrer Schönheit und Güte einbüßen würde.

Noch andere fremde Nesselsorten kommen in Betracht, die urtica cannabina in Sibirien, die urtica canadensis aus Canada und die laportea pustulata vom Alleghanygebirge. Diese eben angeführten Nesselsorten könnten aller Wahrscheinlichkeit nach leichter eine Verpflanzung in deutsches Gebiet vertragen, da sie, wie die Erfahrung in überzeugender Weise lehrt, dem Einflusse der kälteren Jahreszeit gegenüber keines besonderen Schutzes bedürfen. Bis jetzt fehlt es aber noch an Vorrath von Wurzelstöcken um größere Anpflanzungen damit zu machen.

Vor der Hand müssen wir uns begnügen mit dem, was in unserm Klima und auf unserm Boden wächst, mit unserer alten Bekannten, der urtica divica.

Von dem kleinen frechen Vetter derselben, urtica urens, der von allen seinen europäischen Verwandten am meisten brennt, der sich auf allen Schutthaufen und in ungepflegten Gärten wohl fühlt und breit macht, wollen wir gar nicht reden. Seine Fasern sind zwar fein, aber sehr kurz, sodaß sie zum Gespinnst sich weniger eignen. Aber auch von der divica giebt es zwei verschiedene Zwillingsschwestern: die eine mit grünem Stiele, die andere mit röthlichem. Ich würde der grünen den Vorzug geben,

Anmerkungen (Wikisource)

  1. vgl. Franz Reuleaux: Briefe aus Philadelphia
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 204. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_204.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)