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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)


weil ihre Fasern weicher und feiner sind als die ihrer röthlichen Schwester.

Schon vor fünf Jahren machte ich den freilich verunglückten Versuch, diese divica als Gespinnstpflanze zu behandeln. Die Landleute konnten damals ihren Spott nicht zurückhalten als ihnen zugemuthet wurde, die abgeschnittenen Stengel der Brennnessel gerade wie ihren Hanf zu behandeln. Der ganze Versuch ist an dieser Kleingläubigkeit gescheitert, welche die Leute verhinderte, die Sache mit dem nöthigen Ernst zu betreiben. Fällt es doch dem Landmann entsetzlich schwer, trotz allem Reden den Vortheil einer Neuerung einzusehen, zu begreifen. Als darauf Professor Reuleaux öffentlich für die Brennnessel in die Schranken trat, erbat ich mir von diesem und vom Garteninspector Bonché in Berlin weitere Belehrung und Auskunft über die Anpflanzung und Behandlung der Nessel. Mit Muth und Eifer ging ich an einen neuen Versuch. In einem Gebirgsdorfe des Taunus, in einer armen, felsigen Gegend, wo nur eine dünne Humusschicht den steinigen Boden bedeckt, veranlaßte ich nach den freundlich gegebenen Vorschriften eine Nesselcultur, welche vollständig gelang und allen Wünschen entsprach.

Aus der im vergangenen Herbst bei uns abgehaltenen landwirthschaftlichen Festversammlung zeigte sich zum ersten Mal bei der Ausstellung der Bodenerzeugnisse neben Aepfeln, Birnen, Trauben, Kartoffeln und allerlei Gemüsesorten in Prachtexemplaren ein einfacher Kasten, welcher Nesselfasern in den verschiedenen Stadien der Verarbeitung bis zum gesponnenen Garne enthielt.

Da waren gebrechte und gehechelte Nesselstränge; da war ein großer Wust von Nesselwerg, zarter, schöner und seidenartiger als Werg von Hanf und Flachs; da prangte zum ersten Mal das gesponnene Garn aus Nesseln, zu seinem Ehrentage mit bunten Schleifen festlich geziert. Heute war unsere divica nicht mehr das verhaßte, das verachtete Bettelkind; heute stand sie im festlichen Schmucke, am meisten angestaunt und beachtet von der schaulustigen Menge. Ihre Ahnung war mit einem Male in Erfüllung gegangen. Die Ungläubigen, welche früher die Nasen gerümpft, wurden bekehrt, und viele Hunderte faßten den Entschluß, denn gegebenen Beispiele zu folgen und auch Nesseln zu pflanzen. Der landwirthschaftliche Verein gab Ehrendiplome; in allen Zeitungen wurde die Nesselcultur gepriesen; Minister und Oberpräsident zollten ihren Beifall, und bald entstand in ganz Deutschland und weiter gewaltiges Aufsehen über die gelungene, bescheidene Nesselpflanzung. Viele Vereine und viele Grundbesitzer erbaten sich nähere Auskunft über Anbau und Art der Vearbeitung der Nessel, und in diesem Frühjahre werden überall in Deutschland, in der Schweiz, Belgien, Ungarn, Polen, Schweden und Oesterreich, sogar in Nordamerika, wohin Proben der hier gezogenen Nesseln abgegeben wurden, Nesselpflanzungen aus der Erde wachsen.

Ueber die Art der Behandlung der Pflanze bei rationellem Anbau, die Bearbeitung derselben nach der Ernte etc., habe ich meine geringen Erfahrungen in einem Druckschriftchen: „Die Nessel als Gespinnstpflanze“ im Verlage von H. Johannssen’s landwirthschaftlicher Verlagsbuchhandlung (G. Hoefler) in Leipzig, Thalstraße 32, niedergelegt. Den Inhalt dieser Schrift hier auch nur kurz zu wiederholen, würde zu weit führen. Im Allgemeinen aber bemerke ich nur noch, daß die Nessel gerade wie der Hanf behandelt wird, und über die oft erwähnte Frage, ob es vortheilhafter sei, Nesseln oder Hanf zu ziehen, erlaube ich mir nur noch Folgendes zu bemerken: die Nessel wird nur alle zehn bis fünfzehn Jahre einmal angepflanzt; die Arbeit des Anbaues ist nur gering; es giebt bei der Nessel kein Mißjahr; jedes Jahr, jede Witterung, jeder Boden sagt ihr zu; sie gedeiht bei Sonne und Regen, bei Sturm und ruhigem Wetter, bei Hagel und Gewitterschauer; sie kommt auf Felsen mit nur drei bis vier Zoll Erde noch gut fort; überall ist sie zu Hause; überall wuchert sie.

Ob man dies auch von Flachs und Hanf sagen kann, bezweifle ich sehr.

Obgleich Alles, was als Novität auf den Schauplatz der Erscheinung tritt, angestaunt zu werden pflegt, hält es, zumal bei dem deutschen Charakter, schwer, Experimentir-Versuche selber anzustellen und den anfänglichen Spott der Unberufenen auf sich zu nehmen. Dadurch ist es, wie die Geschichte in vielen Beispielen zeigt, schon zum öfteren geschehen, daß unser Deutschland um die Ehre mancher Erfindung kam, deren erster Gedanke in dem Kopfe eines seiner fleißigen Söhne aufgetaucht war, weil diesem späterhin der Muth fehlte, seiner ersten Idee nachzugehen und aus ihr praktische Consequenzen zu ziehen.

Aehnliches könnte auch der wieder erwachten Nesselcultur begegnen, wenn ihr nicht kräftiger Beistand gewährt und namentlich das Vorurtheil entfernt wird, welches sich klettenartig an jedes neue Unternehmen hängt, das auf den Markt der Oeffentlichkeit zu treten sich anschickt.

Der deutsche Kleinbauer, conservativ von Haus aus, wenn auch nicht immer in seiner Gesinnung, so doch jedenfalls auf dem praktischen Gebiete des landwirthschaftlichen Lebens, entschließt sich bekanntlich sehr schwer, einer Neuerung offenes Ohr zu gönnen und thatkräftige Handreichung zu leisten, während er alten Vorurtheilen höchst zugänglich ist. So kann er es im Hinblick auf den beregten Gegenstand kaum über sein Herz bringen, der Nesselcultur ein geneigtes Ohr zu leihen, ja es geht ihm geradezu wider die Natur, das so lang verachtete und von Groß- und Voreltern verhaßte Unkraut nur mit wohlwollend freundlichem Blicke anzuschauen.

Wir möchten ihm mit dem altdeutschen Liedchen aufmunternd zurufen:

„O Bäuerlein, Bäuerlein, habe Muth
Und baue Du auf Deinem Gut,
Ist’s nur ein Plätzchen winzig klein,
Die Nessel - sie wird dankbar sein.“

Und nun lasse mich dir zurufen: Wache auf, urtica divica, wache auf! Erhebe stolz dein Haupt! Du sollst jetzt aus deinem hundertjährigen Schlafe aufgeweckt werden. Sollst wieder zu deinen alten Rechten erhoben sein, sollst wieder deine Kräfte im vielfach verschlungenen Tauwerk für Staats- und Volkswohl erproben und sollst als feinstes Kleidungsstück, dem Armen zum Verdienst, dem Reichen zum Schmucke prangen. Strenge dich an, divica, soviel es in deiner Macht liegt! Denn der Sieg ist des Kampfes werth. Strenge dich an, auf daß die Hoffnung derer nicht getäuscht werde, welche, von Muth beseelt, in vollem Vertrauen dir nahen, dich aus dem hundertjährigen Meere der Vergessenheit hervorzuziehen, und bereit sind, dich wieder zu Ehren zu bringen!




Blätter und Blüthen.

Der berühmteste Gefangene des letzten Krieges. (Mit Abbildung auf S. 203) Man braucht den Namen dieses Gefangenen kaum zu nennen. Sein Schickaal hat ihm die Theilnahme der gebildeten Welt gesichert. Nie ist eine so entschiedene Wendung des Kriegsglückes und die vollständige Entmuthigung eines durch rasche Siege übermüthig gewordenen Gegners mit noch weniger Geist und Geschick erfaßt, und nie erbärmlicher in ein schmähliches Ende verkehrt worden, als die erschütternden Kämpfe von Plewna. Dieser Name, vor welchem ganz Rußland gebebt hatte, sollte auch an der Säule prangen, die das Ende des europäischen Türkenreichs bezeichnet, und daß an dieser Säule auch der Name Osman Paschas steht, das ist das tragische Verhängnis, welches seinen Siegerkranz mit einem Flor bedeckt. Ueber sein Leben haben wir auf S. 89 das Nöthige berichtet. Seinem Bilde fügen wir hier, zur Ergänzung unserer dortigen Angaben, die charakteristische Selbstbiographie bei, welche ein Correspondent der russischen Zeitung „Golos“ aus Charkow, dem Aufenthaltsorte des Gefangenen, einer Unterredung mit Osman Pascha verdankt. Der Pascha soll, auf die Bitte um einige biographische Notizen, mit Beziehung auf eine bekannte, auch von uns, in dem oben genannten Artikel schon angedeutete Zeitungsente, begonnen haben: „Meine Biographie ist der gesammten Welt bekannt. Ich bin ja der Marschall Bazaine; meine Frau ist eine Andalusierin, und ich habe drei Töchter. Eine meiner Töchter ist Paris Sängerin in einem Café Chantant, die andere tanzt in einem öffentlichen Local in London, und die dritte führt in Petersburg ein leichtfertiges Leben. Eine würdige Nachkommenschaft eines Vaters, der sein Vaterland verrathen.“ Der Herr Correspondent erstaunte sicherlich nicht wenig, aber Osman Pascha änderte hier den Ton seiner Erzählung selbst, indem er fortfuhr: „Nein, mein Herr! - Ich bin ein Türke, aus Tokat in Anatolien gebürtig, wurde in der Kriegsschule in Constantinopel erzogen und führte in der letzten Zeit, da ich dem Generalstabe zugezählt war, ein Nomadenleben. Ich bin Familienvater.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 205. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_205.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)