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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)


nichts helfen und nach obiger Darlegung des Leidens nicht helfen können. Da die Grundursache eine psychische ist, alles Uebrige aber, vor Allem die örtliche Functionsstörung der Muskelapparate, die zur Ausathmung und zur Laut- und Wortbildung beitragen, nur eine Folge jener psychischen Ursache ist, so treffen die diesen secundären Erscheinungen entgegenarbeitenden Uebungen die Wurzel des Uebels nicht. Sie dürfen zwar nicht fehlen, damit dem Stotterer die äußeren Bedingungen des normalen Sprechens gezeigt und wiedergegeben werden, aber vornehmlich kommt es auf die psychische Behandlung des Patienten seitens des Heilenden an, der die Fähigkeit, ihn völlig zu beherrschen besitzen muß, und diese Kunst läßt sich schriftlich nicht mittheilen.[1]

Bezüglich der Behandlung von Kindern dagegen, welche die Disposition zum Stottern zeigen, ohne es schon ausgebildet zu haben, werde ich, da es mir in der heutigen Nummer an Raum gebricht, später in einem Nachtrag einige vorbeugende Maßregeln angeben.


  1. Wir haben den obigen Mittheilungen des Herrn Rudolf Denhardt aus Burgsteinfurt nur noch hinzuzufügen, daß – wie wir aus eigener Anschauung in den Unterrichtsstunden uns überzeugt haben – das Heilverfahren desselben ein ebenso rationelles wie einfaches und erfolgreiches ist. Herr Denhardt verstand es, ohne alle Medicamente, ohne Operation und mit Vermeidung der ebenso falschen wie erfolglosen Tactmethode, selbst hochgradigen Stotterern, die nicht im Stande waren vier Worte hintereinander zu sprechen, bereits nach vierzehn Tagen oder drei Wochen zum fließenden Gebrauch ihrer Sprache zu verhelfen und ihnen jede beliebige Conversation, jeden Vortrag einer längern Rede, ohne Fratzenschneiden oder alberne Tactbewegungen zu ermöglichen. Der Genannte ist somit, außer seinem zweiundsiebenzigjährigen Vater, augenblicklich in Deutschland der einzige Sprachlehrer, der mit stets gleichen Erfolgen ein Gebrechen zu heilen versteht, das selbst von Aerzten noch falsch aufgefaßt wird und noch niemals richtig bekämpft worden ist. Freilich fordert er auch nach den Unterrichtstunden ein energisches Beachten der Methode, aber wenn dies geschieht, so ist auch ein Rückfall in den alten Fehler unmöglich. Die freudige, wahrhaft rührende Dankbarkeit, mit der alle Geheilten an Herrn Denhardt hängen, beweist nur, wie sehr er es verstanden hat, aus tief unglücklichen scheuen Stotterern frohe und selbstbewußte Menschen zu machen, die sich jetzt mit Sicherheit in ihren Berufssphären und in der Gesellschaft bewegen. Die Redaction der „Gartenlaube“.
    E. K.




Ein Freiheitsbaum.
Von August Becker.

Es war ein wunderschöner Maiensonntag im Jahre 1832. Die Schuljugend – wozu auch meine älteren Geschwister gehörten – war, wie jeden Sonntag Nachmittag im Lenz, auf das „Schloß“ gestiegen. So hieß im Volksmunde die Ruine Landeck, der sagenhafte merowingische Königssitz Dagoberts des Großen, welche mit ihrem mächtigen Thurme aus römischen Kropfquadern und mit ihren runden Eckthürmchen auf dem Kastanienberg emporragt. Da war es still auf den Gassen des Fleckens Klingenmünster und still im Hause; nur meine Mutter war daheim. Und ich saß als kränkelnder Knabe vor der Hausthür auf der steinernen Staffel und sah in den kommenden Abend hinein, sah selbstvergessen nach den Thurmschwalben, welche das schimmernde Kreuz der Stiftskirche umsegelten, und hörte dem verschlafenen Rauschen des Rathhausbrunnens zu, der aus drei Röhren sein Wasser in die gewaltigen steinernen Tröge goß.

Die Stille auf den Gassen an jenem Maiensonntag ist meine früheste Erinnerung. Wahrscheinlich blieb sie deshalb so lebendig in mir haften, weil diese idyllische Ruhe so plötzlich unterbrochen wurde. Mit Epheu bekränzt, jubelnd und schreiend, brach nämlich, von der Ruine kommend, die Schuljugend in den Frieden der Ortsgasse ein. Und wie toll schrieen auch meine Geschwister mit:

„Preßfreiheit hoch! Freiheit in unserem Lande! Der Wirth soll leben! Der Siebenpfeiffer soll leben. Schüler und der Pistor hoch! hoch! hoch!“

Und dabei schwangen sie kleine papierne, schwarz-roth-goldene Fahnen und geberdeten sich wie junge Bacchanten. Das war nun allerdings ein wunderliches Gebahren und ich verstand von ihrem Geschrei ungefähr so viel, wie eine Kuh von einer Muskatnuß, wie man am Oberrhein zu sagen pflegt. Was sie noch von „Freiheit“ und „Deutschland“ sagten, klang mir leer in’s Ohr. Was war mir Hekuba?!

Lärmend und jubelnd drangen meine Geschwister auch in die Stube, wo meine Mutter lesend saß und die Tobenden nun zu beschwichtigen suchte, indem sie ihnen mit großen Traubenmusbrocken die kleinen Mäuler stopfte und ihrem Geschrei damit ernstlich wehrte. Die gute Frau, sonst entschlossen und nicht leicht außer Fassung gebracht, war an jenem Abende etwas ängstlich und besorgt; den Grund sollte ich erst später erfahren.

„Mutter!“ rief mein ältester Bruder. „Heute geht es los. Sie sind schon in den Wald, um sich einen auszusuchen.“

„Gott gebe, es wäre schon vorüber!“ seufzte die Mutter und ging in die Küche, um einstweilen für das „Nachtessen“ zu sorgen, da die Mägde noch nicht heimgekommen waren.

Eine seltsame Unruhe ging an jenem Abende durch meinen Heimathsort. Viele junge Bursche sah man diesmal nicht, wie sonst an Sonntagabenden, mit den Mädchen unter den blühenden Nußbäume entlang wandeln, und die dort wandelten, sangen nicht wie sonst die alten schönen Volkslieder, sondern jene Freiheitsliedlein und Polenhymnen, welche dann Jahre lang auf allen Kirchweihen zum Tanze aufgespielt wurden. Und immer klang der mir bis dahin unerhörte Ruf „Freiheit!“ gellend dazwischen. Einige ältere Herren standen gruppenweise auf den Gassen und Plätzen, vor den Fenstern und Thüren beisammen, und dann und wann scholl lauter herüber:

„Freiheit in unser’m Land’, Freiheit im ganzen Land’,
Aristokraten werden gebraten,“ etc.

Die Dunkelheit war allmählich hereingebrochen, aber noch ward es auf den Gassen nicht ruhig. Niemand schien sich gern niederzulegen. Viele blieben überhaupt auf. Weil ich krank und noch so klein war, erhielt ich mein Bett im Schlafzimmer meiner Eltern, schlief auch bald getrost ein. Um Mitternacht wurde ich jedoch durch einen fürchterlicher Lärm geweckt. Draußen läutete das Rathhausglöckchen Sturm. Die Papiermühle im Thale stand, die tiefe Maiennacht erhellend, lichterloh in Flammen.

„Laßt sie brennen!“ hieß es draußen im Gebrüll und Tosen von hundert Stimmen. „Wir haben Anderes zu thun.“

Und dazu fiel Schuß auf Schuß unmittelbar vor den Fenstern der Schlafstube, daß ich schreiend auffuhr, wenn der Feuerblitz durch das Zimmer zuckte, die Scheiben dröhnten, die Flinten krachten, die Böller lärmten und dazwischen Freiheitsgesang erbrauste, Rufe erschollen und Jauchzen gellte. Es war eine jener Nächte, die man nicht vergißt, auch für meine Mutter, damals eine junge dreißigjährige Frau, die zwei Wochen später einer meiner jüngeren Schwestern das Leben schenkte. Nur mein Vater behielt seine Fassung auch noch dann als unmittelbar hinter der Mauer ein dumpfes Geräusch sich bemerklich machte, als arbeiteten dahinter Schaufeln, Hacken und Karste, um das Haus zu untergraben.

„Tiefer! Macht’s tiefer!“ wurde durch den fürchterlichen Tumult vernommen, während mein Vater sich ankleidete. Und wieder wurde eifrig gegraben, ohne daß das Krachen der Böller und Gewehre, das Singen und Schreien unterbrochen worden wären.

Da pochte es heftig an die Fensterscheiben.

„Was giebt es?“

„Machen Sie auf, Herr Becker! Die Thür vorn an der Hausflur.“

„Wozu?“

„Wir müssen ihn mit Stricken emporziehen – durch den Speicherlucken oben am Giebel. Dann wollen wir doch auch im Rathsbureau ein Protokoll über unsere Beschwerden aufgenommen haben.“

„Gut!“ sagte mein Vater nach einigen Bedenken. „Wartet ein wenig.“

Vorerst wollte er meine Mutter in Sicherheit wissen, die vor dem gräßlichen Toben und Knallen unmittelbar vor ihren Schlaffenstern heftig erregt war, mich aus meinem Bette in ihre Arme nahm und mit mir in ein entlegenes Zimmer flüchtete,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 215. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_215.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)