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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

von Napoleon drakonisch gegen England durchgeführten Continentalsperre wurden die seit Jahren aufgespeicherten englischen Waaren massenhaft auf den Continent geworfen. Der einzige Vortheil der deutschen Industrie gegenüber der englischen, der billige Arbeitslohn, ging während der schweren Hungerjahre 1816 und 1817 vollständig verloren. Die schwere Krisis, die wir jetzt durchleben, erscheint als eine Kleinigkeit gegenüber diesem wirthschaftlichen Elend.

Unter allen Städten des Rheins war nun aber wieder Köln vielleicht am schwersten durch die Franzosenzeit und die veränderte Staatsangehörigkeit heimgesucht worden. Schon mit dem Eindringen der als Retter aus aller Noth begrüßten Jacobiner war das städtische Eigenthum Nationalgut geworden, der beste und wohlhabendste Theil der Bürger geflohen, die Aufhebung der Klöster und mancher milden Stiftung beschlossen. Nach Beendigung der Fremdherrschaft konnten nur noch wenige alte Convente und klösterliche Institute Zeugniß ablegen von der Art, wie im alten Köln die Noth gelindert, die Krankenpflege betrieben worden war.

Damit dürfte zur Genüge erklärt sein, wie das Elend der Hungerjahre sich zwei Jahre lang in der großen Stadt behaupten, wie Robert Blum auf seinem ferneren Lebenswege so gut wie gar keine unterstützende Aufmerksamkeit von Seiten der Vaterstadt finden konnte.

Wir sahen, daß der junge Robert schon mit dem siebenten Jahre lesen, schreiben und rechnen konnte. Er hatte sich bis zum zehnten Jahre in diesen und allen sonstigen Künsten, die in seiner Pfarrschule gelehrt wurden, so weit vervollkommnet, daß er anfing, manchem Lehrer als unbequemer „Ueberflieger“ zu gelten, das heißt als ein Bursche, dem Alles zu leicht wird, dem nichts mehr gelehrt werden kann.

In diesem Stadium seiner Bildung bethätigte seine Tante Agnes Blum (wie wir sahen, die einzige Tochter seines Großvaters Robert) die volle Staatskunst der Frauen, indem sie nach dem alten machiavellistischen Grundsatz den gefährlich-oppositionellen Denker in das Ministerium ihres Lehramtes berief und ihm zunächst das Portefeuille der Mathematik verlieh – mit zehn Jahren!

Das ging so zu. Die gute Tante Agnes hatte sich niemals träumen lassen, Lehrerin zu werden. Sie war vielmehr Jahre lang blos Pflegerin einer alten Dame, welche in dem Gebäude der Elementarschule der St. Mariä-Himmelfahrts- oder Jesuiten-Pfarre wohnte. Als diese Dame das Zeitliche gesegnet hatte, wurde Agnes die Universalerbin der Verstorbenen und als solche sehr wohlhabend. Sie übernahm nun gleiche Samariterdienste bei der Lehrerin der genannten Schule, wohnte ihrem Unterrichte vielfach bei, vertrat sie in der Schule, als die Lehrerin kränker und kränker wurde, und erhielt – wahrscheinlich zu ihrem eigenen nicht geringen Schrecken – die Lehrerinstelle der hochehrwürdigen Jesuiten-Pfarr-Elementarschule angetragen, als die Lehrerin die Augen für immer geschlossen hatte. Freilich tobte damals noch nicht der Culturkampf. Auch der Schulzwang und die Schulordnung hatten die Pforten der Hölle noch nicht überschritten. Jeder konnte nach seiner Façon Lesen, Schreiben und Rechnen lehren. Jeder, der zahlen konnte, schickte seine Kinder wohin ihm beliebte. Wer nicht zahlen konnte, schickte sie – in die Stecknadelfabrik zum Verdienen. So war’s unter dem menschenfreundlichen Krummstab gewesen. So war’s auch noch Anno 1817. Das Geld, welches für die Schulstunden zu entrichten war, gehörte der „Lehrperson“. Dieser letztere Gesichtspunkt scheint für Tante Agnes entscheidend gewesen zu sein, als sie sich entschloß, ohne jegliche ausreichende Vorbildung zum Amte einer Elementarlehrerin, dem an sie ergangenen Rufe Folge zu leisten. Immerhin blieb ja doch der große Trost, daß in der Hauptsache, in der Religion, die armen Kinder von der Pfarrgeistlichkeit direct unterrichtet wurden. Nur in einem Punkte konnte sich ihr zartes Gewissen mit dem übernommenen Amte nicht abfinden: im Einmaleins, in den vier Species, vollends im Bruchrechnen, der Regeldetri etc. Diesen Geheimnissen gegenüber war sie völlig rathlos. Um so besser, daß der kleine Neffe Robert so ausgezeichnet darin bewandert war. Er wurde also als Rechenlehrer der Tante Agnes angestellt.

Die Einkünfte, die er für diese Thätigkeit genoß, waren verhältnißmäßig bedeutend. Denn Tante Blum überzeugte ihre Schülerinnen natürlich mit Leichtigkeit, daß die wunderbare Kunst des Rechnens nicht für den gewöhnlichen Unterrichtspreis mit verabreicht werden könne, daß vielmehr zur Aneignung dieser ungewöhnlichen Kenntnisse Privatstunden nothwendig seien. Selbstverständlich konnten auch nur die reiferen Schülerinnen an dieser Sahne des Unterrichts der Pfarrschule naschen. Der Preis von einem Stüber (vier bis fünf Pfennig) für zwei Rechenstunden in der Woche erschien als eine Kleinigkeit gegenüber der Errungenschaft dieses Wissens, welches – die Lehrerin selbst nicht besaß. Für Robert aber, der an vier Tagen der Woche Nachmittags von vier bis fünf Uhr zwei Classen der Tante unterrichtete, waren diese Kupfermünzen gerade ausreichend, um seiner guten Mutter die Ausgabe für einen Communionanzug zu ersparen. Denn Tante Agnes sammelte ihm die Einnahmen seines Rechenunterrichts auf das Genaueste. Sie gab ihm aber außerdem durch eine bei ihrer Genauigkeit wahrhaft splendide Naturalleistung schamhaft zu verstehen, aus welcher Verlegenheit er sie durch seinen Rechenunterricht erlöste: sie verabreichte ihm nämlich, wenn er um vier Uhr aus seiner eigenen Schule zum Unterricht in die ihrige kam, eine ganze Tasse Kaffee und ein Brödchen. Die Tasse Kaffee mußte er nun schon als unübertragbare persönliche Rechtswohlthat für sich selbst hinnehmen. Aber das Brödchen allein zu genießen, ging über seine brüderlichen Begriffe. Sein Schwesterchen besuchte ja dieselbe Schule als Schülerin, in der er lehrte. So oft es ging, suchte er ihr das kleine Gebäck zuzustecken. War sie im Garten, auf dem Spielplatz, im Schulzimmer, so scheute er keinen Vorwurf, um seinem Liebling den hohen Genuß frischen Weißbrods zuzuwenden.

So war das elfte Jahr seines Lebens herangekommen, in welchem Robert zum ersten Male das heilige Abendmahl empfing. Wohl der Einzige unter den gleichalterigen Genossen, hatte Robert die Festkleidung, die er am Altar des Herrn trug, sich selbst redlich verdient. Aber auch der kindlich tiefe Glaube an das Wunder des Gnadenmahls des Heilandes mochte vielleicht keinem seiner Gefährten so rein und kräftig innewohnen, wie ihm. Diesen schon seit seinem vierten Jahr durch täglichen Messebesuch und Messedienst bethätigten Glauben bezeugte Robert nun auf’s Neue, indem er seine Eltern nach der Communion bat, ihm zu gestatten, daß er in der St. Martinskirche (seiner Pfarrkirche) in die Reihe der Meßdiener eintreten dürfe. Da mit diesem Amte kleine Einnahmen verbunden waren, die Robert seiner Mutter zuzuwenden hoffte, und außerdem das Recht, die Pfarrschule der Kirche zu besuchen, so gaben die Eltern mit Freuden ihre Zustimmung.

Robert wurde also Meßdiener. Da dieser Dienst die Knaben nur in frühen Morgenstunden und an Sonn- und Feiertagen beschäftigte, so hinderte er nicht am Schulbesuch. Aber aus diesem Dienst, der Alles in sich zu vereinigen schien, was Robert glücklich machte, erwuchsen dem Knaben zum ersten Male in seinem jungen Leben seelische Leiden, die ihn mit tiefem Schmerz erfüllten und in ihrem Verlaufe den festen, treuen Kinderglauben Robert’s zerstörend ergriffen und vernichteten. Den ersten Anlaß hierzu bot folgender Vorgang. Die jungen Meßdiener verweilten in der Kirche schon ehe sie den Gläubigen geöffnet wurde und noch nachdem sie von den Kirchenbesuchern verlassen war. Die Jungen – mindestens aber Robert – beobachteten genau das Benehmen der Geistlichkeit in diesen Momenten, wenn diese unter sich zu sein glaubte. Klagend und weinend berichtete Robert der Mutter: „Er habe die traurige Bemerkung gemacht, daß die stets mit dem Heiligen beschäftigten Leute nicht frömmer als die Andern seien, ja noch viel weniger fromm. Es falle Keinem derselben ein, vor dem Hochaltar das Knie zu beugen, wenn die Kirche von Menschen leer sei. Sie gingen vielmehr lachend und schwatzend vorbei. Er wolle aber versuchen, durch sein besseres Beispiel auf die Andern zu wirken.“ Bald klagte er der Mutter von Neuem: „Nein, nein, sie Alle sind nicht fromm. Sie haben keine Achtung und Ehrfurcht vor dem im Altar verborgenen Heiland. Es ist nur Scheinheiligkeit, wenn sie in der von Menschen gefüllten Kirche Ehrenbezeigungen an den Tag legen.“ Armes, reines Kindesherz! Du wußtest nicht, daß Jahrhunderte vor dir ein anderes Kind, aus so armem Hause wie du, am 10. November geboren wie du, denselben Weg zur Erkenntniß gewandelt war, dessen rauhe Bahn du nun betratest. Auch Martin Luther war nicht zuerst irre geworden an der Lehre der römischen Kirche, sondern an ihren geistlichen Dienern. Und als er diese voller Lug und Trug fand, erstreckte

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 252. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_252.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)