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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Rücken aus erkennen in Gestalt zweier schwach gelblicher Halbmonde.

Tritt uns bei dem Bewohner der Kiemen des Meerbarsches schon einerseits die Umwandlung gewisser Anhänge, welche wohl unstreitig Füße waren, aber ihre Gliederung gänzlich verloren haben, in bandartige Lappen und andererseits die verschiedene Gestaltung und geringere Körperentwickelung des Männchens entgegen, so sehen wir bei dem Knorpelkrebse (Chondracanthus) (Fig. 4 und 5), welcher die Kiemen einiger Plattfische, namentlich aber der Scholle (Plie) und der Kliesche (Limande) bewohnt, diese Verhältnisse fast auf die Spitze getrieben. Die Fühlhörner, so wie die großen Hakenklammern vorn an der Unterseite des Kopfes sind bei dem Weibchen (Fig. 4) geblieben; einige Kauwerkzeuge sind noch unterscheidbar, aber die kleinen, zu gezähnten Plättchen umgewandelten Schwimmfüße sind nun völlig unkenntlich geworden und durch zwei Paare lappenförmiger Anhänge ersetzt, deren jeder aussieht, als bestehe er aus einem Wurzelstück, das in zwei Handschuhfingern endet. Der Körper selbst ist lang ausgezogen, aus zwei Abtheilungen gebildet, welche durch eine Einschnürung geschieden werden, und mit Ausnahme des in der Mitte verlaufenden Darmes gänzlich von dem Eierstocke erfüllt, der bei den jüngeren Weibchen ein weiches Zellengewebe darstellt, während er bei älteren ein dunkles, kaum von einigen hellen Zwischenräumen durchbrochenes Netz bildet. Nach hinten läuft dieser lange Körper in zwei seitliche Zipfel aus, an deren Innenseite die langen und dicken, mit Eiern vollgepfropften Eierschläuche befestigt sind. Der Mitteltheil des Hinterkörpers bildet einen kurzen Zapfen.

Fig. 4. Fig. 5.
Chondracanthus cornutus.
Fig. 4. Das Weibchen (Bauchansicht) mit dem anhängenden Männchen a., zehnfach vergrößert. Die Eierschläuche sind ebenso lang als der Körper. – Fig. 5. Das Männchen im Profil, fünfzigfach vergrößert.

Damit hätte sich ein früherer, nur mit der Lupe beobachtender Forscher vielleicht begnügt; jetzt, wo man Nordmann’s und seiner Nachfolger Arbeiten kennt, heißt es schärfer aufpassen. Scheint der mittlere Endzapfen nicht doppelt? Hat er nicht ein anderes Ansehen von der Bauchseite als von der Rückenseite? Sieht er nicht von der Unterseite her wie eine Birne aus, welche gegen den Stiel hin einige Querringel zeigt? Glänzt es nicht wie ein rother und schwarzer Punkt auf dem breiten Theile der Birne? (Fig. 4 a.) Man dreht und wendet, sucht selbst mit einem feinen Pinsel oder einer Nadel den räthselhaften Anhang loszulösen. Aber es geht nicht – er ist festgewachsen – er bildet wirklich einen integrirenden Bestandtheil des Thieres. Und doch, hat er sich nicht eben selbstständig bewegt? So arbeitet man hin und her; man legt ein Deckplättchen auf von dünnstem Glase, welches einen geringen Druck ausübt, man schiebt dasselbe nach rechts, nach links und endlich wird es klar: es ist ein kleines, buckliges, an dem Brusttheile seltsam aufgewulstetes Männchen, welches hier an seinem gigantischem Weibchen festsitzt, in unmittelbarer Nähe der mit einem harten Hornringe umgebenen Oeffnungen, durch welche die Eier nach außen treten. Nur äußerste Gewalt kann diese Verbindung lösen – selbst an den in Weingeist aufbewahrten Exemplaren der Weibchen hält das Männchen noch fest. Nie habe ich mehr als ein Männchen gefunden – ich habe aber auch kein noch so junges Weibchen gesehen, an dem nicht schon ein Männchen befestigt gewesen wäre.

Welcher Unterschied in der Größe! Das Weibchen wird bis zu zehn Millimeter lang, das Männchen mißt keinen halben Millimeter – das Weibchen ist also wenigstens zwanzigmal größer.

Wie groß aber auch der Unterschied in der Form und Gestaltung! Wer die beiden Wesen getrennt sähe, würde niemals glauben, daß sie zusammen gehören, daß sie aus denselben Eiern hervorgegangen, aus derselben Grundgestalt heraus entwickelt wären.

An dem unförmig dicken und breiten, nach oben und unten buckligen Vordertheile des Männchens (Fig. 5) stehen auf einem kurzen, wulstartigen Vorsprunge zwei kurze, mit feinen Endborsten besetzte Fühler und unmittelbar darunter zwei nach innen gebogene scharfe und spitze Hakenklammern, mit denen es sich an der Haut des Weibchens festbeißt. Das einfache Auge, welches dem Weibchen gänzlich abgeht, steht mitten auf dem buckligen Vordertheile. Hinter ihm sieht man den Darm und die übrigen Organe durch den Körper durchschimmern. Dieser endet mit einem dünnen, runden, aus mehreren deutlichen Gliedern zusammengesetzten Endtheile, an dem zwei kurze Spitzen ansitzen. Da, wo dieser geringelte Hinterleib an die bucklige Kopfbrust sich ansetzt, stehen zwei Paar kurzer, fußförmiger Anhänge hervor. Bearbeitet man dieses Pygmäen-Männchen mit der Nadel, so schnellt es zuweilen mit dem Hinterleibe, wie vor Ungeduld, oder wirft sich herum auf die andere Seite, aber niemals öffnet es die Hakenzangen, mit welchen es festgekrallt ist.

So ist also hier, wie bei manchen andern verwandten Gattungen und Arten, das Männchen gewissermaßen der Schmarotzer des selbst schmarotzenden Weibchens geworden. Ersteres, riesig groß im Verhältniß zu seinem ihm angeschweißten Gatten, ist ein für allemal an den Kiemenblatte festgehakt, an welchem es sich zuerst festsetzte – es hat keine Bewegungsorgane mehr; die Gelenke seiner Füße sind abhanden gekommen; es hat nur noch Lappen und Haken, mit denen es sich festhält, Fühler, aber keine Augen. Und an diesem unbehülflichen Wesen, das fast nur Eierschlauch ist, dessen einzige Aufgabe ist, Hunderttausende von Eiern zu erzeugen, ist wieder das zwerghafte Männchen festgehakt, welches zwar in seinem Auge und seinen gänzlich verkümmerten Füßen noch eine Reminiscenz an frühere Zustände besitzt, damit auch um einen Grad höher in der allgemeinen Organisation steht, immerhin aber doch fast ebenso unbehülflich und nicht minder an den einmal gewählten Platz gebunden ist, wie das Weibchen.

Kann man sich, solchen Thatsachen gegenüber, noch wundern, wenn es Schmarotzerkrebse giebt, bei welchen die Reduction der gegliederten Anhänge noch weiter geht, die Fühler und Klammerorgane gänzlich verschwinden oder in einen Schopf von Fäden und blattähnlichen Fortsätzen sich umwandeln, sodaß schließlich kein weiteres Anzeichen der Organisation eines Krustenthieres übrig bleibt, als die Eierschläuche, die an dem Hintertheile des wurmförmigen Körpers befestigt sind? Sie existiren, diese Wesen, und sie sind von den Naturforschern so lange für Würmer gehalten worden, bis man ihre Fortpflanzungsweise entdeckte, bis man fand, daß aus ihren Eiern eben solche Nauplius-Gestalten hervorgehen, wie aus den Eiern der übrigen niederen Krustenthiere, sodaß sie demnach nur die Endglieder einer Reihe darstellen, die mit frei umherschwimmenden Thieren beginnt und mit Schmarotzern endet, die sich gänzlich in den Körper ihres Wirthes eingebohrt haben.

Faßt man aber das seltsame Verhältniß der beiden Geschlechter in das Auge, so darf es schließlich auch nicht Wunder nehmen, wenn endlich das gänzlich an das Weibchen gefesselte Männchen in dem Körper desselben gewissermaßen aufgeht; wenn der Gegensatz der Geschlechter und ihre Vertheilung auf zwei getrennte Individuen gänzlich aufhört und Zwittergeschöpfe gebildet werden, welche Männchen und Weibchen zugleich sind und sich selbst zur Erzeugung von Jungen genügen. Wir kennen Beispiele genug aus der niederen Thierwelt, vor welchen wir zweifelnd stehen und uns fragen müssen: hast du es hiermit einem unvollständig getrennten Individuum oder mit einem zur Individualität herausgebildeten Organ zu thun? Ich kann nicht einsehen, warum nicht der entgegengesetzte Proceß stattfinden und das Individuum nicht zum Organ herabsinken könnte.

Aber dies ist nicht Alles. Wie ist es möglich, dem Grundgedanken der Entwickelungstheorie Darwin’s entgegenzutreten und ihn zu verneinen, wenn wir aus den Eiern derselben Mutter, aus demselben Bildungsstoffe, welchen der Eierstock eines einzigen Individuums liefert, so durchaus verschiedene Wesen hervorgehen sehen, wie Männchen und Weibchen einer Lausassel, von welcher

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 265. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_265.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)