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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Circusheldin, die durch papierbeklebte Reifen springt, durch das verschlossene Fenster in den wohlbekannten Saal. Klirrend fallen links und rechts die zerbrochenen Glasscheiben zur Erde. Bestürzt stieben die Herren von der Ananasbowle aus einander.

Von Kopf und Schnauze des Engländers rieselt in Bächen das rothe Blut, aber er achtet dessen nicht, stürzt auf das bewußte Sopha zu und wühlt und kratzt emsig mit den Vordertatzen in den Polstern. Hier liegt nichts. Eine Idee scheint ihm zu kommen: vielleicht unter dem Kanapee? Mit Mühe zwängt er den dicken Schädel in den schmalen Spalt ... richtig, da liegt sie. Triumph, Triumph des Scharfsinns! Schnappend packt er die wohlbekannte Reitpeitsche seines Herrn mit den Zähnen; ein Blick stolzer Befriedigung ob des glücklich Vollbrachten streift die sich scheu in den Hintergrund drückenden Herrschaften; abermals ein tüchtiger Anlauf – und Türk stürmt, die Ohren einkneifend, durch das nächste verschlossene Fenster in’s Freie. Klirrend fallen links und rechts die zerbrochenen Glasscheiben zur Erde. Nur allmählich gewinnen die Herren von der Ananasbowle ihre Fassung wieder. –

Auf der nächsten Rechnung, die der ‚Löwe‘ dem Herrn Studiosus hochachtungsvollst überreichte, figurirte ein extraordinärer, dem Empfänger nicht sofort erklärlicher Posten von sechs Thalern fünfzehn Silbergroschen.

‚Ausgelegt für den Glaser,‘ lächelte Jean verständnißinnig.


*     *     *


Vergangenen Herbst, auf der Rückkehr aus dem Seebade, führte mein Weg mich über Kassel, das ich seit sechszehn Jahren nicht gesehen hatte. Natürlich suchte ich vor Allem den ‚Hessischen Löwen‘ auf. Zwar, das Gebäude selbst stand noch, aber es diente anderweiten Zwecken. Irgend eine Behörde, wenn ich nicht irre, war darin untergebracht. Verstimmt ließ ich mich in einer unweit gelegenen Weinstube nieder. Ich erkundigte mich nach dem Papa Lehnert.

‚Todt, lange todt!‘ hieß es.

Der ‚Hessische Löwe‘ zu Kassel gehört heute zu den verwehten Stätten deutscher Studentenlust. Wehmüthig ein „Sic transit“ recitirend, verließ ich noch selbigen Tags die ehemalige kurfürstliche Haupt- und Residenzstadt.“

„Und Türk?“

„O Madame, auch Türk ist längst todt und begraben. Er starb etwa ein Jahr nach der eben erzählten kleinen Begebenheit. Sein Ende war ein tragisches.“

„Sie erschrecken mich. Doch nicht Selbstmord?“

„Fürchten Sie Nichts, meine Gnädigste! Türk hat sich nicht so weit vergessen, Tatze an sich zu legen. Dazu besaß er zu viel Sittlichkeit des Charakters. Nichtsdestoweniger war sein Ende ein unnatürliches. Er fiel im Zweikampf.“

„Im Zweikampf?“

„Ja, Madame. Studentische Duelle, oder richtiger ausgedrückt, Mensuren waren damals bei uns an der Tagesordnung. Die Herren Corpshunde verfehlten nie, die edlen Waffenspiele durch ihre Gegenwart zu verherrlichen. Es war ein herbstlich-klarer Octobermorgen, und wieder einmal kreuzten sich die akademischen Klingen in heißem Kampf. Wir Blauen fochten mit Erbitterung auf Schläger und krumme Säbel gegen die verhaßten Schwarzen. Türk saß auf seinem gewöhnlichen Platz auf dem Fenstersims, bald auf die belebte Straße behäbig hinausblinzelnd, bald die Kampfspiele im Saale mit Kennermiene beobachtend. Schon waren drei ‚Suiten‘ mehr oder weniger blutig ausgefochten, und die Reihe kam an mich.

Silentium für einen Gang Schläger bis zur Abfuhr!‘

‚Bindet die Klingen!‘

‚Sind gebunden!‘

‚Los!‘

Hageldicht fallen die Hiebe. Schon ‚sitzen‘ hüben wie drüben ein paar ‚Blutige‘, als plötzlich die helle Stimme des gegnerischen Secundanten kurz und präcis durch den Saal schallt:

‚Halt!‘

‚Warum halt?‘

‚Klinge gesprungen!‘

In der That fehlt der Klinge meines Gegners die Spitze in der Länge von zwei bis drei Zoll. Man forscht nach dem abgesprungenen Stück. Es ist nirgends zu entdecken. Während eine frische Klinge eingezogen wird, wende ich von ungefähr den Blick nach dem Fenster. Ich bemerke, wie Türk von dem Sims langsam zur Erde niedergleitet. Wir eilen auf ihn zu, aber schon legt sich das mächtige Thier auf die Seite. Auf seiner breiten weißen Brust wird ein einziger rother Tropfen sichtbar. Einmal noch schaut der Engländer mir voll in’s Auge, wie um von mir Abschied zu nehmen; dann streckt er die Glieder – er ist todt. Die abgesprungene Klinge war ihm in’s Herz gedrungen. –

Ganz Göttingen beklagte Türk und sein jähes Ende. Ich selbst war nahezu untröstlich. Sein Begräbniß war einfach, aber würdig. Zwei gekreuzte Schlägen legten wir auf seinen Sarg.“


Blätter und Blüthen.


Vor der Charlottenburger Schloßwache. (Mit Abbildung S. 303.) Was „ein strammer Dienst“ für den ein-, zwei- oder dreijährigen Vaterlandsvertheidiger bedeutet, das weiß Jeder, der in dem ersten Militärstaate der Welt des Königs und Kaisers Rock getragen, das ahnt selbst, wer nur einmal einen verstaubten, müde schlendernden Zug Soldaten von halbtägiger Uebung heimkehren sah. Dafür pflegt auch nächtliche Schlaflosigkeit nicht eben dasjenige Uebel zu sein, an dem ein Soldat im Dienste häufig leidet; wie Hunger der beste Koch ist, so ist ihm Uebermüdung die beste Amme. Und wie behaglich, wenn ein Tag kommt, den er in leichtem Dienst oder in gänzlicher Freiheit bequem verdehnen oder sonst nach Herzenswunsch ausfüllen darf! Wer will es ihm verdenken, wenn er etwa mit einiger Schadenfreude weniger glückliche Cameraden, das Roß zwischen den Schenkeln oder mit dem „Kuhfuß“ nebst „Affen“ belastet, bei sich vorüberziehen sieht! Harmlos genug ist diese Schadenfreude, denn er weiß nur zu gut, daß er vielleicht anderen Tags schon die umgekehrte Rolle spielen dürfte.

Etwas von jenem Behagen empfindet sicher das vierblätterige Gardekürassier-Kleeblatt auf unserem Bilde, das seitab von der uniformenüberfüllten aufregenden Hauptstadt in dem idyllischen Charlottenburg zum Dienste in der Schloßwache commandirt ist. Hier wird selbst der „Dienst“ idyllisch, und in voller Gemüthlichkeit, auf das Erscheinen alarmirender Epauletten sichtlich sehr wenig vorbereitet, ergötzen die breiten behäbigen Gardereiter sich im kindlichen Spiele mit einem muthmaßlich alten Bekannten aus dem Hundegeschlechte, der, wie es scheint, zur Nachbarschaft gehört. Wohliger Schatten streckt sich kühlend von der Wache her über die Gesellschaft, während im Hintergrunde über den hier nie fehlenden Spaziergängern die Sonnengluth brütet. Das hübsche „militärische Idyll“ ist die Arbeit eines Schülers Paul Thumann’s, von dessen schönem Talente wir schon früher Gelegenheit hatten, unseren Lesern Proben zu bringen.


Der größte Meister der idealen Landschaft ist todt! Die deutsche Kunst hat abermals Trauer anzulegen, und Weimar warf einen neuen Hügel auf bei den Gräbern seiner großen Todten. Friedrich Preller, der Vater, ist am 23. April, zwei Tage vor seinem vierundsiebenzigsten Geburtstage, in der Stadt seines siebenundvierzigjährigen Wirkens, gestorben.

Die „Gartenlaube“ hat dem Künstler das verdiente Denkmal schon im Leben gesetzt, als sie die Vollendung seines berühmtesten Werkes feierte, in dessen Aufbewahrung Leipzig und Weimar sich theilen: der „Odyssee-Landschaften“, die, in Wachsfarben auf Drahtgitterrahmen ausgeführt, das neue Museum in Weimar schmücken, während die sechszehn Cartons derselben zu den werthvollsten Zierden des städtischen Museums in Leipzig gehören. Vierzehn Jahre sind verflossen, seitdem wir diesen „Zögling Karl August’s“ in Bild und Wort unseren Lesern vorstellten, aber die Würdigung des „ersten deutschen Malers der historischen Landschaft“ war eine so vollständige, daß wir sie noch heute als ein Ehrenblatt auf das Grab des Meisters niederlegen können. Zu einer nochmaligen Besprechung dieses Musterwerkes der von dem großen Josef Anton Koch in Rom wiedererweckten idealen Richtung der Landschaftsmalerei veranlaßte uns das Erscheinen der A. Dürr’schen Prachtausgabe der Odyssee mit Preller’s Illustrationen in dem Artikel „Altgriechische Poesie in deutscher Kunst“.

Mit diesen Hinweisungen auf die Jahrgänge 1864 und 1871 der „Gartenlaube“ schließen wir uns der Trauer um den Todten und dem Preise seines Namens an, den Wunsch hinzufügend, daß es seinem Sohne, Friedrich Preller dem Jüngeren, gelingen möge, die hohe Stelle in der Kunst auszufüllen, die sein Vater verlassen hat.



Vermißt! Zum Sängerfeste nach Regensburg zog am 10. August des vorigen Jahres von Nürnberg auch der junge Conrad Maisch mit aus, ein Goldarbeiter, damals siebenzehneinhalb Jahre alt. Er wird als ein schlanker, aber kräftiger Bursche geschildert, mit dunkelbraunem Haare, ovalem Gesichte und braunen Augen. Er trug einen schwarzen Rock, dunkle Hosen und Weste, Strohhut mit Flor, am kleinen Finger einen goldenen Ring. Der junge Mensch ist bis heute von jener Sängerfestfahrt nicht zurückgekehrt; die arme Mutter, eine Wittwe, die eben erst ihren ältesten Sohn, im Alter von dreiundzwanzig Jahren, zu Grabe geleiten mußte, lebt in banger Sorge um das Leben dieses zweiten Sohnes. Polizeiliche Nachforschungen sind bis jetzt erfolglos gewesen. Wir bitten unsere Leser an jenen Donaugestaden, der unglücklichen Mutter zu gedenken und uns von etwa auftauchenden Spuren des jungen Maisch schleunigst Mittheilung zu machen.


Beispiel zur Nachahmung. Unser Artikel über das „Germanische Nationalmuseum“ in Nürnberg (Jahrgang 1877, Seite 654.) hat einen Kreis unserer Leser zu San Jose in der Republik Costa-Rica zu dem Entschlusse bewogen, dieser patriotischen Gründung des alten Aufseß auf fünf Jahre eine jährliche Beisteuer von hundertfünfundzwanzig Mark zuzusichern. Die erste Sendung ist bereits eingetroffen und veranlaßt uns, den braven Landsleuten in Centralamerika unsern Dank und Gruß dafür zuzurufen.



Kleiner Briefkasten.

A. M. in Sch. Der kürzeste Seeweg von Deutschland nach dem skandinavischen Norden führt von Rostock nach Nykjöbing auf Falster. Das äußerst bequem eingerichtete Schraubendampfschiff „Rostock“ macht die angedeutete Tour bis zum 3. Juni wöchentlich dreimal, von da ab bis 31. August täglich, mit Ausnahme der Sonntage. Es werden durchgehende Billets von Berlin, Hamburg und Rostock nach Kopenhagen und zurück ausgegeben. Die Linie Rostock-Nykjöping ist für das reisende Publicum jedem anderen Communicationswege nach dem Norden aus Gründen der Bequemlichkeit, wie der Oekonomie ohne Frage vorzuziehen.


Verantwortlicher Redacteur Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 306. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_306.jpg&oldid=- (Version vom 19.4.2023)