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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

schlugen; er beugte sich weit aus dem Wagen und sah scharf nach jener Richtung; dann warf er einen schnellen, unruhigen Blick auf seine Begleiterin.

„Das kommt ungelegen,“ sagte er halblaut. „Ich hätte besser gethan, Dich bei Deiner Mutter zu lassen.“

„Was giebt es dort? Eine Gefahr?“ fragte Gabriele erbleichend; sie erinnerte sich der Aeußerungen des Oberst Wilten über die Rücksichtslosigkeit, mit welcher der Gouverneur sich und seine Sicherheit bei solchen Gelegenheiten auf’s Spiel zu setzen pflegte. Raven sah ihr Erschrecken, schrieb es aber nur ihrer eigenen Angst zu.

„Es scheint Lärm vor dem Stadtgefängnisse zu geben,“ erwiderte er. „Ich setzte allen Anzeichen nach voraus, daß es heute ruhig bleiben werde, sonst wäre ich nicht fortgefahren, aber sei unbesorgt, Du sollst nicht in Gefahr kommen. Ich muß Dich freilich verlassen –“

„Um Gotteswillen nicht!“ rief Gabriele. „Wohin willst Du?“

„Wohin meine Pflicht mich ruft – nach dem Schauplatze der Unruhen.“

„Und ich?“

„Du kehrst allein noch Hause zurück. Dich wird Niemand behelligen. Halt an, Joseph!“

Der Kutscher gehorchte; er zog die Zügel an, und der Freiherr erhob sich von seinem Sitze.

„Joseph, Du fährst Fräulein von Harder sofort und so schnell wie möglich nach dem Schlosse. Es hat keine Gefahr; die Schloßstraße ist vollkommen sicher.“

Er öffnete den Wagenschlag, aber das junge Mädchen hielt wie in Todesangst seinen Arm umklammert.

„Laß mich nicht allein! Nimm mich wenigstens mit Dir.“

„Thorheit!“ sagte Raven, mit Entschiedenheit seinen Arm frei machend. „Du fährst nach dem Schlosse. Ich komme nach, sobald der Lärm vorüber ist.“

Er war ausgestiegen und wollte die Wagenthür schließen, aber in dem gleichen Augenblick sprang Gabriele mit einer raschen Bewegung hinaus und stand an seiner Seite.

„Gabriele!“ rief der Freiherr – es war ein Ausruf halb des Schreckens und halb des Unwillens; doch das junge Mädchen schmiegte sich nur fester an seine Seite.

„Ich lasse Dich nicht allein in der Gefahr, und ich fürchte nichts, gar nichts, wenn Du bei mir bist. Laß uns zusammen gehen!“

Raven’s Auge flammte auf, wie vorhin im Wagen, aber diesmal war es ein Blitz des Entzückens, des leidenschaftlichen Triumphes.

„Du kannst mich nicht begleiten,“ sagte er; es war wieder jener seltsam verschleierte Ton, den Gabriele nur einmal von seinen Lippen gehört hatte – damals am Nixenbrunnen. „Du begreifst es doch, daß ich Dich nicht mitnehmen kann in jenes wüste Toben, wo mir jede Möglichkeit fehlt, Dich zu schützen. Es ist ja nicht das erste Mal, daß ich solchen Scenen entgegentrete; ich weiß, wie man die Menge zügelt, aber mir würde die gewohnte Energie versagen, wüßte ich Dich nicht in voller Sicherheit. Versprich mir, ruhig nach Hause zurückzukehren und mich dort zu erwarten! Ich bitte Dich, Gabriele – Du wirst mir meine Pflicht nicht schwer machen wollen.“

Er umfaßte sie und hob sie wieder in den Wagen; Gabriele ließ es widerstandslos geschehen; sie wußte ja selbst, daß sich eine Frau nicht in jenes rohe Gewühl wagen konnte und durfte. Es war nur die Todesangst, die ihr den Gedanken eingegeben hatte, und diese Angst sprach jetzt so deutlich aus ihren Zügen, daß auch Raven’s Festigkeit wankte. Er fühlte, daß er sich eilig losreißen müsse, wollte er nicht der stummen Bitte dieser Augen erliegen.

„Ich muß fort,“ sagte er hastig. „Leb’ wohl, auf Wiedersehen!“

Er warf den Schlag zu und gab dem Kutscher ein Zeichen zum Weiterfahren. Gabriele sah noch, wie die hohe Gestalt sich umwandte und mit raschen, festen Schritten die Richtung nach dem Platze einschlug. Dann zogen die Pferde an, und der Wagen flog mit verdoppelter Eile dem Schlosse zu.




Mehr als eine Stunde war vergangen, und noch immer war der Gouverneur nicht zurückgekehrt. Man fing im Schlosse an, wegen seines Ausbleibens besorgt zu werden, denn der Kutscher, der allein mit Baroneß Harder zurückgekehrt war, hatte berichtet, daß sein Herr sich auf dem Schauplatz der Unruhen befinde. Man wußte allerdings im Regierungsgebäude von den letzteren, hatte aber noch keine näheren Nachrichten darüber, denn die Dienerschaft hatte ein für alle Mal Befehl, das Schloß bei solchen Gelegenheiten nicht zu verlassen, und von den Beamten, die dort wohnten, wagte sich Niemand in den immerhin gefährlichen Tumult. Nur Hofrath Moser, der sich zufällig in der Stadt befand, schien dort festgehalten zu werden. Auch er war noch nicht zurückgekehrt und wartete wahrscheinlich auf die Wiederherstellung der Ruhe, um die Straßen ungefährdet zu passiren.

Das Arbeitszimmer des Freiherrn war bereits erleuchtet. Die von der Decke herabhängende Lampe goß ihr helles Licht über das ganze Gemach aus, das selbst jetzt seinen ernsten, düsteren Charakter nicht verlor. Nur die tiefe Nische des Bogenfensters lag im vollen Schatten, und dort, halb verborgen hinter den schweren Vorhängen, stand Gabriele. Es litt sie heute nicht in der Wohnung ihrer Mutter, die nach der andern Seite hinauslag; sie hatte das Arbeitszimmer ihres Vormundes aufgesucht, das sie sonst nie ohne besondere Veranlassung betrat, denn es bot den vollen Ueberblick über die Stadt. Die hereinbrechende Dunkelheit setzte freilich bald jeder Beobachtung ein Ziel; das Schloß lag überhaupt viel zu weit vom Mittelpunkte der Stadt entfernt, als daß man irgend etwas, was dort vorging, hier hätte bemerken können, aber man übersah vom Fenster aus doch wenigstens den erleuchteten Weg, der auf den Schloßberg führte; man gewahrte jeden Kommenden schon in der Entfernung, und darum wich das junge Mädchen nicht von diesem Platze.

Es war freilich nicht mehr die frühere Gabriele Harder, die da so stumm und bleich mit krampfhaft verschlungenen Händen am Fenster lehnte und hinausblickte, als könne und müsse ihr Auge die Dunkelheit durchdringen. Dieses angst- und verzweiflungsvolle Harren vollendete, was die letzten Wochen begonnen hatten, das Erwachen aus dem Kindestraume, mit dem das junge Mädchen so lange sich und Andere getäuscht hatte. In ihr und um sie her war ja Alles Sonnenschein gewesen bis zu dem Momente, wo ein einziger Blick ihr die Tiefe einer bis dahin ungeahnten Leidenschaft enthüllte. Da war der erste Schatten auf ihren Weg gefallen, der nicht wieder weichen wollte. Die „Schmetterlingsnatur“, die einst spielend an Allem vorüberflatterte, was Leib und Kummer hieß, verschwand, als der Sonnenschein aus ihrem Leben wich, und was sich unter dem Bann jenes Blickes emporrang, das war ein heiß und leidenschaftlich empfindendes junges Wesen, dem sein Antheil am Kampf und Schmerz auch nicht erspart blieb. Jetzt, wo Gabriele zum ersten Male um ein Leben zitterte, das sie bedroht wußte, fühlte sie auch, was dieses Leben ihr war. Es war umsonst, sich noch länger darüber zu täuschen.

Auch die zweite Stunde war schon zur Hälfte verflossen, und noch immer traf weder der Gouverneur selbst, noch irgend eine Nachricht von ihm ein. Gabriele hatte das Fester geöffnet, in der Hoffnung, den Wagen zu hören, der den Erwarteten bringen mußte, aber der Weg lag einsam und öde da, und die Flamme der Laternen flackerten in dem immer heftiger werdenden Winde unruhig auf und nieder.

Da endlich ließ sich der ersehnte Laut vernehmen, zwar kein Rädergerassel, aber Stimmen und Fußtritte mehrerer Personen, die jetzt auch aus der Dunkelheit auftauchten. Sie kamen näher, die Stimmen wurden deutlicher, und ein halb unterdrückter Aufschrei der Freude entrang sich Gabrielens Lippen; sie hatte die Gestalt Raven’s erkannt, der in Begleitung mehrerer Herren zu Fuß den Weg heraufkam und wenige Minuten später in den hellen Lichtkreis des Portals trat.

„Ich danke Ihnen, meine Herren,“ sagte er, stehen bleibend. „Sie sehen, es war unnöthig, daß Sie mir Ihre Begleitung aufdrangen; wir sind auf dem ganzen Rückwege nicht belästigt worden. Ich sagte es Ihnen ja, der Tumult ist vollständig vorüber – für heute.“

„Ja, Excellenz allein haben ihn durch Ihr rechtzeitiges Erscheinen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 341. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_341.jpg&oldid=- (Version vom 5.8.2016)