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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

sobald wie möglich in ihr Schlafzimmer zurück, um die ungestörteste Ruhe zu genießen, zur großen Erleichterung ihrer Tochter, die sich nun wieder selber überlassen blieb.

Gabriele hatte es wirklich kaum vermocht, ihre Aufregung und Unruhe vor der Mutter zu verbergen. Der Freiherr war heute vollständig unsichtbar für sie geblieben und hatte sich sogar beim Frühstück entschuldigen lassen. Sie wußte freilich, daß er in Folge der gestrigen Ereignisse vom frühen Morgen an von allen Seiten in Anspruch genommen war, daß sich die Meldungen, Audienzen und Conferenzen in seinem Arbeitszimmer drängten, aber sie wußte auch, daß er trotz alledem Zeit finden würde, Zeit finden mußte, um zu ihr zu kommen, wenn auch nur auf Minuten. „Bis morgen!“ Das Wort mit seiner leidenschaftlichen Zärtlichkeit klang noch in ihrer Seele wieder. Der Morgen, der Vormittag waren gekommen und gegangen – Raven kam nicht, sandte auch kein Wort, keine Zeile, und es lag wie Bergeslast auf der Brust des jungen Mädchens. Was war geschehen?

Es war inzwischen Mittag geworden. Gabriele befand sich allein in dem kleinen Salon ihrer Mutter – da endlich vernahm sie im Vorzimmer den raschen festen Schritt, den sie heute wohl schon hundertmal zu hören geglaubt hatte. Sie athmete tief; sie lauschte dem Kommenden entgegen, und ihre eben noch so bleichen Wangen erglühten plötzlich in dunkler Röthe. Angst, Sorge, Unruhe, das Alles war vergessen in dem Augenblicke, wo die Thür sich öffnete und der Freiherr eintrat.

„Ich habe mit Dir zu sprechen,“ begann er ohne jede Einleitung. „Sind wir allein?“

Gabriele machte eine bejahende Bewegung; sie hatte ihm entgegen eilen wollen, hielt aber inne, betroffen von dem Tone, der so fremd und rauh ihr Ohr berührte. Sie gewahrte jetzt erst die seltsame Veränderung in den Zügen des Eintretenden. Das war nicht der Arno Raven mehr, der sie gestern in den Armen gehalten und ihr eine Leideschaft bekannt hatte, die das ganze Wesen des strengen kalten Mannes in Gluth und Zärtlichkeit umzuwandeln schien. Heute stand er finster, eisig vor ihr. Die Lippen, denen jene heiße Liebesworte entströmten, waren fest zusammengepreßt; in dem starren düsteren Antlitz zeigte sich keine Spur mehr von dem, was sich gestern darin geregt hatte, und die Augen flammten drohend und unheilvoll dem jungen Mädchen entgegen.

„Du hast mich vielleicht früher erwartet,“ nahm der Freiherr wieder das Wort. „Ich bedurfte einiger Zeit, um mich mit gewissen – Neuigkeiten vertraut zu machen, und zu unserer heutigen Unterredung kommen wir immer noch früh genug. Es ist wohl überflüssig, Dir zu erklären, was ich meine, denn wenn Du auch sonst mit meinen Amtsangelegenheiten nicht vertraut bist, diesmal weißt Du vermuthlich so gut wie ich, um was es sich handelt.“

„Ich? Nein,“ sagte Gabriele mit stockendem Athem. „Was soll ich wissen?“

„Willst Du es etwa leugnen? Doch davon sprechen wir später; vor allen Dingen möchte ich Dich fragen, was Dich veranlaßt hat, eine so erbärmliche Komödie mit mir zu spielen, in der mir die lächerliche Rolle zuertheilt wurde. Aber nimm Dich in Acht, Gabriele! Ich sagte es Dir schon gestern – ich habe wenig Talent für eine solche Rolle. Ein Mann, der sich verhöhnt und verrathen sieht, bleibt nur lächerlich, so lange er es geduldig erträgt. Ich bin nicht gesonnen, das zu thun. Das Spiel, das Du mit mir getrieben, kann verhängnißvoll werden für Dich und noch für einen Anderen.“

„Aber was meinst Du denn? Ich verstehe Dich nicht,“ rief das junge Mädchen, dessen Angst sich bei diesen räthselhaften Andeutungen von Minute zu Minute steigerte. Raven trat dicht vor sie hin, und sein Blick heftete sich durchbohrend auf ihr Antlitz.

„Was sollen die Warnungen bedeuten, die Du mir gestern während der Fahrt zuflüstertest? Woher wußtest Du überhaupt, daß mich irgend etwas bedrohte, und weshalb schrakst Du so zusammen und wurdest todtenbleich, als der Courier aus der Residenz gemeldet wurde? Sprich! Ich will Antwort haben auf der Stelle.“

Gabriele hörte mit wachsender Bestürzung zu; sie begann zu ahnen, was diese Fragen bedeuteten, aber der Zusammenhang blieb ihr noch völlig dunkel. Raven mußte es wohl sehen, daß sie ihn nicht verstand, denn er zog eine Broschüre aus seiner Brusttasche und warf sie auf den Tisch.

„Sollte diese Schrift hier nicht Deinem Gedächtniß zu Hülfe kommen? Der schmählichste, unerhörteste Angriff, der je gegen mich geschleudert wurde! Du hast ihn vermuthlich nur im Entwurfe gelesen; vollendet wurde er wohl erst in der Residenz, im Ministerium. So sieh mich doch nicht an, als ob ich in einer fremden Sprache redete! Oder kennst Du den Namen nicht, der da auf dem Blatte steht?“

Gabriele hatte mechanisch die Broschüre in die Hand genommen; ihr Auge fiel auf das bezeichnete Blatt, auf den Namen, der dort stand, sie zuckte zusammen.

„Von Georg? Er hat also Wort gehalten.“

„Wort gehalten!“ wiederholte Raven mit bitterem Auflachen. „Er gab Dir also sein Wort darauf? Du warst seine Vertraute, warst im Einverständniß mit ihm? Freilich, wie konnte ich denn auch noch zweifeln! Es war ja sonnenklar vom ersten Momente an.“

Das junge Mädchen war zu verwirrt und betäubt, um sich mit Nachdruck zu vertheidigen. Der unglückselige Ausruf, der ihr entfuhr, mußte den Freiherrn nur in dem Verdachte bestärken, daß sie Mitwisserin sei.

„Ich ahnte irgend ein Unheil,“ entgegnete sie, ihren ganzen Muth zusammenraffend, „aber ich wußte nichts Bestimmtes. Ich glaubte –“

Raven ließ sie nicht ausreden; seine Hand umschloß die ihrige krampfhaft.

„Hattest Du wirklich keine Ahnung davon, daß irgend etwas gegen mich im Werke war? Waren Deine gestrigen Andeutungen ganz zufällig und absichtslos? Dachtest Du, als uns die Nachrichten aus der Residenz so plötzlich aufschreckten, mit keiner Silbe daran, daß man ‚Wort gehalten haben könnte‘? Sieh mir in’s Auge und sage Nein – so will ich versuchen, Dir zu glauben.“

Gabriele schwieg; sie konnte darauf nicht mit Nein antworten, und der Gedanke, daß sie ja in der That wenigstens um die Absicht Georg’s gewußt, raubte ihr die Fassung. Die wenigen Worte, die Georg beim Abschiede zu ihr gesprochen, wurden verhängnißvoll für diese Stunde; sie drückte das junge Mädchen wie eine schwere Schuld zu Boden.

Raven’s Auge war nicht von ihrem Antlitz gewichen. Jetzt lösten sich seine Finger langsam von den ihrigen; er ließ ihre Hand fallen und trat zurück.

„Du wußtest es also,“ sagte er. „Und mit diesem Bewußtsein hast Du neben mir gestanden und ruhig zugesehen, wie ich mit einer unsinnigen Leidenschaft rang, wie ich ihr schließlich unterlag. Du ließest mich an eine Erwiderung meiner Gefühle glauben und stacheltest mich damit bis zum Wahnsinn, während Du heimlich die Tage und Stunden zähltest, bis zu dem Zeitpunkte, wo ein Deiner Meinung nach tödtlicher Schlag mich treffen mußte. Mit dieser Gewißheit lagst Du gestern in meinen Armen und hörtest mein Geständniß. Beim Himmel, das ist zu viel – zu viel.“

Seine Stimme klang noch dumpf und verhalten, aber es verrieth sich schon der nahende Ausbruch darin. Gabriele fühlte es, wie machtlos sie diese Anklage gegenüberstand; dennoch machte sie einen Versuch, sich dagegen zu erheben.

„Höre mich, Arno! Du bist im Irrthum; ich habe Dich nicht getäuscht, nicht verrathen. Wenn ich etwas wußte –“

„Schweig’!“ unterbrach er sie mit furchtbar ausbrechender Heftigkeit. „Ich will nichts hören; ich weiß genug. Dein Verstummen vorhin sprach deutlicher als alle Worte. Rechtfertige Dich bei ihm, bei Deinem ‚Georg‘, daß Du es nicht vermochtest, sein Geheimniß bis zum letzten Augenblicke zu bewahren! Vielleicht verzeiht er Dir. Die Warnung wäre ja doch zu spät gekommen. Ihm freilich habe ich Unrecht gethan als ich ihn für einen Alltagsmenschen erklärte. Er versteht es, aus dem gewöhnlichen Geleise zu treten und Dinge zu unternehmen, die vor ihm Niemand gewagt hat und nach ihm so leicht Keiner wagen wird. Vielleicht macht er Carrière damit, der Herr Assessor, den gestern noch Niemand kannte und dessen Name morgen in Aller Munde sein wird, weil er die Kühnheit besaß, mich anzugreifen. Aber er wird sie theuer bezahlen – ich gebe Dir mein Wort darauf. Noch habe ich keinen Kampf und keinen Gegner

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 372. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_372.jpg&oldid=- (Version vom 5.8.2016)