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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

daß an jenem Abende, als die Verwundeten in das Schloß gebracht wurden, auch Fräulein Moser sich an den Hülfeleistungen betheiligte, und kam ihr auf das Bereitwilligste entgegen, als sie den Vorschlag machte, den am schwersten Verletzten, den Doctor Brunnow, in die Wohnung ihres Vaters zu bringen, wo sie ihn selbst pflegen werde. Der Gouverneur hatte befohlen, auf’s Beste für die Verwundeten zu sorgen, besonders für den jungen Arzt, dem die Ausübung seiner Pflicht beinahe das Leben gekostet hatte; einer besseren Pflege aber konnte man diesen gar nicht anvertrauen. Er mußte seines bedenklichen Zustandes wegen vorläufig im Schlosse bleiben, während die beiden Sicherheitsbeamten, die leichtere Wunden davongetragen hatten, am nächsten Tage nach der Stadt gebracht werden konnten. Der Haushofmeister war sehr erfreut, den Befehlen seines Herrn so pünktlich nachkommen zu können; er unterstützte das Fräulein nach Kräften in ihrem von der christlichen Barmherzigkeit eingegebenen Vorhaben und hatte die Genugthuung, zu sehen, daß der Freiherr, dem er diese Wendung der Sache meldete, außerordentlich zufrieden damit war.

Um so weniger zufrieden aber war der Hofrath. Er gerieth förmlich außer sich, als er bei der Rückkehr diesen „staatsgefährlichen“ Patienten in seiner Wohnung fand, und verlangte entschieden die Entfernung desselben, stieß aber hier auf einen ebenso entschiedenen Widerstand. Die sanfte, stille Agnes zeigte zum ersten Male in ihrem Leben Festigkeit und Energie, als sie sich weigerte, dem Vater zu gehorchen, und da sich auch die resolute Frau Christine auf die Seite ihres Fräuleins schlug, so wurde Moser überstimmt. Man machte ihm begreiflich, daß man den Schwerkranken nicht wieder fortschaffen könnte, ohne sein Leben zu gefährden und sich geradezu zu seinem Mörder zu machen. Der Hofrath sah das schließlich ein, aber es minderte nicht seine Verzweiflung; er lief gleich am nächsten Morgen zu seinem Chef, um ihm die Schreckenskunde zu überbringen und sich feierlichst gegen jede Mitschuld zu verwahren, aber er erhielt statt des gehofften Machtwortes, das ihn von dem aufgedrungenen Gaste befreien sollte, den Rath, sich dem eigenmächtigen Verfahren seiner Tochter zu fügen, das der Freiherr im höchsten Grade zu billigen schien. Doch er verhieß, dafür zu sorgen, daß der Vorfall zu keinem Zweifel an der Loyalität des Hofrathes Veranlassung gebe, und erklärte sogar, seinen eigenen Hausarzt senden zu wollen. Man sei durchaus verpflichtet, sich des jungen Arztes anzunehmen, der sich so aufopfernd bewiesen habe. Dieser Autorität fügte sich der Hofrath denn endlich, aber es geschah mit schwerem Herzen. Er konnte es seiner Tochter nicht verzeihen, daß sie die Barmherzigkeit gegen ihre leidenden Mitmenschen so in’s Extrem trieb, und wenn er auch an der vollendeten Thatsache nichts ändern konnte, so betrachtete er sie doch täglich mit neuem Entsetzen und neuer Entrüstung. –

Es war am dritten Tage nach der Verwundung Max Brunnow’s. Der Arzt, welcher ihn behandelte, hatte soeben die Moser’sche Wohnung betreten. Es war ein kleiner schmächtiger Herr mit hellblondem Haar, milden Augen und einer sehr sanften Stimme; er sprach mit dem Hofrath, der sich eben in seine Kanzlei begeben wollte.

„Nein, Herr Hofrath, ich habe wenig oder eigentlich gar keine Hoffnung mehr, den Patienten zu retten. Es steht schlecht mit ihm, sehr schlecht; wir müssen auf das Schlimmste gefaßt sein.“

„Sie haben ihn heute noch nicht gesehen,“ sagte der Hofrath. „Meine Tochter sagte mir, er habe die ganze Nacht ruhig geschlafen.“

Der kleine Herr zuckte die Achseln. „Das ist Schwäche, Betäubung. Der Blutverlust war sehr stark, und nach diesem heftigen Wundfieber mußte nothgedrungen eine um so größere Erschöpfung eintreten. Ich sage Ihnen, es ist vorbei – ganz vorbei!“

„Das thut mir leid,“ entgegnete der Hofrath. Im Angesichte des Todes wich denn doch sein Groll und machte dem Mitleid Platz. „Und auch meiner Tochter wird es leid thun. Sie hat sich mit so großem Eifer der Pflege angenommen und ist fast nicht von dem Krankenbette gewichen. Ich fürchte, Agnes überanstrengt sich dabei, denn ich habe sie noch nie so blaß gesehen wie jetzt. Heute Morgen mußte ich sie beinahe zwingen, einige Stunden zu ruhen, nachdem sie die ganze Nacht gewacht hatte.“

„Ja, Fräulein Moser widmet sich mit einer wahren Leidenschaft der Krankenpflege,“ meinte der Arzt bewundernd. „Sie bringt eine unendliche Hingebung für ihren künftigen Beruf mit und wird sehr segensreich darin wirken. Hier freilich wird ihre Thätigkeit bald zu Ende sein. Ich fürchte, die Stunden des Armen sind gezählt; er wird kaum den Abend erleben.“

Er schüttelte melancholisch den Kopf und verabschiedete sich, um zu dem Kranken zu gehen. Der Hofrath blieb zurück, gleichfalls sehr melancholisch, aber aus anderen Gründen. Das fehlte noch. Nun gar ein Todesfall im Hause, nachdem man zwei Tage lang all die Angst und Sorge durchgemacht hatte! Und wie schrecklich, wenn in den Zeitungen zu lesen stand: „Der Sohn des aus der Revolutionszeit hinreichend bekannten Doctor Brunnow ist in R. im Hause des Hofrath Moser gestorben, nachdem er bei einem Straßenauflauf schwer verwundet worden war.“ Diese rücksichtslosen Zeitungen pflegten solche Nachrichten ja immer nur ganz kurz und trocken zu bringen, ohne Erklärungen und Auseinandersetzungen. Der Hofrath sandte einen anklagenden Blick zum Himmel. Er, der pflichttreueste, gewissenhafteste Beamte, mußte einem solchen Schicksal verfallen; er senkte den Kopf tief auf die weiße Halsbinde nieder, als er endlich den Weg nach seiner Kanzlei antrat.

Der Arzt hatte sich inzwischen in das Krankenzimmer begeben. Er trat sehr leise, sehr vorsichtig ein, wie man das bei Sterbenden zu thun pflegt. Frau Christine, die auf kurze Zeit ihr Fräulein in der Pflege abgelöst hatte, saß am Bette. Der Doctor tauschte flüsternd einige Worte mit ihr aus und sandte sie dann fort, um neue Compressen zu holen. Er selbst trat an das Bett und beugte sich über den Kranken, der jetzt erwachte und, wie es schien, mit voller Besinnung die Augen aufschlug.

„Wie befinden Sie sich?“ fragte der kleine Arzt in sehr sanftem Tone den Patienten.

„Ich danke, ganz leidlich,“ erwiderte dieser, dessen Augen irgend etwas zu suchen schienen. „Was ist denn eigentlich mit mir vorgegangen?“

„Sie sind sehr schwer verwundet, aber beruhigen Sie sich! Ich werde mein Möglichstes thun. Sie sind in den besten Händen.“

Max, dessen Blick mittlerweile das ganze Zimmer durchforscht hatte, ohne zu finden, was er suchte, begann jetzt den Redenden zu mustern.

„Vermuthlich ein Herr College?“ sagte er. „Mit wem habe ich denn die Ehre –?“

„Mein Name ist Berndt,“ versetzte der Herr College. „Seine Excellenz der Gouverneur, der große Theilnahme bei Ihrer Verwundung zeigte, wollte Ihnen seinen eigenen Hausarzt senden. Der Herr Medicinalrath ist aber leider erkrankt, und so habe ich, sein Assistent, die Behandlung übernommen. – Aber Sie dürfen nicht reden, sich überhaupt nicht regen. Beantworten Sie meine Fragen durch Zeichen, wenn Ihnen das Sprechen schwer fällt! Sie sind so unendlich matt und angegriffen und bedürfen der äußersten –“

Er hielt erschrocken inne, denn der dem Tode Geweihte richtete sich urplötzlich mit einem kräftigen Rucke empor und setzte sich aufrecht, während er mit einer nichts weniger als matten Stimme fragte:

„Wo ist denn meine Pflegerin geblieben? Sie war doch sonst immer an meiner Seite.“

„Fräulein Moser, meinen Sie? Sie ruht ein wenig, nachdem sie die ganze Nacht an Ihrem Krankenbette gewacht hat. Sie haben eine sehr aufopfernde Pflegerin gefunden; das Fräulein ist ein Engel der Barmherzigkeit.“

„Barmherzigkeit?“ wiederholte Max in gedehntem Tone. „Ja freilich, die intime Bekanntschaft mit den Pflastersteinen Ihrer liebenswürdigen Stadt hat mich auf die Barmherzigkeit der Menschen angewiesen. Es ist eine ganz verwünschte Benutzung des Straßenpflasters, wenn man es den Leuten an die Köpfe wirft.“

„Regen Sie sich nicht auf, bester Herr College!“ bat Doctor Berndt sanft. „Nur ja keine Aufregung! Nur Ruhe, Stille, Schonung! Aber da Sie doch wieder bei klarer Besinnung sind, möchte ich fragen, ob Sie noch irgend einen Wunsch, irgend ein Verlangen haben.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 388. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_388.jpg&oldid=- (Version vom 5.8.2016)