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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

der Kaiser und Könige. Schon die Stätte selber wurde bald durch ihr sichtliches Aufblühen ein Gegenstand lebhafter Bewunderung. Durch die Verwaltung seiner ungefähr eine Quadratmeile umfassenden, bis dahin vernachlässigten Güter fand der neue Besitzer Gelegenheit, seine rationellen wirthschaftlichen Ansichten und philanthropischen Grundsätze sich bewähren zu lassen. Ferney, das er als einen kleinen und verfallenen Flecken überkommen hatte, wurde durch Hereinziehung von Industrie, namentlich der Uhrmacherei, binnen Kurzem ein bevölkertes, rührig-betriebsames und wohlhabendes Städtchen. Seine Bauern vergötterten ihn, da ihnen seine Sorge um ihr Wohl bald sich fühlbar machte. In der Oekonomie kümmerte er sich eifrig um alle Einzelnheiten jedes Zweiges, arbeitete selbst in Feld und Garten und betrieb Ackerbau, Gartenbau, Weinbau und Pferdezucht mit Geschick und steigendem Erfolg, sodaß sich der regelmäßige Jahresertrag der Güter auf hundertdreißigtausend Franken belief. Dieses für die damalige Zeit außerordentlich bedeutende Einkommen wurde von ihm auch verbraucht, zu allen jenen idealen Zwecke verwendet, die Ferney in der Geschichte des 18. Jahrhunderts zu einem so einzigen Punkt gemacht.

Neben einer großen Bibliothek, den Park- und Gartenanlagen und sonstigen eleganten Einrichtungen im Zeitgeschmacke, durfte natürlich auch in Ferney wiederum die kostspielige Herstellung und Unterhaltung eines wohlausgestatteten Haustheaters nicht fehlen, auf dessen Brettern der Schloßherr selber noch zuweilen eine Rolle ausführte, oft aber auch die gefeiertsten Darsteller aus Paris einem geladenen Publicum sich präsentirten. Mit Paris hatte er auch früher stets die lebhafteste Beziehungen unterhalten, in Ferney aber stellte neben den schriftlichen Mittheilungen auch die Personen sich ein, wie es überhaupt im Schlosse nicht leer wurde von Besuchen hervorragender und berühmter Leute verschiedenster Art und Nationalität. Nicht mit Unrecht nannte sich damals Voltaire scherzhaft in Briefen den „Hotelier von Europa“. Zuweilen stieg die Zahl der männlichen und weiblichen Fremden auf beinahe fünfzig. Durch alle diese Beweglichkeit an seiner Nähe aber ließ sich der greise Hausherr nicht zu einem müßigen Genußleben verlocken. Nur am Abend erschien er als liebenswürdiger Wirth unter seinen Gästen und gab sich allen Reizen einer geistvollen Geselligkeit hin, die Tage jedoch verlebte er einsam in seinem Arbeitszimmer, sie gehörten seinen Studien, seinen schriftstellerischen Arbeiten, dem angestrengten Kampfe für seine Ideen. Unsere bereits gegebene Charakteristik seiner gesammten Wirksamkeit bezieht sich auch auf die Leistungen dieser Periode. Dieselbe zeigt aber in dem oben von uns schon erwähnten Aufschwung ein so verstärktes und gesteigertes Hervortreten der Absichten und Zwecke, daß ihrer doch noch besonders gedacht werden muß. Was der Jüngling und Mann Voltaire immerhin nur schüchtern und verschleiert gegen die Mißbräuche und Verbrechen der herrschenden Willkürgewalten zu Tage gefördert hatte, das wurde ihnen jetzt von dem berühmten „Patriarchen von Ferney“ fort und fort als unumwundene Forderung, als unzweideutige Anklage und offene Kriegserklärung vor den Augen der Welt in’s Antlitz geschleudert.

Wer diese Arbeiten und Werke seines hohen Alters unbefangen ansieht, in denen er meistens seine Religion der Humanität mit einschneidendster Rücksichtslosigkeit gegen den kirchlichen Wunderglauben, gegen den Glauben an eine göttliche Abfassung und Autorität der biblische Bücher und namentlich wider den tyrannischen Hochmuth der Priesterherrschaft vertheidigt hat, der wird erkennen, daß sie nicht blos Producte eines für jene Zeit außerordentlichen Wissens, sondern auch einer gewaltigen Energie innerster Ueberzeugung und sittlichen Wollens sind. Je älter er wurde, desto heißer loderte aus seinen Ueberzeugungen in dieser Hinsicht die Gluth eines Zornes empor, der den bündigsten und deutlichsten Ausdruck in jenem Écrasons l’infâme gefunden hatte, das er als Wahrspruch und Schlachtruf in den entbrannte, aber doch erst zaghaft beginnenden Kampf des Jahrhunderts warf. Diese oft von ihm gebrauchte Parole ist von seinen Gegnern vielfach zu seiner Anschwärzung benutzt worden, und es gehört in der That zu ihrer richtigen Deutung eine genauere Kenntniß seines Standpunktes. Karl Rosenkranz, einer der gründlichsten Kenner Voltaire’s, sagt darüber: „Das Wort hat nicht beschränkten Sinn einer Vernichtung des Christenthums, sondern den allgemeinen der Vernichtung des Aberglaubens und der dadurch bedingten Pfaffenherrschaft. Den liebevollen, sich aufopfernden Menschen Jesus von Nazareth ehrte Voltaire, aber den dogmatischen Christus verwarf er als monströse Verbindung einer geschichtlichen Thatsache mit abstracten Philosophemen!“ Brauchen wir zu bemerken, daß dieser Streit leider noch heute nicht beendigt ist, wenn heute auch dem Pfaffenthum nicht mehr die früheren Gewaltmittel zur Durchsetzung des erwünschten Glaubenszwanges zu Gebote stehen?

Aber nicht blos sein schriftstellerisches Schaffen, nicht blos sein nützliches Wirken in seinen Umgebungen und die anmuthige Gestaltung seiner häuslichen Verhältnisse hoben den Lebensabend Voltaire’s so hoch über das Mittelmaß der Alltäglichkeit hinaus. Es kamen auch gewichtvolle Thaten hinzu, welche das Ringen seines ganzen Daseins als probekräftig besiegelten und um das Haupt dieses Greises den Lorbeer des Siegers wanden. Die alte Weltanschauung, welche die Ausbeutung und Unterdrückung der Mehrzahl durch eine bevorrechtete Minderzahl geheiligt hatte, lag als solche freilich im Sterben, aber sie war doch noch im Vollbesitze ihrer überkommenen Macht und eröffnete einen trotzigen Verzweiflungskampf gegen die offene und stille Auflehnung. Der Wächter von Ferney aber verfolgte alle diese grausamen Gewaltthätigkeiten mit schärfster Aufmerksamkeit.

In Toulouse war 1762 ein beinahe siebenzigjähriger Protestant Namens Calas in Folge richterlichen Urtheils von unten auf gerädert worden, weil er seinen Sohn erdrosselt habe sollte, um den Uebertritt desselben zur römischen Kirche zu verhindern. Alle Umstände bezeugten den Selbstmord und die völlige Unschuld des Vaters; die Hinrichtung war ein Verbrechen. Als Voltaire davon hörte, schrieb er zunächst in tiefer Ergriffenheit und Empörung seine gewaltige Schrift „Von der Toleranz“, dieses unsterbliche Manifest wider den Fluch der Unduldsamkeit und für das vollste Recht der freien Ueberzeugung. Der Funke zündete in den Gemüthern. Die Welt ergriff gleichfalls Partei, und durch hartnäckigste Betreibung der Sache brachte er es dahin, daß endlich der Toulouser Urtheilspruch amtlich umgestoßen und der verübte Justizmord eingestanden werden mußte. Drei Jahre seines Lebes hat Voltaire an diesen Kampf gesetzt, und seine Umgebungen bestätigten, daß er wahr gesprochen, als er sagte: „Kein Lächeln ist während dieser Zeit über meine Lippen gezogen!“ Aber bei diesem einen Vorgange blieb es nicht, es kam gleichzeitig eine ganze Reihe von ähnlichen Processen, die er gleichfalls vor die Oeffentlichkeit brachte, in die er mit derselben Willenszähigkeit und Aufopferungskraft hineingriff. Einige Male gelang es ihm auch, den unschuldigen Opfern einer fanatisirten Justiz noch Leben und Ehre zu retten. Wie hätten solche offenkundige Thaten nicht die fürchterlichen Schäden des Staats- und Gesellschaftslebens der allgemeinen Beachtung nahe legen und weithin die dankbarste Bewunderung erwecken sollen? In Frankreich und weit über dasselbe hinaus fing der gewaltthätige Fanatismus an, den unerbittlichen Richter von Ferney zu fürchten, der auch persönlich der Bedrängten und Verfolgten sich annahm, sie zu sich lud, ihnen Zuflucht, Rath und Unterstützung bot. Ueberhaupt ist der letzte Abschnitt seines Lebens durch schöne Züge von Wohlthätigkeit ausgezeichnet. Als er z. B. vernahm, daß eine Nichte des großen Corneille im Elend lebe, nahm er das sechszehnjährige Mädchen wie eine Pflegetochter zu sich, sorgte für ihre gute Ausbildung, bestimmte den Ertrag seiner neuen Ausgabe der Werke Corneille’s zu ihrem Brautschatz und begründete weiterhin auch ihr häusliches Glück. Fräulein Corneille verheiratete sich, und das junge Paar entlieh von Voltaire 15,000 Livres. Nach der Geburt des ersten Kindes machte er der jungen Frau einen Besuch und hinterließ eine prächtige silberne Vase, in der sich die Quittung über das entliehene Capital befand.

Durch alle jene ablenkenden und hier nur im Allgemeinen bezeichnete Stürme aber, denen er im Interesse des Gemeinwohles und der unterdrückten Gerechtigkeit sich aussetzte, wurde die schriftstellerische Thätigkeit des Mannes, der Fortgang seiner Werke, nicht unterbrochen. Er dichtete sogar noch Dramen, und eine derartige Schöpfung, seine letzte Tragödie „Irene“, war es auch, die ihn seinem stillen Landleben endlich wieder entriß und einen großartigen und hochdramatischen Schlußact seines Daseins herbeiführte. Um der Aufführung des neuen Stückes beizuwohnen, entschloß er sich, mit seiner Nichte nach Paris zu reisen. Der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 397. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_397.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)