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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)


Weibes, das ihm in seinen Leiden treu zu Seite gestanden hatte, entschlief er.

Bei seiner Beerdigung folgten seinem Sarge der Capitain und der größte Theil der Mannschaft, welche wegen der nöthigen Ausbesserung des Schiffes sich noch in Boston befanden. Vierzehn Tage darauf stach der Dampfer, glücklicher als sein Retter, schmuck und fröhlich in die See.

Alwine folgte mir nach New-York und trat in Staten-Island ihre Stelle an. Als ich von ihr Abschied nahm, um nach Europa zurückzukehren, sagte ich ihr, daß ich nie eine Andere freien würde, als sie. Mit Thränen in den Augen hörte sie mich an und ich sah, wie sie mit bebendem Munde nach dem Wort der Erlösung rang; aber sie biß sich auf die Lippen und wandte den Kopf.

Ich nahm Passage auf einem deutschen Fahrzeuge. Als unser Dampfer durch den engen Ausgang des New-Yorker Hafens an den Bergen Staten-Islands vorüber nach dem Meere hinausglitt, winkte mir von hoch oben ein weißes Tuch. –

Alwine hatte den Schmerz, der sie so tief erfaßt hatte, noch nicht überwunden. Ich gab mir das Wort, ihre Empfindungen zu ehren. Nicht eher wollte ich sie die Meine nennen, als bis sie selbst gern und willig mir für immer die Hand reichte. Kaum nach Europa zurückgekehrt, schrieb ich an sie, und ich hatte von G. aus vor Kurzem einen zweiten Brief an sie abgesandt, allein keine Antwort erhalten.




Und nun – da saß ich, lauschend, vor dem Kaffee, in meinem Hôtelzimmer, in der fröstelnden Morgenfrühe, starr wie eine Bildsäule, und doch rieselte es mir durch alle Nerven und ich hörte mein Herz pochen: das mußte sie sein, hier neben mir und ich faltete die Hände und sagte: „Gott der Liebe, gieb, daß sie es ist!“

Und dann überfiel mich wieder Zagen und Bangen, während ich mit zitternden Händen mich ankleidete. Weshalb – da sie doch meine Adresse in G. kannte – weshalb hatte sie nicht an mich geschrieben und mir ihre Ankunft gemeldet? Und was meine schmerzliche Sorge vermehrte: weshalb sang sie noch immer jenes Lied, dessen Melodie von der Erinnerung an den Tag unseres Scheidens in Boston unzertrennlich war und aus dessen Tönen ich – und gewiß auch sie – immer nur die Stimme des armen Jay Robinson heraushörte? Daß sie in demselben Hôtel mit mir wohnte, mußte Zufall sein, denn ich hielt mich nur vorübergehend in B. und in diesem Hôtel auf; hatte sie den armen Jay Robinson noch nicht vergessen, und wollte sie mich überhaupt in G. aufsuchen?

Kaum war ich mit meinem Anzug fertig, so eilte ich, ohne zu wissen, was ich thun wollte, vor die Thür. Auf dem Corridor angelangt, zögerte ich einen Augenblick und ging dann die Treppe hinunter. Ich begab mich zum Portier und fragte nach Fräulein Bodinus. Er kannte sie nicht. Doch zeigte er mir die Fremdentafel und theilte mir mit, daß die beiden neben dem meinen gelegenen Zimmer von Herrn und Frau Ehrenberg besetzt, daß die Herrschaften aus New-York und daß sie erst gestern Abend kurz vor zwölf Uhr eingetroffen seien.

Diese Mittheilung erfüllte mich mit einem jähen Schrecken. Alwine hatte sich verheirathet – sie war für mich verloren. Sie hatte Jay Robinson geliebt, und zwar mehr geliebt als mich, und sie hatte mich über seinen Tod vergessen. Mir kam es oft so vor, als wenn das, was ich da dächte, Alles Unsinn sei; allein ich wankte die Treppe hinauf wie Einer, der seine beste Lebenshoffnung vernichtet sieht.

Oben stand Jemand vor meiner Thür und klopfte. Es war ein Mann, der offenbar mich zu sprechen wünschte, und als ich näher kam, erkannte ich den Briefträger. Er brachte mir einen geschäftlichen Werthbrief, dessen Empfang ich ihm bescheinigen mußte. Ich führte ihn in mein Zimmer, suchte Tinte und Feder zusammen und wechselte während der ganzen Zeit mehrmals Worte mit ihm. Endlich nannte er auch einmal mit lauter Stimme meinen Namen. Kurz darauf hörte ich rasche Schritte nebenan nach der unsere Zimmer verbindenden Thür, und es war mir, als lauschte Alwine hinter derselben. Ich gab dem Briefträger die Quittung, bezahlte und entließ ihn. Als ich die Thür hinter ihm schloß, schlug mir das Herz.

Und als ich mich jetzt umwendete, wurde die verbindende Thür plötzlich aufgeschlossen, und auf ihrer Schwelle stand die Geliebte und streckte mir zitternd vor Freude die Hände entgegen.

Sie war bleich, aber freundlich strahlend sahen mich ihre Augen an, ihre lieben Augen, die ich so lange entbehrt hatte. Und dann bewegten sich bebend ihre frischen rothen Lippen, und sie flüsterte: „Du hier – Du – – und ich habe Dich gefunden.“ – –

Wiedersehen! Wer beschreibt ein Wiedersehen, das er selbst so ersehnt, so wenig erwartet und so empfunden, wie ich dieses! Man vergißt die Welt um sich her; man schwelgt in Freude und Thränen. Man sieht glückstrahlende Augen hinter feuchten Thauperlen, die über schöne, bleiche Wangen rollen; ein liebes Gesicht schmiegt sich an unsere Brust, und eine leise Stimme flüstert von „nie wieder scheiden“ und ewigem Glück. Und dann küßt man zwei weiße Hände und zieht eine liebe Gestalt neben sich auf das Sopha nieder.

Da hört man denn so Mancherlei, was während der Trennungszeit sich ereignet hat. In Staten-Island war es im Anfang gut gegangen. Die Kinder des luxuriösen Hauses waren hübsch, wild und zutraulich und, obwohl im Anfang ein wenig fremd und scheu, hatten sie sich doch bald an die neue Erzieherin, die freundliche Pflegerin gewöhnt. Und so fand sie ein gewisses Genügen in ihrem Beruf. Es war ihr so neu, Kinder zu erziehen, die Kleinen zu warten, die zarten Wesen zu pflegen. Es machte sie ernst und heiter zugleich, und es gab ihr vor Allem das Gleichmaß ihres Wesens zurück. Allein es war doch beschlossen, daß sie nicht lange bleiben sollte: das Heimweh überfiel sie. In New-York geschah es, wohin sie eines Tages gefahren, um Freunde zu besuchen, eine Familie Ehrenberg. Sie fand diese im Begriffe, mit dem nächsten Schiffe nach Deutschland zu reisen. Da kommt die Sehnsucht über sie wie ein gewappneter Mann. Sie kehrt gar nicht erst nach Staten-Island zurück, die Freunde übernehmen es, ihre Freigebung zu vermitteln und ihre Sachen nach New-York zu befördern; und zwei Tage später schwimmen sie mit ihr auf der weiten See.

So gelangt sie in ruhiger Fahrt nach Hamburg, und weiter nach B., mit der Absicht, nach kurzer Rast mich aufzusuchen.

Zum Abend stellte Alwine mir das liebenswürdige Paar vor. Morgen schon fahren wir nach Darmstadt zu Onkel und Tante meiner Braut; unsere Hochzeitsreise aber denken wir nach Boston und New-York zu machen.

– – – – – – – – –

Das ist die Erzählung meines Freundes, die ich frisch, wie ich sie empfangen, niederschreibe. Zwei Glückliche mehr auf der Welt!



Blätter und Blüthen.


Ein Zweig der Kriegsindustrie. Die Kriegsfurie rastet auf der Balkanhalbinsel, aber wir, die wir als bloße Zuschauer die Blicke nach dem Kriegstheater im Süden richten, wir befürchten, daß sie nur Athem schöpfe, um das grauenvolle Zerstörungswerk von Neuem zu beginnen und ihr Ziel doch endlich zu erreichen. Rußland gleicht einem jungen Riesen, welcher verschmachtet, wenn er kein offenes Meer hat. Darum hämmert er seit Peter’s des Großen Zeiten gegen die morsch gewordene hohe Pforte, welche ihm den Zugang zum mittelländischen Meere verschließt. England, dessen Industrie und Handel in hohem Grade von den indischen Colonien abhängig sind, fürchtet das Wachsthum der nordischen Macht und will um jeden Preis verhüten, daß man den Suezcanal, seine wichtigste Handelsstraße, gefährde. So stehen sich jetzt wieder die beiden großen Nationen feindselig gegenüber. Auch der zweite Congreß kann wieder mit einem Kriege schließen, und der russische Koloß hat sich darauf vorbereitet.

Dieser Kriegsvorbereitung danken wir in Deutschland das Auftauchen einer ganz eigenartigen Industrie. Es ist eine Gelegenheitsindustrie; sie kommt gleich der regenschweren Wolke am heißen Tage, tränkt das durstige Land und verschwindet wieder. Ich spreche von der Anfertigung von Kriegszelten für die russische Armee. Wenn ich den freundlichen Leser bitte, dieser vorübergehenden Erscheinung eine nähere Betrachtung zu schenken, so geschieht es, weil erstens diese Industrie eine ganz eigenartige ist; zweitens, weil dieselbe für wenige Monate etwa dreitausend unbeschäftigten Arbeitern in Berlin Brod verschafft und zum Mindesten ebenso vielen Webern in Schlesien, Westfalen und am Rhein, und endlich, weil dieselbe ein rühmliches Zeugniß für die Leistungsfähigkeit unserer Textilindustrie ablegt.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 401. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_401.jpg&oldid=- (Version vom 5.8.2016)