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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Zuerst also: er will nicht belehrt sein. Bei den Gründen dafür hat auch die Beobachtung und Vergegenwärtigung rein psychologischer Thatsachen ein Wörtchen mitzureden.

Der aufreizende Socialismus hat sich gerade mit den zwei Regungen des menschlichen Geistes verbunden, welche der nachhaltigsten Kraftentwickelung fähig sind: mit der Hoffnung und dem Fanatismus. Wie das Christenthum mit seiner communistischen Tendenz zu den „Armen und Elenden“ sagte: hoffet! so ruft jetzt der Communismus: hoffet – hoffet auf eure Stimmenzahl oder auf – eure Fäuste! So hoffen sie denn selbst angesichts der Thatsache, daß sie in dem endlich aufgerüttelten Bürgerthum eine Macht gegen sich heraufbeschwören, die ihnen die Hoffnung auf künftige Siege raubt, wenn sie nur irgend fest und sich treu bleibt. Und dann der Partei-Fanatismus: in jedem, selbst dem schwerfälligsten Menschen sitzt ein Stückchen Parteigänger, ein Stückchen Kampfhahn – man muß nur den Punkt wissen, wo man ihn zu fassen hat, und er wird bald ebenso hitzig, ebenso verstockt zu der vor ihm aufgerollten Fahne stehen, wie jeder Andere. Und der Socialismus hat es jederzeit wahrlich leicht genug gehabt, den Weg zu den Gemüthern und zur Erregung der Parteisucht zu finden. Neben diese Bundesgenossen des Socialismus, neben Hoffnung und Partei-Fanatismus, tritt aber noch ein dritter finsterer Geselle – das Mißtrauen. Wollte sich Jemand dem Glauben hingeben, jene ersten Beiden durch Vernunftgründe und Belehrung bekehren zu können – dieser Dritte im Bunde bricht alle Brücken zwischen den Classen hinweg, an dem verstockten Mißtrauen stumpft der beste Wille, das größte Wohlwollen für die verführten Classen ab; an ihm scheitert jeder und jeder Versuch einer Verständigung. Selbst in die Logik des einleuchtendsten Ideenganges drängt sich dieses zerstörende Gift und blendet die Augen des bethörten Arbeiters in einem solchen Grade, daß ihm selbst die unabweisbarste Wahrheit als eine schlaue Ueberrumpelung erscheint.

Zeigt sich also schon aus einer Betrachtung dieser Sachlage der Plan einer Widerlegung und Bekehrung der Socialisten als praktisch unausführbar, so kommt noch ein Anderes hinzu. Jene Ideen nämlich, auf deren Bekämpfung man so vielen Werth legt, sind in der Masse der socialdemokratischen Arbeiter gar nicht so weit und so ausnahmslos verbreitet, wie man annimmt. Wir nehmen ein Buch her, orientiren uns über die verschiedenen Lehren des Socialismus, lesen die von socialdemokratischen Agitatoren gehaltenen Reden, hören das beistimmende Zujubeln des Anhanges und sind nun überzeugt, daß dies Alles eine einheitliche Manifestation socialistischer Ideen ist. Und dennoch ist dies durchaus nicht der Fall. Wohl keine andere Partei wird an ihren einzelnen Elementen eine so verschiedene Auffassung des gemeinsamen Zieles aufweisen, wie die socialdemokratische. Ueber das eigentliche System des Socialismus ist sich nur eine sehr geringe Minderheit klar; eine weitere Gruppe, namentlich der jugendlicheren Classen, nimmt die Lehren als eine unverdaute und unverstandene Masse ganz äußerlich in ihr Gehirn auf, die weitaus größte Mehrzahl aber läßt die eigentlichen socialistischen Ideen nur so mitlaufen; ihr handelt es sich ganz allein um den einen Gedanken: um die für ihr Verständniß unübersteigbare Kluft zwischen ihrer Arbeit und ihrem Lohn im Verhältniß zu dem der anderen Classen, oder besser gesagt, der andere Classe. Denn für sie existiren überhaupt nur zwei: Arbeiter und „Geldmänner“, welche letztere, ihrer Ansicht nach, allein den goldenen Schlüssel zu allen Genüssen des Lebens besitzen. Wie sie zu den Vortheilen dieser Classe gelangen können – ob auf dem Wege socialistischer Ideen oder sonst wie – das ist dieser größeren Mehrzahl ganz gleich, wenn sie es nur erreicht. Und weil die Führer des Socialismus so bestimmt versichern, das könne nur nach ihrem Recept geschehen, darum schlägt dieser große Haufen sich eben auf ihre Seite. Socialisten aus Princip und Ueberzeugung sind diese Leute durchaus nicht; sie gehören der Partei nur aus, ihrer Anschauung nach, rein praktischen Gründen an. An der Sache selbst ändert das nun freilich nichts, aber der Einblick genügt doch, uns jede Hoffnung aufgeben zu lassen, durch irgend eine Belehrung oder irgend welche Einwirkung auf solche leidenschaftlich erregte Gemüther zu einer Lösung zu gelangen.

Gestehen wir es uns lieber ohne alle Umstände: eine Verständigung giebt es nicht mehr – die Classen haben aufgehört, sich zu verstehen – der Classenkampf ist da, und es giebt hier zunächst nur eine Losung: Nothwehr gegen fortgesetzten Angriff! Mit der gegenwärtigen Socialdemokratie, wie sie vor uns steht, giebt es kein Pactiren, kein Auseinandersetzen. Aber hier ist – wohl verstanden – namentlich bei uns in Deutschland, auch nicht das letzte Mittel der Kanonen nöthig. Trotz der schönen Tiraden vom „dumpfen Tritt der Arbeiterbataillone“ und dergleiche Drohungen können wir dies bestimmt behaupten. Die Nothwehr, von der wir sprechen, ist vielmehr nur ein entschlossenes, thatkräftiges Auftreten des Bürgerthums, jener großen Mittelclasse, welche in hervorragender Weise den modernen Staat auf ihrem breiten Rücken trägt. Von dem Augenblicke an, wo unser noch gesundes und kräftiges Bürgerthum in den Kampf eintritt, steht eine Gewalt auf, vor deren Uebermacht diejenige des Socialdemokratismus weichen muß. Wie man von den bösen Geistern sagt, daß sie das Böse wollen und das Gute schaffen, so würden auch die socialistischen Wühler ein Gutes hervorrufen, indem sie das bisher noch träg und gleichgültig sich verhaltende Bürgerthum dem constitutionellen Leben gewinnen, sodaß wir fortan vielleicht nicht mehr die Schmach erleben würden, einen beträchtlichen Theil dieser ausschlaggebenden Classe an den wichtigsten Staats- und Gemeindewahlen sich gar nicht betheiligen zu sehen.

Mit einer solchen Nothwehr aber, mag sie eine mehr private bleiben oder mag der Staat zu einer polizeilichen Gegenwirkung autorisirt werden, wäre nichts weiter gewonnen, als daß eine auf den Umsturz ausgehende Bestrebung mehr als bisher in Schranken gehalten würde und zwar im Falle staatlichen Eingreifens vielleicht zu Gunsten reactionärer Absichten, zur Schädigung wohlerworbener Volksrechte und der allgemeinen bürgerlichen Freiheit. Eine Heilung des socialen und politischen Uebels würde dadurch nicht erzielt sein. Wie soll nun diese Heilung geschehen?

Wir haben oben die Ueberzeugung ausgesprochen, daß die Socialdemokraten nicht blos nicht belehrt sein wollen, sondern daß sie auch nicht belehrt werden können. Und jetzt kommen wir auf das schon beim Eingang versprochene Capitel. Sieht es, wie wir dies Alle wissen, schon mit den volkswirthschaftlichen Begriffen selbst der gebildetsten Classen sehr trübe aus, wie kann man bei dem Arbeiter gegen eine Idee ankämpfen wollen, der gegenüber ihm alle Voraussetzungen eines Urtheils fehlen? gegen eine Idee, welche gerade auf dem völligen Mangel an Ueberblick, an Bewußtsein von dem Verhältnisse seiner Arbeit zu der Arbeit der übrigen Gesellschaft beruht?

Hier ist der Punkt, wo wir den Hebel ansetzen müssen – hier gilt es, unsere Kräfte zu vereinigen und wenigstens für die ganz sicher noch zu rettenden jung aufwachsenden Generationen eine positive Thätigkeit zu entwickeln, deren Gesichtspunkte offen auf der Hand liegen. Diesen Geschlechtern der Zukunft müssen wir für das Leben gewähren: erstens die Widerstandskraft, um den Verlockungen der Demagogen zu widerstehen, und zweitens: die Fähigkeit, zu unterscheiden zwischen dem, was erreichbar und demgemäß auch zu erstreben – und dem, was unerreichbar und also nicht zu erstreben ist. Das aber erlangen wir einzig und allein dadurch, daß wir ihnen das Handwerkszeug für ein gesundes Urtheil in die Hand drücken. Das muß durch die Schule geschehen. Haben wir die Frage erst auf diesem Punkte, so befinden wir uns auch sofort auf dem günstigen Felde, wo von Classenunterschied nicht mehr die Rede ist, da hier eben alle Classen der Bevölkerung vor einem gemeinsam empfundenen Bedürfnisse stehen.

Mit einem Worte also: Die Volkswirthschaft muß in die Lehrgegenstände der Schule aufgenommen werden, um den Schüler zu einem Menschen heranbilden zu helfen, welcher die wesentlichsten Begriffe in sich aufgenommen hat, mit deren Hülfe er im Stande ist, die Bedingungen seiner Existenz und sein Verhältniß zur menschlichen Gesellschaft vernünftig zu beurtheilen.

Indem wir dies schreiben, bezweifeln wir keinen Augenblick, daß man von verschiedenen Seiten mit allerhand Gegengründen über uns herfallen wird, als da sind: die Volkswirthschaft gehöre nicht in die Schule; es sei eine neue Belastung des so wie so kaum zu bewältigenden Lehrstoffes; sie gehe über die Fassungskraft des Schülers hinaus u. dergl. m., Gründe, von denen kein einziger stichhaltig ist. Daß ein ähnliches Bedürfniß, wenn auch in unpraktischer Form, schon einmal zur Geltung gelangt ist,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 411. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_411.jpg&oldid=- (Version vom 5.8.2016)