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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Jean Jacques Rousseau.
Nach einem alten Stich auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.

der Knabe lesen, so studirte er schon Romane und allerlei ernstere Schriften in bunter Reihe, wie sie ihm in die Hand fielen. Im Alter von acht Jahren kam er dann in das Pfarrhaus zu Bossey, wo sich sein Natursinn lebhaft entwickelte und ein systematischer Unterricht auch seine geistigen Bestrebungen regelte. Eine unverdiente harte Züchtigung machte indeß diesem Pensionsleben ein Ende; Rousseau kam in das Haus eines Onkels, wo seinem geistigen Streben wieder die zügelnde Hand fehlte. Bisweilen besuchte er seinen Vater, der von Genf nach Ryon übergesiedelt war. Hier verliebte er sich alles Ernstes in zwei Mädchen, von denen das eine doppelt so alt war wie der Anbeter. Um diesen Liebeständeleien ein Ende zu machen, suchte man für den Knaben eine ernste Beschäftigung. Er wurde Schreiber bei einem Gressier oder Kanzlisten, doch erwies er sich hier gänzlich unbrauchbar; dann wurde er Lehrling eines Graveurs; hier als untergeordneter Lehrbursche selbst von den Gehülfen brutal behandelt, zeigte er sich bald selbst roh, ungezogen, naschhaft, ja diebisch. Aus Furcht vor den strengen Strafen verschwand er, als er einmal seinen Urlaub überschritten, plötzlich gänzlich aus seiner Heimath und wanderte in die Ferne. Er trieb sich eine Zeitlang in der Umgegend von Genf herum und fand bei einem bekannten Bauern eine Herberge. Als er in Consignon bei dem Pfarrer des Ortes vorsprach, glaubte dieser den flüchtigen Ketzer zum wahren Glauben bekehren zu müssen. Da seine Versuche nicht auf Widerspruch stießen, gab er dem Knaben Brief und Geld, daß er zu einer frommen Dame nach Annecy reise, welche das Bekehrungswerk an ihm vollenden sollte: sie war selbst zur katholischen Kirche übergetreten.

So kam Rousseau zu seiner zweiten Mutter, der Frau von Warens, einer schönen, feinen Weltdame, die ihr Metier als Proselytenfängerin mit Anstand und Gutmüthigkeit betrieb und im Uebrigen den Genüssen dieser Welt keineswegs abgeneigt war. Rousseau wurde von ihr auf den Rath ihrer Beschützer, nach Turin in das Hospiz der Katechumenen geschickt, wo der Sohn des calvinistischen Genf zur katholischen Kirche übertrat. Hierauf entlassen, mußte er sich, da seine Mittel ihm ausgegangen, bald als Commis, als Graveur, ja selbst als Bedienter in vornehmen Häusern durchschlagen. Mit einem Freunde, den er von Genf her kannte und in Turin wiedertraf, begab er sich indeß von Neuem auf die Wanderschaft und langte nach planlosem Umherschweifen wieder in Annecy bei Frau von Warens an, die ihn freundlich und liebevoll aufnahm. Auf seine geistige Bildung hatte sie großen Einfluß; seine sittlichen Begriffe verwirrte sie durch ihre rückhaltlose Hingebung, durch welche sie ihn von den Liebeleien mit seinen Schülerinnen zurückzuhalten suchte. Rousseau war inzwischen Musiklehrer geworden; die geistliche Capelle, die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 441. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_441.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)