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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Deutsches Frauenleben im Mittelalter.
Eine culturhistorische Studie von Fr. Helbig.

In’s Extreme gerathene Zeitrichtungen erzeugen meist die Sehnsucht nach dem Pole ihres Gegensatzes. So erwacht vielfach neben dem sehr stark in’s Materialistische gerathenen Zuge unserer Zeit das Interesse für die Zeit des ausgeprägtesten Idealismus. In Gustav Freytag, Victor von Scheffel und Richard Wagner erstanden ihm mächtige Bannerträger; Aufzügen und Festen leiht es die künstlerische Folie; in unseren modernen Villen an den Hängen der Berge, mit ihren Thürmen und Söllern, findet es ein bäuerisches Echo. Nicht ganz mit Unrecht bezeichnet ein älterer begeisterter Apostel jener Epoche, Vilmar, sie als „die eigentliche Jugendzeit des deutschen Volkes“, jene Zeit der ersten blöden, zurückhaltenden Liebe, „die mit den rothen Blumen aus dem Anger und der Haide erwacht, mit dem jungen Laube des Maienwaldes grünt und mit den Vöglein der Frühlingszeit jubelt und singt“. Gerade aber hierin liegt der beste Gegengrund gegen das romantische Streben, unsere Verhältnisse, unser geistiges Sein in das Mittelalter zurückzuführen, als ob es im Leben des Einzelnen, das doch immer ähnlich verläuft wie dasjenige ganzer Völker, möglich und vergönnt sei, ein zweites Leben der Jugend herbeizuführen.

Wenn wir uns nun anschicken, das Leben der Frau in jener Zeit des Ritterthums und Minnesangs den Lesern der „Gartenlaube“ in einzelnen Zügen aufzurollen, so dürfen wir vielleicht hoffen, damit einigem Interesse zu begegnen, das durch die stille Vergleichung jener einfachen, natürlichen Verhältnisse und Anschauungen mit manchen complicirten, der Unnatur und Geschraubtheit zuneigenden der Jetztzeit eine besondere Nahrung erhält. Wir vertheilen dabei den reichen Stoff in die nachfolgenden, durch einzelne Phasen des Frauenlebens markirten Abschnitte.


1. Minnen und Werben.


Wie das beim Erwachen des Tages verloren gegangene Wort und Gebild eines wohlthuenden Traumes klingt in die Gegenwart hinein das Wort „Minne“. Längst hat es sein Existenzrecht im gewöhnlichen Verkehre der Geschlechter eingebüßt. Als seltenes und köstliches, aber im Laufe der Zeiten umodisch gewordenes Brocatgewand zieht es nur der Poet hie und da aus der bunten Truhe des Sprachschatzes wieder hervor. Im Uebrigen aber geizt der erwachsene Jüngling heutzutage nicht mehr nach „holder Jungfrau’n Minne“, sondern bemüht sich um die Neigung des „verehrten Fräuleins“, auch desjenigen, „welches Samstags seinen Besen führt“. Um so mächtiger war der Zauber, den das Wort einst in der Zeit seines Modegebrauchs in sich schloß. Während die hochclassige Schülerin der höheren Töchterschule jetzt sich über die Fragen des Materialismus und Pessimismus, über Elektricität und Spectralanalyse, alte und neue Geschichte u. dergl. zu unterrichten strebt, fragte die zur Jungfrau herangewachsene Tochter des Mittelalters wißbegierig und schämig zugleich die Mutter: „Was ist Minne?“

Und die Mutter nahm nicht Anstand, über diese wichtige Frage, die fast den ganzen Kreis des Wissens für die Tochter in sich barg, eine umfassende und eingehende Antwort zu geben.

„Tochter,“ entgegnet sie (nach Heinrich von Veldecke’s „Eneit“), „die Minne ist vom Anbeginn der Welt so gewaltig in ihr, daß Niemand ihr vermag zu widerstehen, zumal sie so geartet ist, daß man sie weder sieht noch hört.“

„Mutter, dann erkenne ich sie ja gar nicht.“

„Du sollst sie wohl erkennen noch,“ erwidert die tröstende Mutter und fährt weiter fort in der Erklärung des Wesens der Rätselhaften: „So beschaffen ist Minne, daß Niemand sie so recht dem Andern weisen kann, in dessen Herz sie nicht selbst schon Einkehr genommen. Wer ihr aber recht nachstrebt und sich innig zu ihr kehrt, den lehrt sie Vieles, was ihm seither unbekannt war. Dann betrübt sie ihm aber auch Herz und Leib, ändert seine Farbe, macht ihn erst kalt, dann wieder heiß, daß er sich schier kaum zu rathen weiß, benimmt ihm das Schlafen, das Essen und das Trinken und stürzt ihn in grübelnde, sorgende Gedanken.“

„Ach, Mutter, dann ist ja Minne ein Ungemach.“

„Nein, Tochter, sie ist gut, denn ihr Ungemach ist süß.“

„Gebe Gott, daß sie möge mich lange meiden, wer möchte sonst die Noth all leiden?“

Die Frau Mutter versenkt sich jedoch immer weiter in tröstende Auseinandersetzungen, nur den zagenden Muth der Tochter zu heben. Sie belehrt sie, wie die Minne die Wunden auch wieder heile, die sie erst geschlagen; wie die bleiche Farbe ja auch erst dem Lichte entstamme, und Furcht guten Trost verleihe, Darben aber das Herz bereichere; wie nach Leid und Ungemach Lust und Freude komme. Und als die Furcht vor der räthselhaften Erscheinung noch immer nicht ganz von ihr weicht, ruft sie zum Schluß der Zagenden zu:

„Ich weiß, daß Du noch minnen mußt,
Wie ungern Du’s auch jetzt noch thust.“

Man spielte mit dem Begriffe, wie das Kind mit einem Spielzeuge, dessen Wesen es ergründen möchte und das es darum hin und her wendet, auseinanderlegt und – zertrümmert. „Minne, bist du ein Er oder eine Sie? Fliegst du auf die Hand oder bist du wild?“ fragt da in des Herzens Einfalt die „holde Magd“ Sigune. Sie konnte sich darüber Raths erholen bei Walther von der Vogelweide, denn dieser singt:

Die Minne ist weder Mann noch Weib,
Sie hat nicht Seele, hat nicht Leib.
Irdisch Bildniß war ihr nicht beschieden;
Ihr Nam’ ist kund, sie selber fremd hienieden.

War sie, die Unergründliche, nun heimlich in des Mädchens Brust eingezogen, erkannt erst, als sie schon da war – so wurde sie nun auch dort auf das Heimlichste gehalten und gepflegt.

Der Abendstern, der holde, birgt sich,
So thu’ dies, schöne Frau, wenn Du siehst mich,
Laß Deine Augen gehn auf einen andern Mann,
So weiß es schwerlich Jemand, wie’s unter uns Zweien ist gethan.

Da erkennt die liebende Frau, wenn sie am späten Abend aus der Zinne des Burgthurms steht, wohl die Nähe des Geliebten an der Weise seines Gesanges. „Das ist des Kürnbergers Weise; so singt ein Mann, der muß von hinnen weichen oder ich muß mich ihm sonst geben zu eigen.“

So besteht auch in der ganze Minnepoesie durchgehends die Scheu, den Namen der besungenen Geliebten zu nennen, obwohl die Lieder fast in allen Fällen auf eine wirklich lebende Person zurückzuführen sind. Besonders aber spricht sich die süße Heimlichkeit und Weltentrücktheit der Minne in den Wächterliedern aus, in welchen die Liebende Klage erheben, daß der Wächterruf den Morgen und damit die Flucht der Nacht verkündet, in deren Schutze das Leben der Liebe blüht. „Wie kommst du Wächter schon so früh gegangen? Sieh, Wächter, ob des Mondes Schein trügt!“ erschallt die Klage. Die bekannte hochpoetische Balconscene in Shakespeare’s „Romeo und Julie“ ist eine Art Nachdichtung dieser mittelalterlichen Wächterlieder, gegossen in die Form des Zwiegesprächs.

Mit besonderem Nachdruck betont das Mittelalter die Treue, in welcher die Liebe durch alle Fahrnisse des Lebens hindurch bis zum Tode ausharrt. Sie bildet fast das beständige Grundthema aller Romane und Gedichte der Zeit, wie der Begriff der Treue damals als die wesentliche Unterlage des ganzen socialen Lebens erscheint und ihm sein eigenartiges Gepräge lieh. So ist bekanntlich unser zweites Nationalepos „Gudrun“ ein solches Hohes Lied der Treue. Sieben Jahre trägt Gudrun um den heißgeliebten Verlobten Schmach und Unbill, wie solche nur die gekränkte Eitelkeit der Mutter eines verschmähte Freiers ersinnen kann; sieben Jahre weist sie die Werbung des Letzteren zurück, welche ihr Freiheit und alles äußere Glück verheißt.

„In meinem ganzen Leben ich keines Mannes Liebe sonst begehre,“ ist der beständige Refrain ihrer Entgegnung.

Die Liebe Sigunens zu Schionatulander war so mächtig, daß sie sich auch noch auf dessen todten Leib übertrug. Lange Zeit noch führte Sigune ihn künstlich erhalten und einbalsamirt mit sich herum, bis sie dann in einsamer Klause bis zum Ende ihrer Tage lebend mit dem Todten wohnte. „Sie minnete,“ so meint der Dichter, „den todten Leib.“

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 444. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_444.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)