Seite:Die Gartenlaube (1878) 474.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

und der kurze Sarras am Gürtel schienen nur überflüssige Nebendinge zur Abrundung der ganzen Figur zu sein. Das Volk, namentlich die Jugend, umdrängte und umjubelte den wohlbekannten Alten, der sie aber scheltend zurückwies und dem Wirthe zurief, er solle das Haus schließen; wenn all das Volk mit herein komme, werde die Hirschkuh scheu, und es sei keine Möglichkeit, sie in das Theater hinüber zu bringen. Vergebens versuchte der Wirth den Auftrag zu vollziehen – der Schwall war zu groß; er wollte theils nicht weichen, theils konnte er es nicht, weil er sich selbst hinderten was indessen dem Schelten des Wirthes nicht gelang, sollte das Zureden und Bitten des alten Leibknappen Kaspar zu Stande bringen. „Seid doch gescheid, Leuteln!“ rief er, „und nehmt Eure fünf Sinne zusammen, wenn Ihr sie wirklich habt! Seid gescheid und verderbt Euch selber die Gaudi nicht! Heut wird nach achtzehn Jahr’ zum ersten Male wieder gespielt in Flintsbach; zum ersten Male spielen wir die Genoveva und zum ersten Male mit einer lebendigen Hirschkuh. Es ist gerad’ wie ein Wunder, daß so ein Hallunk von Wilddieb eine Hirschkuh angeschossen hat, daß man sie gefunden und curirt und abgericht’t hat, daß sie’s im Hoftheater zu München droben nicht schöner machen, oder das Thier hat keinen Verstand und schreckt sich, wenn Ihr so druckt und plärrt – nachdem vergißt’s seine ganze Rolle und Ihr könnt Euch eine Hirschkuh malen. Also müßt Ihr den Verstand haben für das Vieh oder Ihr seid selber von seiner Freundschaft.“

Der Trumpf wirkte; lachend wich das Volk; die Thür schloß sich hinter ihm, und die wenigen Anwesenden zogen in den Garten. Hier hatte indessen bereits der Spitz dafür gesorgt, daß Anderl’s Bemühungen dennoch vereitelt waren; aufgeregt durch das Geschrei war er herumgerannt und hatte glücklich den Verschlag und die Hirschkuh in ihm wieder aufgestöbert, die er nun durch Bellen und Aufspringen an den Brettern so sehr beunruhigte, daß sie wie toll hin und wider rannte.

Der Jammer des Alten war unbeschreiblich. „Alle Haar’ könnt’ ich mir ausreißen, wenn ich nur noch ein’ hätt’,“ rief er, „jetzt geht die Komödie doch noch zu Schar’n.[1] Das muß mir aufg’setzt sein, ich glaub’s nit anders. Was fangen wir nun an, damit das Thier wieder ruhig wird? schickt’s um den Förster, der muß ja umgeh’n können damit.“

Inzwischen war das Mittel, nach dem er rief, bereits gefunden: Gertl war behutsam in die Umzäunung eingetreten, hatte eine Handvoll Gras gepflückt und sich lockend dem Thiere genähert. „Komm, Liesel, komm!“ sagte sie, dazwischen mit dem Munde schnalzend. „Ich bin’s – komm, Liesel! Kennst mich denn nicht?“ Das Thier blieb bei dem Rufe zuerst stutzend stehen; dann trippelte es näher, beroch Gertl, nahm das Futter von ihr und leckte ihr wie dankbar zutraulich die Hand.

„Mirakel!“ schrie Anderl ebenso entzückt, wie er vorhin betrübt gewesen war. „So was hab’ ich meiner Lebtag nit geseh’n. Du mußt hexen können, Madel.“

„Weder hexen noch Mirakel wirken,“ lachte Gertl. „Die Liesel kennt mich halt, weil ich ihr ein paar Mal zu fressen gegeben un geschmeichelt hab’. Das kennen und spüren die Thierl’n gar gut, wenn man sie gern hat, und merken sich’s. – Gebt mir jetzt die Halfter her, thut den Hund weg und geht nur voraus! Ich führ’ die Liesel allein am besten hinüber.“

Ohne Widerrede wurde die Weisung befolgt, und der vergnügte Knappe stiefelte Allen voran.

Aber das Maß seiner Leiden war noch nicht voll. Unheil verkündend donnerten ferne Schläge an die geschlossene Hausthür. Verwundert rief der Wirth, seine Schritte beschleunigend, was das wohl zu bedeuten haben möge, Anderl aber beschwichtigte ihn, das könne nur der Müller vom Busch sein, dessen Tochter die Genoveva spiele. Er habe sich schon gewundert, daß sie noch nicht da sei, aber sie und ihr Vater setzten überall etwas darein, zu spät zu kommen, damit fein Alles auf sie warten müsse; ohne Zweifel werde es der Müller sein, der ihm seine und seiner Tochter Ankunft anzeigen wolle.

Der Müller war es auch – aber ohne Nandl.

Seine Anzeige bestand in wenig Worten, daß die Nandl zu Hause im Bette liege, über und über voll rother Flecken, zugedeckt und im Schweiße gebadet – daß sie also nicht kommen und noch weniger die Genoveva spielen könne; der Maler-Anderl solle nur den Leuten sagen, die Komödie werde schon an einem andern Tag sein.

„Weiter nichts!“ stammelte der Alte, der auf dem Gipfel der Verzweiflung angelangt war, wo man entweder in ein Gelächter ausbricht oder in einen Fluch. Er wählte das Erstere, glücklicher Weise erwischte er noch eine Bank, ehe ihm die Kniee brachen, und platzte darauf mit hellem Lachen nieder. „Weiter nichts!“ wiederholte er. „Hinüber geh’n? Absagen? Einen Buckel voll Schläg’ und Schand’ und Spott holen von den Leut? Das kannst selber besorgen, Buschmüller, wenn Du Lust hast – ich nicht! Mit mir ist’s aus, und wenn mir noch wer einen Gefallen thun will, so schickt’s nur den Herrn Pfarrer, daß er mir die letzte Oelung giebt, oder weißt Du, was wir anfangen sollen?“ fuhr er, zu Gertl gewendet, fort, die lächelnd daneben stand und die an sie geschmiegte Hirschkuh streichelte. „Weißt Du einen Ausweg, weil Du so pfiffig dreinschaust?“

„Warum denn nit?“ erwiderte sie ruhig. „Ich mein’, das giebt sich da von selber – ich thät mich halt um eine andere Genoveva umschau’n.“

Der Alte lachte noch stärker, aber das Lachen lautete nun grimmiger als zuvor. „O Du Siebengescheidte,“ rief er, „mit dem guten Rath hättst zu Haus bleiben können. Eine andere Genoveva hernehmen in der Geschwindigkeit! Als wenn die Genoveven nur so auf den Bäumen wachsen thäten, wie die Kirschen. Oder weißt Du Eine? Kannst Du eine aus dem Aermel schütteln?“

„Ja!“

„Und die wär’?“

„Ich selber.“

„Du?“ rief er und wollte wieder in Lachen ausbrechen, es blieb ihm aber im Munde stecken, den ein Blick auf das Mädchen sagte ihm, daß sich hier allerdings die Möglichkeit einer Hülfe ihm darbot; er wunderte sich beinahe, daß ihm der Gedanke nicht selber in den Sinn gekommen.

So entschieden Gertl aufgetreten war, kam sie doch, da sie das Wort ausgesprochen hatte, in Verlegenheit und erröthete. „Wundert Dich das, Maler-Anderl?“ sagte sie, wie um sich zu entschuldigen. „Ich bin ja bei allen den Proben dabei gewesen; ich hab’ Alles so und so oft mit angehört und kann die Genoveva und das ganze Stück auswendig; ich hab’ geseh’n, wie Alles gemacht wird – warum sollt’ ich die Genovevo nicht auch zuweg’ bringen?“

„Warum?“ rief der Maler mit strahlendem Gesicht. „Warum solltest Du die Genoveva nicht zuweg’ bringen? Und ich sag’, Du mußt sie zuweg’ bringen, und ich könnt mir selber eine Ohrfeigen geben, daß es mir nicht gleich eingefallen ist, daß ich mich wegen der geschmerzten Müller-Nandl nur einen Augenblick geängstigt hab’. Vorwärts mit Dir, hinüber in die Komödi und hinein in’s Genoveva-G’wand, und wenn’s gut hinausgeht, Madel, im Feuer laß ich Dich vergolden!“

Der Zug setzte sich in Bewegung und schritt bei der Schwelle an Waldner und seiner Familie vorüber. Gertl lächelte Lina an und rief ihr halblaut zu: „Siehst, Fräul’n, daß es nichts ist mit dem Aufg’setzt sein? Ich hab’ doch fest geglaubt, ich muß die Ritterin spielen, und jetzt bin ich auf einmal die Genoveva worden. Alles kann noch recht werden. Wenn ich nur keine Dalkerei mach’! Halt mir ja den Daumen fest!“


2.

Die schmetternden Töne der Musik, die ihre Umzug vollendete, kamen dem Schauplatze näher. Wie Wind über Wasser, ging eine starke Bewegung über die Menschenmenge, die in dem Gebäude so eng zusammengedrängt war, daß das Sprüchwort zur buchstäblichen Wahrheit geworden: es hätte kein Apfel vermocht, auf den Boden zu gelangen. Die Glücklichen, welche noch Platz auf den Sitzbänken des ansteigenden Zuschauerraumes gefunden hatten, waren noch am besten daran; sie waren gewissermaßen wie in einem Hafen der Ruhe gelandet, aber die daneben an der Seite zum Stehen Verurtheilten wogten durch einander, wieder wie Wasser, das, überall anprallend und brausend, nicht zur Ruhe zu kommen vermag. Vollends auf der ringsherum laufenden Empore war das Gewühl um so bedenklicher, als der dürftige Schein der überall aufgesteckten Kerzen bis dahin nicht

  1. Zu Schar’n gehn – scheitern.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 474. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_474.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)