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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

ist die Politik Englands, der hier auf dem Congresse Geltung verschafft werden sollte. Man hätte denken sollen, der Romanschriftsteller Disraeli würde hier in dem Schlosse des preußischen Königshauses von so Manchem interessirt, was ihm neu und eigenthümlich erscheinen möchte. Aber der Mann vertrat hier die Politik des Inselreiches und hatte sich, wie man aus Allem sah, vorgenommen, nicht rechts noch links zu sehen, sondern nur auf sein Ziel loszusteuern. Man fühlte aus Allem heraus, daß er den Eintritt in dieses Schloß wie ein Recht betrachtete. Sein Nachfolger dagegen, der italienische Minister des Auswärtigen, Graf Corti, schien die Ermächtigung, den Fuß auf das Parquet des Schlosses zu Berlin zu setzen, wie eine Gunst – eine Artigkeit anzusehen, die man ihm erwies. Der kleine Mann mit der etwas plattgedrückten Nase und den zwei großen Bändern um die Schultern konnte eine gewisse Verlegenheit über den feierlichen Apparat, mit dem er hier empfangen wurde, nicht verbergen. Er deutete in seinem ganzen Behaben die zweite Rolle an, die er auf dem Congresse spielen würde, wie man Disraeli die erste anmerkte.

Voll erregten Interesses dagegen an Allem, was sich hier in der Erscheinung des Schlosses ihm darbot, betrat Graf Andrassy den stolzen Königsbau. Er sprang wie ein Bräutigam, der zur Trauung fährt, aus dem Wagen. Seine Miene war heiter belebt, und das Selbstbewußtsein des österreichisch-ungarischen dirigirenden Ministers verewigte sich mit der nationalen graziösen Lebendigkeit. Er war die glänzendste Erscheinung von Allen, die da vorhin in die Gemächer eingetreten waren. Zu dem gebräunten, vom schwarzen Bart umsäumten Gesichte stand vortrefflich die rothe und goldene Husarenuniform, der weiße mit goldenen Schnüre besetzte Dolman und unter diesem das orangene Band des schwarzen Adlerordens über dem rothen Attila. So erschien er als ein Repräsentant der zur Action auf eigene Faust drängenden Politik, zu der seine Landsleute ihn fortreißen wollten, während der neben ihm erschienene zweite Bevollmächtigte, Baron Haymerle, in seiner unscheinbaren, fast farblosen Persönlichkeit, in seinem leisen, vorsichtigen Auftreten der Ausdruck der Haltung war, welche Oesterreich-Ungarn, in die Mitte zwischen England und Rußland gestellt, vorwärts gedrängt durch die Nothwendigkeit eigener Bestimmung und durch die deutsche Politik in Zügel gehalten, den an seinen Grenze tobenden Kämpfen gegenüber in der Wirklichkeit eingenommen hat.

Wer den Nestor der europäischen Politik noch vor mehreren Jahre in Waidbad und Baden-Baden sah, der mußte an diesem Juninachmittage den Fürsten Alexander Michaelowitsch Gortschakoff sehr verändert finden. Wie frisch war da noch sein Aussehen, wie elastisch waren seine Bewegungen, wie heiter glänzten diese kleinen dunklen Augen unter der goldene Brille hervor, wenn sie einen Ruhepunkt in einer schönen Frauengestalt gefunden hatten, wenn ihm zarte jugendliche Lippen Complimente über sein Aussehen machten! Und nun saß er, ein müder, kranker Mann, wie zusammengekauert in der Ecke des Wagens, und trüb und glanzlos starrten die Augen hinaus über den leeren Schloßplatz. Aus seiner Wohnung in St. Petersburg, aus jenem gewaltigen Gebäude der Reichskanzlei, dem Winterpalais gegenüber, hatte man ihn krank in den Eisenbahnwaggon gebracht und krank kam er in Berlin an, um hier die Sache Rußlands und seines Kaisers zu führen, an welcher er vom Beginn an geistig keinen Theil hatte und auch wenig Freude. Für die Ersteigung der Stufe reichte seine Kraft nicht aus. Der Wagen fuhr an der Stelle vor, wo ein Aufzug in die zweite Etage des Schlosses geht, und dieser übernahm die Weiterbeförderung. Um so flinker war Gortschakoff’s junger College und Adlatus, vielleicht auch später sein Nachfolger, Graf Andreas Schuwalow. Er nahm zwei Stufen auf einmal, um dem Fürsten nachzukommen. Obwohl bereits in der Mitte der Fünfziger stehend, hat sich der Generaladjutant und Botschafter in London, der persönliche Freund seines Souverains, in den Bewegungen seiner eleganten Gestalt die Elasticität der Jugend erhalten. Die kleidsame Uniform der russischen Generaladjutanten, die er trug, der kurze, dunkelgrüne Waffenrock mit den Auszeichnungen in Gold, darüber das gelbe, weißgeränderte Band des rothen Adlerordens, hob die Frische jener zweiten Jugend, die sich der früher so mächtige Chef der bekannten „dritten Abtheilung“ der Sicherheitspolizei des ganzen russischen Reiches trotz seines grauen Haares und grauen Schnurrbartes erhalten hat. Die vorhergegangenen Bevollmächtigten waren mehr ober minder Fremdlinge in dem Königshause: Graf Schuwalow erschien hier, als ob er zu Hause wäre. Er kam wie ein alter Hausfreud, der eines freundlichen Empfanges gewiß ist, und den Russen ward auch der längste Empfang zu Theil.

Die türkischen Bevollmächtigten kamen erst zwei Tage später, „durch widrige Winde verschlagen“. Karatheodory Bey, einer griechische Familie aus dem Phanar entstammend, welcher der Leib der Sultane zum Curire anvertraut war, und der Magdeburger Mehemed Ali Pascha gaben in ihrem Aeußeren gerade nicht das Bild von Persönlichkeiten ab, denen das Unglück ihres Vaterlandes am Herzen genagt hatte. Sie zeigten sich darin als echte Orientalen, die das Geschick in seiner ganzen Unerbittlichkeit mit fatalistischer Ruhe hinnahmen. „Die Türken sind darum die vornehmsten Leute,“ pflegte der alte Graf Prokesch zu sagen, und die Wahrheit des Gesagten erwies sich auch in dem Behaben dieser Abgesandten.

Oben an der Treppe wurden die Vertreter der Großmächte vom Grafen Perponcher, als dem Marschall des Palastes, empfangen, weiter vom Ober-Haus- und Hofmarschall, Grafen Pückler. Im Vorzimmer standen die General- und Flügeladjutanten, der Adjutant des Kronprinzen, und dann führte Graf Stillfried, in seiner Eigenschaft als Einführer der Botschafter, die Bevollmächagten in einen Saal, der im alten Theile des Schlosses liegt und mit rothsammtnen goldgestickten alten Turiner Tapete bekleidet ist. Hier stand der Kronprinz in Stellvertretung seines kaiserlichen Vaters und nahm die Anrede der Bevollmächtigten in französischer Sprache entgegen, die auch während der Debatten des Congresses gebraucht wird. Es war gewissermaßen, trotz der entfalteten Pracht, ein Privatempfang, und darum war auch Fürst Bismarck, wie das sonst dem Minister der Auswärtigen Angelegenheiten zukam, nicht zugegen.

Der große Empfang sämmtlicher Bevollmächtigter mit dem ganzen Generalstabe, den sie mitgebracht hatte, erfolgte erst am anderen Tage im Rittersaale des königlichen Schlosses vor dem Galadiner, welches ihnen zu Ehre der Kaiser gab. Hier war der Fürst-Reichskanzler an seinem Platze. Man mußte sich aus dieser Hünengestalt, die zwar die bekannte Kürassieruniform trug, aber an Leibesumfang bedeutend zugenommen hatte, auf diesem mit einem schneeweißen Vollbart umrahmten Gesichte die historische Bismarck-Erscheinung erst heraussuchen, so sehr hatte sich das Aeußere des Fürsten verändert. Jede Spur von Krankheit aber war verschwunden; der Fürst schien an körperlicher Frische zugenommen zu haben und zeigte im Verkehr mit den ministerpräsidentlichen Collegen seine ganze Liebenswürdigkeit; er hatte an diesem Tage, wie die Franzosen sagen, la bouche d’or. Man hatte bei dieser Gelegenheit allen Glanz des Hofes herausgekehrt. Am Fuße der Wendeltreppe stand eine Ehrencompagnie; die Garde du Corps und die Krongarde gaben in den Sälen die Wache; das große neue Silberzeug des königlichen Hauses war aufgestellt; die Nationalfarben der verschiedenen Großmächte waren durch natürliche Blumen in großen silbernen Schalen hergestellt. Aber es wollte in der ganzen großen Gesellschaft, die da unter den Krystallkronleuchtern des Weißen Saales in goldgestickten Uniformen und Ordenssternen saß, keine rechte festliche Stimmung Platz greifen. Der Gedanke an den Kaiser war in allen Gemüthern lebendig. Man hatte ihn an der Seite der Kaiserin so oft in diesem Saale sitzen sehen im ganzen Glanze seiner Würde, in der Weihe seines begnadigten Greisenalters. Der Platz, den er sonst einzunehmen pflegte, war durch sein lebensgroßes Bild ausgefüllt, aber auch ohne dieses wäre er Allen im Geiste gegenwärtig gewesen, und Jeder empfand einen Theil der Schmerzen, die er in seinem einsamen Krankenzimmer litt – der Kronprinz und die Kronprinzessin voran. Die Großherzogin von Baden zeigte unverkennbar, daß sie lieber zu Hause geblieben wäre. Den Kindern schwebte gegenüber diesem Kaiserbilde die gebrochene Kaisergestalt vor, die sie noch vor einer Stunde gesehen hatten, und als vom Orchester die Töne der Musik erklangen, sah man es der Tochter an, wie dieselben den Schmerz der Seele lösten und wie ihre Augen sich mit Thränen füllten.

Eine Macht war noch in diesem Saale vertreten, von der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 478. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_478.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)