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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Indessen war der Ruine bereits andere Gesellschaft geworden.

Dem Oberforstrath hatte am Morgen die Gegend den günstigen Eindruck des Abends vollauf bestätigt. Lina stimmte bei, und auf das Wort des Gymnasiasten, der vor Begierde brannte, die Ruine einer wirkliche Ritterburg zu durchwandern, wurde beschlossen, den Tag zu einem Ausflug nach dem Falkenstein zu verwenden. Mit Entzücken wurde die herrliche dreifache Aussicht bewundert, welche nach der einen Seite das weite, kaum übersehbare Flachland mit seinen bethürmten Dörfern, Schlössern und Märkten öffnete, nach der andern das Innthal mit den Schroffen des majestätischen Wildkaisers, gegenüber aber, hinweg über lachende Fluren und den mächtige Strom, die wunderlich geformten Hörner und Zacken des Heuberges zeigte. Der Vater wurde bald von dem herrlichen Waldstand an den Bergen zu einem Waldgange angelockt.

Lina, welche heute erst vollauf die Nachwehen des gestrigen schmerzlichen Schreckes empfand und, wenn möglich, über Nacht noch blässer geworden war, hatte sich im Schloßhofe eine Stelle gesucht, um den Thurm mit dem alten Nußbaum zu skizziren; Karl aber schwelgte in einem längst ersehnten Genuß. Er hatte ein Miniaturbändchen mit Matthisson’s Gedichte eingesteckt, um dessen Elegie „In den Ruinen eines Bergschlosses geschrieben“ auch „in den Ruinen eines Bergschlosses“ zu lesen.

Leider wollte die erwartete Wirkung sich nicht einstellen – wie er auch laut und mit begeisterter Stimme sprach: das Gedicht blieb Gedicht und wollte sich nicht verkörpern. Schon als er begann:

„Schweigend, in der Abenddämm’rung Schleier
Ruht die Flur – das Lied der Haine stirbt –“

wirkten gleich die ersten Worte wie abkühlende Tropfen. Es war ja nicht Abend; die Flur ruhte nicht, überall regte sich vielmehr das vollste Leben, und anstatt zu sterben, schmetterte das Lied der Haine erst recht lustig aus den Baumwipfeln des einsamen Ortes. Dafür gelangte die in den letzten Absätzen ausgedrückte hohe Wehmuth über die Vergänglichkeit aller Erdengröße zu desto schönerem Ausdruck. Der einzige menschliche Zuhörer, seine Schwester, war heimlich ergriffen, und als er zu den Worten kam:

„Süße Liebe! Deine Rosenauen
Grenzen an bedornte Wüstenei’n“,

schlug sie ihr Skizzenbuch zu und schritt auf der von Büschen umsäumten breitem Schloßmauer gegen den Thurm entlang, um mit sich und ihren Gefühlen allein zu sein.

Ein breiter, von Rosen überwachsener Thorweg führte zu diesem, einst dem Haupteingange der Burg hinan; in der weiten, modrigen Halle stieg eine leicht gezimmerte Treppe in die oberen Stockwerke; unter derselben gähnte dem Eintretenden eine schwarze Höhlung entgegen; der nun verschüttete Eingang in die Kellergewölbe, von deren geheimen Schätzen manche Sage im Volke umging, war damals nur mit Mühe und nicht ohne Gefahr zu betreten. Sinnend ließ sie sich auf losgelösten und herabgefallenen Steintrümmern nieder; Bilder der Vergangenheit zogen an ihr vorüber; Bilder der Zukunft dämmerte auf: Zeichen und Sinnbilder, für beide brauchte sie nicht weit zu suchen. An einem Strauche wilder Hagerosen, der neben ihr am Gemäuer emporrankte, waren schon die meisten Blumen verblüht, und die Blätter lagen abgefallen und zerstreut auf dem Schutthaufen umher. Sie erkannte sich selbst darin. Sie blickte empor in die mächtige Halle, die über ihr aufstieg, und sie mußte des stattlichen Baues gedenken, den dieselbe einst getragen und der sie nun in seinen Trümmern umgab. So waren die Rosenauen ihrer Liebe verblüht; so war auch das Gebäude ihrer Träume und Hoffnungen eingestürzt, und was davon geblieben, war Schutt, auf welchem Dorngestrüpp wucherte und nur die Erinnerung hier und da ein verbleichendes Rosenblatt fallen ließ.

Sie gedachte der Zeit, als Linkow in voller Jugendschönheit zum ersten Male vor sie getreten war, frei und offen, ein echter Künstler, dessen Namen trotz seiner Jugend der Ruhm bereits auf seine Fittige genommen hatte. Der erste Funke eines Gefühls, das sie nie gekannt, war damit in ihr junges Herz gefallen und entglomm stärker mit jeder Begegnung, bis die Flamme, aus beider Herzen emporlodernd, über ihren Häuptern zusammenschlug. Auch dem Oberforstrath hatte der ansehnliche junge Mann einen guten Eindruck gemacht. Seine Verhältnisse waren offenbar die eines reichen Adeligen, der die Kunst mehr zum Vergnügen betrieb, sie aber doch in einer Weise übte, welche zur Ehre auch Gewinn verhieß – er glaubte seine einzige Tochter nicht in bessere Hände geben zu können. So war denn bald die Verlobung angesetzt, und das Fest schien ganz dazu angethan, den Anfangsring für eine Kette von glückseligen Tagen und Jahren zu bilden. Eben wollte sich der Vater erheben und den versammelten Verwandten und Freunden festlich das frohe Ereigniß verkünden, als ein Fremder gemeldet wurde, der ihn ohne Aufschub sofort zu sprechen wünschte. Es war der Oheim Linkow’s, eigens aus Berlin gekommen, um gegen die Verbindung desselben die ernsteste Einsprache einzulegen.

Der junge Mann war bereits gebunden, in einer durch Familien- und Erbverträge gesicherte Weise gebunden, welche das Wohl und Wehe ganzer Geschlechter von dieser Verbindung abhängig machte. Dazu kam der entschiedene Wille des Vaters, der mit Enterbung, Verstoßung und Fluch drohte. Linkow, im Feuer seiner Liebe, hatte das verschwiegen, weil er trotz der bestimmtesten Versicherungen des Gegentheils immer auf Einwilligung gehofft und dieselbe schließlich durch eine vollzogene Thatsache zu erzwingen gemeint hatte.

Jetzt war der Schleier zerrissen, das Geheimniß enthüllt und der Abgrund, der es verborgen, lag offen da. Ein plötzliches Unwohlsein des Vaters mußte den Vorwand geben, das Fest zu unterbrechen und die Verlobung zu verschieben. Des andern Tages war Oskar von Linkow mit dem Oheim abgereist; den Vater und Lina entführte eine Reise zu Verwandten. Von Linkow kamen wohl einige Male Briefe, welche indeß die Wachsamkeit des Oberforstrathes zu unterdrücken wußte.

Fast drei Jahre waren verflossen, seitdem auch die Briefe aufgehört hatten.

In der Einsamkeit und Stille des Ortes, welche ihr den eigenen Pulsschlag hörbar machte, stürzte nun die ganze Wucht der Vergangenheit auf Lina’s noch immer blutendes Herz, das mit der Zukunft abgeschlossen hatte; sie war wie eine jener weißen Wasserrosen, welche nur einmal blühen, um dann für immer auf den Grund zu versinken.

Schritte, welche sich über die Thurmtreppe herab näherten, schreckten sie empor. Sie sprang auf und wollte entfliehen – es war zu spät. Linkow stand ihr auf der letzten Treppenstufe gegenüber; sie konnte nicht ausweichen; sie mußte ihn entweder an sich vorübergehen lassen oder sich entfernen – das letztere verschmähte sie, weil es einer Flucht geglichen hätte, die ihrer nicht würdig war. Sie fiel auch nicht in Ohnmacht wie gestern; sie blieb ihrer Sinne vollkommen mächtig und sah fest dem entgegen, was kommen sollte.

Eine nicht minder heftige Bewegung hatte sich des Malers bemächtigt. Langsam trat er die letzte Stufe herab und näherte sich Lina mit ehrfurchtsvoller Verbeugung.

„Entschuldigen Sie, mein Fräulein,“ sagte er mit gepreßter Stimme, „wenn ich Ihnen noch einmal meinen verhaßten Anblick aufdrängen muß.“

„Sie irren, Herr von Linkow,“ erwiderte Lina. „Ich habe allerdings weder gehofft noch gewünscht, Ihnen in diesem Leben noch einmal zu begegnen, aber ich hasse Sie nicht.“

„Ich habe es von Ihnen nicht anders erwartet,“ sagte Linkow warm. „Sie sind zu edel. In Ihrem Gemüthe lebt keine Faser von Haß – – –“

„Erlauben Sie mir, mich zu entfernen,“ unterbrach ihn Lina mit bebender Stimme, „um einem Gespräche ein Ende zu machen, das keinen Zweck hat!“

„O nein!“ rief Linkow, ihr hastig und leicht in den Weg tretend. „Entfliehen Sie nicht! Diese Begegnung hat allerdings einen Zweck – einen hohen, einen erhabenen Zweck.“

„Der könnte sein?“

„Meine Rechtfertigung.“

„Die ist unmöglich.“

„Sie haben Recht – ich habe einen falschen Ausdruck gewählt. Ich kann mich nicht rechtfertigen und will es auch nicht, aber ich kann wenigstens versuchen, Ihnen zu erklären, was bisher unerklärlich war. Karoline,“ fuhr er feurig fort, „ich habe Sie von unsrer ersten Begegnung an geliebt – ich war von da ab fest entschlossen, Sie zu erwerben, und wenn ich Ihnen den Widerstand meines Vaters verschwieg, so geschah es nur, weil ich auf endliche Zustimmung ganz bestimmt hoffen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 522. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_522.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)