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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

zu dürfen glaubte, wenn er die Ausdauer meiner Liebe kennen, wenn er vollends Sie gesehen haben würde. Wie furchtbar enttäuscht ich von Ihnen gerissen, ja gestoßen wurde, brauche ich Ihnen nicht zu sagen. Mir blieb keine Zeit, keine Gelegenheit, Ihnen Aufklärung zu geben; meine Briefe wurden mir zurückgesandt. Jetzt führt Sie ein günstiger Zufall mir ohne Zeugen entgegen. Nein, ich spreche mit Schiller: ‚Es giebt keinen Zufall, und was wir Zufall nennen, das steigt gerade aus den tiefsten Quellen.‘ Es ist mein Schicksal, das mich noch einmal im Leben vor Sie führt.“

„Mein Herr!“ erwiderte Lina unsicher. „Welche Sprache!? Denken Sie Ihrer Pflichten!“

„Pflichten? Ich habe keine, ehe ich nicht Ihrer Verzeihung sicher bin. Ich kann den Gedanken, ohne diese Verzeihung von Ihnen zu gehen, nicht mitnehmen in mein Leben.“

Lina blickte schweigend zu Boden; sie vermochte weder zu erwidern, noch sich zu entfernen.

„Sie geben mir keine Antwort?“ fragte Linkow nach kurzer Pause der Erwartung. „O, Sie verdammen mich doch, und ich soll das tragen zu dem elenden Dasein, dem ich entgegen gehe; wissen Sie nicht, daß es die furchtbarste Einsamkeit ist, in der man zu Zweien lebt?“

„Seien Sie ein Mann, Linkow!“ entgegnete Lina, „ertragen Sie männlich, was Sie müssen! Wenn Sie nicht die Kraft dazu haben … was soll ich thun, ein schwaches Mädchen!“

Linkow, der im höchsten Grade erschüttert vor ihr gestanden, raffte sich auf und trat einen Schritt zurück.

„Ich will es, Fräulein!“ sagte er unsicher. „Nur reichen Sie mir noch einmal die Hand! Diese theure Hand, die mir gehören, die mich durch’s ganze Dasein führen sollte, wie die meines guten Genius!“

Auch Lina war tief ergriffen; sie schwankte einen Augenblick; dann sagte sie mit von Thränen erstickter Stimme: „Ich glaube kein Unrecht zu begehen, wenn ich Ihren Wunsch erfülle – ich bin schwach genug, ihn zu theilen.“

Sie reichte ihm die Hand, die er leidenschaftlich ergriff.

„O Karoline!“ rief er und machte eine Bewegung, als ob er sie an seine Brust ziehen wolle; Lina stand unmittelbar vor ihm, und es war ungewiß, ob sie die Kraft besaß, sich der Umarmung zu erwehren.

Die Stimme des Forstrathes scheuchte die Beiden aus einander.

„Ist das die Art, wie Sie Ihr Ehrenwort halten, mein Herr?“ rief der alte Mann mit zorngeröthetem Antlitz.

„Vater –“ „Herr Oberforstrath erlauben –“ riefen die Beiden durch einander.

Der Vater wies Lina mit zürnender Geberde bei Seite und trat fest und hochaufgerichtet vor Linkow. „Ich erlaube nichts,“ rief er in gesteigertem Zorne. „Mit einem Manne wie Sie habe ich nichts weiter zu reden. Sie sind ein Elender.“

„Herr – Herr Oberforstrath!“ stammelte Linkow mit erbleichenden Lippen. „Sie – der Vater dieses Mädchens, haben dieses Wort gesagt – Sie haben es in der Verblendung des Zornes gethan; darum hab’ ich es nicht gehört, aber ehe Sie richten, müssen Sie mich anhören, wie Ihr Fräulein Tochter mich angehört hat.“

„Meine Tochter hat daran sehr unrecht gethan,“ sagte Wallner ruhiger. „Was gäbe es, was zwischen Ihnen und meiner Tochter zu verhandeln wäre? Sie sind vermählt –“

„Das bin ich nicht, Herr Oberforstrath,“ sagte Linkow. „Die Dame, welche durch die Verhältnisse mir zur Gattin bestimmt ist, war zur Zeit der Verlobung erst in den Kinderjahren. Die Verbindung wird erst in einiger Zeit stattfinden.“

„Und was haben Sie hier zu schaffen?“ rief der Forstrath wieder. „Indem Sie sich entschuldigen, verwickeln Sie sich immer verächtlicher.“

Die Scene konnte nicht peinlicher sein. Lina brach in helles Weinen aus, Linkow blickte im heftigsten inneren Kampfe vor sich nieder, während die Augen des Forstraths halb bekümmert halb grollend auf ihm ruhten. Wie eine Erlösung vom Himmel kam es über Alle, als plötzlich Schritte vom Thorweg her schollen und Gertl mit dem Schreiben in der Hand erschien. Einen Augenblick stutzte sie; dann trat sie auf den Maler zu. Der Wirth von Flintsbach habe ihm einen Brief nachgeschickt, sagte sie, der sehr wichtig sein müsse, denn ein eigener reitender Bote habe ihn von Rosenheim gebracht.

„Meines Vaters Hand!“ rief Linkow, aus dessen Hand Hut und Malergeräth, die er ergriffen, niederfielen. „Was ist hier geschehen? – ‚Mein lieber Oscar!‘“ las er mit bebender Stimme, doch laut genug, um von Allen verstanden zu werden, während das Blatt in seinen Händen immer mehr zu fliegen begann. „In Eile die Nachricht: Deine Braut hat sich von einem Gardelieutenant entführen lassen und ist bereits mit ihm getraut. – Dieses Ereigniß und die Zustimmung Deiner Familie machen Dich von allen Verpflichtungen los – Du bist frei.“

Eine Pause vollster Ueberraschung folgte. Gertl, die wohl den Zusammenhang errieth, war so bewegt, daß sie wie fest gewurzelt stand, obwohl das Geschäft, das sie hierher geführt, beendet war.

„Frei!“ rief Linkow entzückt. „Frei? Nein, ich bin es nicht. Ich bin gebunden. Hier war, hier bin ich gebunden; hier will ich gebunden sein und bleiben für das Leben und darüber hinaus in alle Ewigkeit.“

Er stürzte zu Lina’s Füßen, die noch immer an der Brust ihres Vaters lag, faßte ihre Hand und drückte sie innig an den Mund; wie einem entsetzlichen Traume sich entwindend, sah und richtete sich das Mädchen empor – wie gestern vor Schmerz vergingen ihr jetzt die Sinne vor Entzücken, und mit schwindendem Bewußtsein sank sie Linkow in die Arme, um, selbst durch den Schleier halber Ohnmacht erröthend, den ersten Kuß auf ihre Lippen zu empfangen.

Gertl eilte hinzu, ihr wie gestern beizustehen, ihr wie am Tage zuvor mit Wasser aus dem nahen Quelle die Schläfe zu befeuchten und sie, wie gestern zum Leid, zum vollen Sonnenschein des Glückes zu wecken.

„Nun, hab’ ich nicht Recht behalten, liebes Fräul’n?“ flüsterte sie ihr zu. „Hab’ ich nicht gesagt, es ist nichts mit dem Unglück und mit dem Aufg’setzt sein? Siehst jetzt – unser Herrgott hat doch Alles recht gemacht.“

Lina konnte ihr nur mit einem Händedruck antworten. Linkow hatte indessen beim Vater die Bitte um die Hand seiner Tochter erneuert.

„Was will ich machen?“ sagte der Oberforstrath ernst. „Nehmen Sie denn mein Kind,“ fuhr er fort, indem er Linkow’s Hand in die Karolinens legte, „versuchen Sie, ihr Leben und Gesundheit durch Ihre Liebe wiederzugeben! Gehört denn einander und rechtfertigt die Fügung des Himmels dadurch, daß Ihr Euch Euren Himmel schon auf Erden schafft!“

Mit den Empfindungen des reinsten Glückes betrat die Familie wieder den oberen Schloßhof und blickte verklärten Auges in die Abendlandschaft hinaus. Auch der Gymnasist hatte sich eingefunden. Er war außer sich vor Freude und holte seinen Matthison wieder hervor. Jetzt war das Gedicht lebendig geworden. Vom nahen Abendthau gelockt, hatte sich sogar das früher vermißte Heimchen eingefunden und begann sein leises Gezirp; auch das Brautpaar, das sich nach langer Trennung wieder gefunden, fehlte nicht, und es hieß in Wahrheit:

„Ihm die treue Rechte sprachlos reichend
Stand sie da, erröthend und erbleichend;
Aber was ihr sanftes Auge spricht,
Sängen selbst Petrark und Sappho nicht!“

– Schweigend, um die Glücklichen nicht zu stören, hatte Gertl indessen sich fortgemacht und den Weg zum Wallfahrtskirchlein auf dem Petersberg angetreten. Allerlei Bilder ähnlichen Glücks, wie sie es eben mit angesehen, tauchten vor ihr auf, und ein nie gekanntes Sehnen hob ihre Brust.

Sie war noch nicht weit gekommen, als sie Männerschritte gegen sich von oben herab kommen hörte und den alten Förster in voller Jagdrüstung über den steilen, steinigen Berg etwas mühsam herniederklimmen sah. Sie rief dem wohlbekannten Mann einen freundlichen Gruß zu, den er aber nur mit einem unwilligen Murren erwiderte; er zaus’te dabei an dem grauen Schnurrbart herum, als ob er dessen Festigkeit prüfen wolle.

„Der muß heut mit dem linken Fuß aufgestanden sein,“ sagte Gertl, ihm unter Lachen nachblickend.

Bald hatte sie den sogenannten Petersstein erreicht, eine kleine Steinplatte, von welcher eine steile Felswand in schauerliche Tiefe abstürzt, welche indeß zugleich einen überraschenden offenen Ausblick in die Gegend gewährt. Auf dem Stein ist der Eindruck

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 523. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_523.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)