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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)


dem Scheunenthor zu nähern; er wäre in den sicheren Tod gegangen. „Es geht nicht,“ schrie Alles durch einander; „das Dach stürzt jeden Augenblick ein; es hilft auch nichts mehr – die ist schon verloren; beten wir lieber ein ‚Vater unser‘, daß ihr unser Herrgott beisteht in ihrer schrecklichen Sterbestund’!“

Todtenstille ward rings, nur unterbrochen von dem Murmeln der betenden Stimme, von dem Knistern und Knattern der Flammen oder dem Gepolter hier und da stürzender Balken und Steine.

„Laßt mich durch!“ schrie plötzlich mit schallender Stimme ein Mann, der mit starkem Arm sich durch die Menge drängte und auf die Scheune zustürzte. Bei seinem Erscheinen brach Alles in Ausrufungen des Schreckes und der Verwunderung aus – des Schreckens, weil Niemand noch eine Rettung für möglich hielt und den Kühnen nur in den gewissen Tod gehe sah – der Verwunderung, denn der unerwartete Retter war keine fremde Person. Es war offenbar der blöde Krüppel, der Tiroler Stummerl, den jedes Kind kannte, und doch so verändert, daß man Mühe hatte, sich an ihm zurecht zu finden. „Was ist denn das?“ ging’s durch einander. „Wo hat denn der Stummerl seinen Stelzfuß hingebracht? Wie hat er geschwind so gut reden gelernt?“

Es war keine Zeit, sich darüber Antwort und Aufschluß zu holen – der Augenblick der furchtbaren Entscheidung war gekommen. Unbekümmert um den Funkenregen, der auf ihn niedersprühte, hatte der Mann die Balken am Eingang bei Seite geschleudert, den Riegel zurückgestoßen, und von der Gluth beschienen sahen Alle mit einem Aufschrei des Entsetzens das vermißte Mäschen hart an der Schwelle, einer Todten ähnlich, dahingestreckt. Kräftig hob der Fremde sie empor und eilte mit seiner Last in’s Freie – unmittelbar hinter ihm prasselte das einstürzende Gebälk nieder.

Beinah im nämlichen Augenblick kam die Mutter zur Besinnung, gerade recht, um ihr gerettetes und unversehrtes Kind in den Arm zu nehmen. Alles drängte glückwünschend und fragend herbei, aber der Retter ließ das Mädchen nicht mehr aus den Armen und schlug, von der Mutter begleitet, mit raschen Schritten den Bergweg nach der Hütte ein.

„Laßt ihn nur gehen!“ sagte der alte Förster. „Jetzt wissen wir auf einmal, was hinter dem Tiroler Stummerl steckt, der uns so lange zum Narren gehalten hat. Jetzt weiß ich, wer der Wildschütz war, der mir immer einen Hirsch weggeputzt und der mir die Kugel in den Arm gejagt hat. Damals hat er sich das Gesicht schwarz gemacht, aber ich hab’ ihn doch gleich erkannt, wie er auf’s Feuer zugesprungen ist.“

Allmählich verglomm der Brand. Die obdachlos gewordene Familie war, so gut es anging, in den Nachbarhäusern untergebracht; einige Männer blieben als Wächter bei der Brandstätte zurück, auch der Wirth und die Grenzer schickten sich zu Umkehr und Aufbruch an. Der Wirth lud sie ein, bei ihm vorzusprechen und nach dem Schrecken und der durchwachten Nacht einen stärkenden Trunk zu nehmen. Die Grenzer lehnten es ab; sie wollten die unterbrochene Runde wieder aufnehmen. Sie hatten vor, Gori noch in der Nacht in seiner Hütte zu überfallen und Haussuchung zu halten, den es hatten sich neue Verdachtsgründe ergeben, daß er wirklich der kühne Schmuggler gewesen, der ihnen durch Untertauchen entkommen war. Sie hatten die Mütze, die er gewöhnlich zu tragen pflegte, und die von ganz eigener Form war, aus dem Inn aufgefischt – offenbar mußte sie ihm beim Untertauchen entfallen und an den Stauden des Ufers hängen geblieben sein.

„Ja, ja, da fehlt sich nichts,“ sagte der Wirth mit lauter Stimme. „Es ist halt nichts so sein gesponnen, es kommt doch an die Sonnen.“

Im Moment fiel ein noch stehender Balken des Hauses um, und seine Funken streuten hellen Schein über die Gegend und besonders auf das Felsstück, hinter welchem Gori lauerte.

Er hatte schon daran gedacht, sein Versteck zu verlassen, aber er hatte es bisher nicht vermocht, weil er sonst durch die versammelte Menge hätte gehen müssen, was sein schlechtes Gewissen ihm nicht gestattete, da er ja seine Anwesenheit durch nichts zu erklären vermocht hätte und also selbst den Argwohn gegen sich wachgerufen haben würde. Auf der andern Seite gab es keinen Ausweg als über eine steile, mit einigen Bäumen bewachsene Felswand über die nur mit Gefahr des Lebens hinabzukommen war. – Eben hatte er sich spähend hinter dem Felsen etwas vorgebeugt, als der Feuerschein ihn traf und den Grenzern sichtbar machte.

„Holla!“ schrie Einer auf. „Da ist er ja. Wie kommt denn der daher? Jetzt soll er uns nicht mehr entkommen; jetzt haben wir ihn.“

Sie eilten dem Felsen zu, aber ihre Hoffnung wurde dennoch vereitelt, denn Gori hatte schon auf gut Glück einen Baumwipfel an der Wand ergriffen und schoß oder stürzte vielmehr vor ihren Augen über diese hinunter.

„Der bricht den Hals,“ sagte hinzueilend der andere Grenzer, aber Gori hatte sich unten schon aufgerafft und rannte bereits mit der Schnelligkeit eines Hirsches das ebene Thal entlang. Er wußte noch nichts von dem neuen Verdachte wegen der Schmuggelei, und als die Grenzer sich zu seiner Verfolgung anschickten, konnte er, auch noch den laut gesprochenen Worten des Wirthes, nicht anders vermuthen, als daß man ihn wegen der Brandlegung in Verdacht habe. Die Angst, dafür zur Verantwortung gezogen zu werden, beflügelte seinen Lauf.

„Lauf nur zu!“ sagten die Grenzer, „wir holen Dich schon ein; über’s Wasser kann er nicht hinüber; Einer von uns geht rechts am Ufer hinauf, der Andere links. – Wir gehen Dich ein, wie einen Fuchs im Bau.“

Dieselben Gedanken leiteten Gori bei seiner Flucht. Blieb er diesseits des Flusses, so war er verloren; jenseits desselben, im fremden Lande, war er gerettet oder wenigstens für geraume Zeit geborgen. Alles kam daher darauf an, über den Strom zu kommen, so schnell, daß keiner seiner Verfolger ihm den Vorsprung abzugewinnen vermochte. Konnte er die Ueberfuhr vor ihnen erreichen, so war Alles gewonnen. War auch die Fähre bei Nacht nicht mehr im Gange, er hatte schon einmal ohne sie den Weg über den Strom gemacht, und was ihm einmal gelungen, konnte und mußte wieder gelingen. Keuchend, ohne anzuhalten, rannte er durch Busch und Wiese auf nur ihm bekannten Wege dem Strome zu, und als wollte es ihn beschützen, war schwarzes Gewölk aufgestiegen und hatte sich wie eine breite Wand vor den Mond gelagert. Schon hatte er das Ufer vor sich, aber seinem falkenscharfen Auge entgingen die beiden Gestalten nicht, die wie Schatten von beiden Seiten durch die Niederung und am Abhange einherschlichen und ihn vom Strome abzuschneiden suchten. Die letzte Kraft zusammenraffend, kam er vor dem ersten Altwasser an, taumelte über den Steg und sah in geringer Entfernung vor sich das dunkle Gerüst der Ueberfuhr emporsteigen. Aber hinter sich hörte er bereits den Laufschritt der Verfolger, ihren Zuruf und ihre Drohung, ihm eine Kugel nachzuschicken, wenn er nicht anhalte, aber er wußte, daß sie kein Recht hatten, die Drohung zu verwirklichen, und daß sie nicht wagen würden, nach ihm zu schießen – er ließ sich nicht beirren. Noch wenige letzte Sprünge, und er war glücklich am Gestelle angelangt, als eben die Grenzer, aus dem Gebüsche auftauchend ebenfalls näher kamen.

In wenigen Augenblicken hatte Gori das Gerüst erstiegen und das Seil erfaßt. Höhnisch rief er den Verfolgern zu, wenn sie ihm etwas zu sagen hätten, sollten sie es ihm nachthun … Gewandt, geschickt und sicher bewegte er sich mit wechselnden Händen an dem Seile vorwärts.

Bald hatte er die Mitte des Stromes erreicht, als er plötzlich seine Kraft erlahmen fühlte: die Erregung und die Anstrengung hatten ihn mehr angegriffen, als er geglaubt – ein verhängnißvolles Zittern überkam ihn. Er mußte das Seil mit einem Arme loslassen. … Von Todesangst erfaßt, ermannte er sich noch einmal – es wäre ihm wohl auch gelungen, das Seil noch einmal zu fassen und den gefährlichen Weg zurückzulegen, – da riß wie auf ein Zauberwort der Wolkenvorhang vor dem Monde entzwei, und durch die klare Lücke sah derselbe in den Strom hernieder und hielt ihm da sein Spiegelbild entgegen … es war, als ob aus der bewegten Welle ein drohendes, blasses Angesicht auftauchte, als ob sich ein Hülfe verlangender Arm daraus ihm entgegenstreckte; ihm war, als müsse er mit der freien Hand nach dem Arme haschen; da glitt unwillkürlich auch der andere Arm hernieder – und mit schwerem Schlage stürzte er hinunter in den Strom. –

(Schluß folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 540. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_540.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)