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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

No. 35.   1878.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Ernst Keil
Ein Lebens- und Charakterbild.


Auf den Höhen des thüringischen Gebirges war es, an einem prachtvollen Septembertage. Nach längerer Frist hatte ihn die Sehnsucht wieder einmal auf eine jener hastigen Erholungsfahrten getrieben, die er sich nicht alljährlich gönnte und denen er doch stets die ermunterndste Belebung verdankte. Lebhafte, von drolligem Scherz bewegte Unterhaltung ist ihm überall und allezeit Bedürfniß gewesen. Dort oben aber in der würzigen Luft, auf den grünen Bergen und in den majestätischen Wäldern des geliebten Heimathlandes ging ihm viel anders das Herz auf, und den ganzen Tag hindurch hatte er laut sein Entzücken über den Wechsel reizender Naturbilder geäußert und seiner Spaßlaune den frischesten Lauf gelassen, bis er zuletzt auf das Lieblingsthema seiner behaglichsten Stunden gerieth, auf die wehmüthig-heiteren Erinnerungen an Ereignisse und Personen der beiderseitigen Vergangenheit. Manches, was ich in den lebhaften Gesprächen auf diesem Wege von ihm gehört, erscheint mir erst jetzt als bedeutsam zur Kennzeichnung seines Wesens und seiner Gesinnungen. Wir hatten den Wagen langsam voranfahren lassen und standen im Schimmer der Abendsonne an einem von mächtigen Tannen umkränzten Vorsprung, einem hellen und luftigen, tiefstillen und doch keck in die anmuthigste Fernsicht hinausschauenden Plätzchen, das schon von Weitem seine Aufmerksamkeit erregt hatte.

„Sehen Sie,“ sagte er, „so ungefähr, nur viel höher noch liegt der Punkt, auf dem ich mir vor Jahren in einem anderen Theile des Waldes gern mein letztes Schlummerstübchen gedacht habe, es ist mir nur sehr schwer gemacht worden, den Streifen Erde käuflich zu erwerben.“

Von diesem Plane hatte er oft gesprochen, und seine Freunde hatten stets etwas ungläubig dazu gelächelt. Das mochte ihm einfallen, als er fortfuhr: „Ich begreife gar nicht, was man daran so abenteuerlich finden kann. Von Jugend an habe ich mich vergebens nach einem Aufenthalt in diesen Bergen gesehnt und möchte nun wenigstens einmal in ihrer Mitte begraben sein. Den Tod fürchte ich nicht, aber grausig wird er mir durch den Gedanken, daß ich einmal in städtischer Erde vermodern soll und in so zahlreicher Gesellschaft. Doch warum heute vom Sterben reden … so weit sind wir noch nicht, und bevor ich an’s Schlafengehen denke, habe ich noch einen ganz anderen Wunsch. Noch fühle ich mich rüstig und meiner Arbeit gewachsen … aber es muß doch einmal Abend werden, und da möchte ich noch eine hübsche Reihe Jahre leidlich rüstig und an einem nicht ganz abgeschiedenen, aber doch stillen und schön gelegenen Orte den Meinigen leben. Meine alten Freunde würden mich besuchen und an Beschäftigung würde es mir auch nicht fehlen. Ich habe so viel erlebt, daß ich endlich werde Zeit und Ruhe suchen müssen, wenn ich es noch aufschreiben soll!“

Noch sind es nicht vier Jahre, daß der stattliche, frisch und blühend aussehende Mann auf seiner letzten Tour über die heimischen Berge ein munteres Reisegespräch mit ernsthafter Betonung jener beiden Wünsche schloß. Beide sind ihm nicht erfüllt worden. Auf dem Leipziger Friedhofe hat er sein Grab gefunden, wie er das sicher auch in den letzten Jahren nicht anders gewollt und bestimmt hatte. Mit der so freundlich ausgemalten Ruhezeit aber und dem Memoirenschreiben ist es auch nichts geworden, ein Umstand, der sehr zu beklagen und unbedingt auf das Verlustregister unserer zeitgeschichtlichen Literatur zu setzen ist. Selbst in Betreff seiner eigenen Vergangenheit haben sich nur einige flüchtige Bleistiftnotizen in dem Nachlasse des Vielbeschäftigten gefunden.

Wollen wir uns also ein deutliches Bild seines Lebens und der inneren Zusammenhänge desselben vergegenwärtigen, so müssen wir auf unsere eigenen Erinnerungen und Eindrücke zurückgreifen, auf viele allerdings im Laufe der Zeit mündlich und in zahlreichen Freundschaftsbriefen von ihm gemachte Mittheilungen, so wie auf eine bunte Menge sonstiger Papiere, wie sie bei großem und langjährigem Schriftverkehr in Mappen und Pulten sich anzusammeln pflegen. Dieses letztere Material ist meist nur indirecten Inhalts, bietet aber gerade deshalb dem Rückblicke und Urtheil des Eingeweihten oft die interessantesten Bestätigungen und Anhaltspunkte in einer Fülle von scheinbar untergeordneten Kleinigkeiten. Da liegt z. B. ein hoher Stoß alter Journal- und Zeitungsnummern verschiedenster Art, aus allen möglichen Ländern und Gegenden, bedeckt mit dem Staube der Jahrzehnte, in deren Verlauf eines dieser Blätter zu dem anderen gesellt wurde – das Stammbuch eines Journalisten.

Der Unkundige würde damit nichts anzufangen wissen. In unserem Gedächtnisse aber frischen nicht wenige der eigenhändigen Randbemerkungen, der roth, blau oder schwarz angestrichenen Stellen bezeichnende Thatsachen, vergessene oder halbvergessene Züge und Beziehungen im äußeren und inneren Dasein des emsigen Sammlers auf. Bemerkenswerth ist namentlich die unterste Schicht, sie stammt noch aus den geistig so bewegten vormärzlichen Tagen, und sicher hat sich auch damals schon zwischen diese Ueberbleibsel einer verschollenen Journalistik jene kleine Urkunde gerettet, die jetzt dort gefunden wurde, als hätte sie in ihrem

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 569. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_569.jpg&oldid=- (Version vom 24.1.2021)