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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

dennoch, und wenn jene Blume dort verwelkt ist und ihre Blätter herabgefallen, wer weiß, was dann ist – ja dann!“

So glücklich hatte Ehrenfried Winter’s Gesicht seit langen Wochen nicht gelächelt, wie jetzt.




Mit eben der guten Laune, in welcher er schlafen gegangen, erwachte der Professor auch am nächsten Morgen; draußen schien die Sonne freundlich; einige Spatzen zwitscherten an seinem Fenster – die Welt, die kleine hier auf der Bergeshöhe – war doch wunderschön. Vater Gottlieb brachte ihm den Kaffee, aber wortlos heute, gegen seine sonstige Gewohnheit; das machte ihn zwar aufsehen, doch er fragte nicht, und als der Alte mit einer Hast, die noch ungewohnter war, sein Zimmer verlassen hatte, flüsterte er:

„Der Wein ist ihm zu stark gewesen, und das trägt er mir nach.“ Er griff zu dem Zeitungspaket und der Pfeife, horchte aber dabei auf jedes Geräusch, das sich unten vernehmbar machte.

„Sonderbare Unruhe heute, ganz gegen alles Herkömmliche! Was ist nur? Und dort schlägt Vater Gottlieb die Thür zu? Müssen auch die Frauen entgelten, daß ihm der Rüdesheimer so gut geschmeckt? Nun kommt es hastig die Treppe herauf –“ Die Zimmerthür wurde aufgerissen, und Jane erschien in derselben. Aber nicht die ruhige, selbstbewußte Jane – die schweren Flechten halb aufgelöst den Rücken herabhängend, im Unterrock aus Beiderwandstoff, wie ihn die Harzerinnen tragen, der nur bis zum Knöchel reicht, und einem Mieder, aus welchem die Hemdärmel bis zum Ellbogen herabhingen, ein Tuch lose um die Schultern geworfen mit hoch gerötheten Wangen, blitzenden Augen und fliegendem Athem – so stand sie da und streckte ihm beide Hände wie beschwörend entgegen: „Herr Professor, helfen Sie mir!“

Erschreckt sprang er empor, die Zeitungen auf den Boden werfend:

„Was ist?“

„Sie sind gut, edel; ich werde Sie nicht vergebens um Hülfe anflehen.“

Er schloß die Thür hinter der Aufgeregten und faßte ihre Hand, um sie nach einem Sessel zu führen, aber sie wiederstrebte ihm.

„Nein, nein, nicht früher, als bis ich Ihr Wort habe – wollen Sie mir helfen?“

Welche Leidenschaft in Ton, Blick und Bewegung – er würde sie nie bei dem sonst so stillen Mädchen gesucht haben.

„Gewiß, Gratiana, unter jeder Bedingung.“

Wie prüfend blickte sie ihm in’s Auge: „Es ist gut; ich habe Ihr Wort.“

Dann sank sie auf den Stuhl und bedeckte, wie um sich zu sammeln, das Antlitz mit beiden Händen; erregt und bleich stand Ehrenfried vor ihr; jede Frage, jeden Laut der Theilnahme zurückdrängend, um ihr Ruhe zu gönnen.

Endlich ließ sie die Hände sinken. „Nun kann ich reden, nun muß ich’s, damit Sie nicht denken, daß ich eine Wahnsinnige bin.“

„Gratiana!“

„O – das wäre keine Unmöglichkeit,“ sagte sie bitter. „Nein, sehen Sie mich nicht so entsetzt an – was ich von Ihnen will, ist Hülfe, Beistand gegen die beiden alten Leute dort unten.“

„Gratiana!“ sprach Ehrenfried und streichelte ihren dunklen Kopf, „beruhigen Sie sich erst. Was will man denn?“

„Es ist das erste Mal, daß Großmutter und Vater strenge mit mir sind und daß ich ungehorsam bin, sein muß.“ Dabei fiel eine Thräne auf die heiße Wange. „Meine Seele ist in Gefahr, mein ganzes Denken und Sein; es ist ein moralischer Mord!“

„Armes Mädchen, verlangt man von Ihnen, daß –“ er konnte nicht weiter reden.

„Ich soll heirathen.“

„Den Conrad?“ setzte Ehrenfried hinzu.

„Ja! – Sie wußten es also?“ fragte sie, und die Falte auf ihrer Stirn wurde düsterer, „Sie finden auch, daß ich dumm und albern bin, wenn ich mich dagegen sträube?“ Sie sprang auf, aber er hielt sie mit beiden Händen fest und drückte sie auf ihren Sitz zurück:

„Thörichtes Mädchen, nein, nein; ich will es nicht, daß Sie den Conrad heirathen, denn –“ Er stockte.

Sie glitt vom Stuhle herab und wollte seine Kniee umfassen; er zog sie empor, konnte aber nicht hindern, daß sich ihre rothen Lippen mit einer dankbaren Bewegung auf seine Hand preßten. Wie seltsam ihn die Berührung durchzuckte!

„Sie wollen es nicht?“ Ein Freudenschein überflog dabei ihr Gesicht. „Nun sollen Sie Alles wissen.“

„Ich wußte es längst, Gratiana; die Großmutter sprach davon – damals schon war mir der Gedanke unerträglich.“

Sie nickte und sagte in ihrer alten Weise, ohne den Blick wieder zu erheben:

„Ich habe nichts geahnt, bis die Großmutter gestern Abend so seltsam sprach, mich schalt, daß ich den Conrad fortgesandt, und heute Morgen kündete mir der Vater an, daß er jetzt dem Conrad sein Jawort geben wolle. Wie ich ihn bat, mich sträubte! – nichts half – und Gründe meiner Weigerung verstehen sie nicht; nur der Herr Anton trage die Schuld, hieß es, der mir den Kopf mit unnützen Dingen angefüllt, daß ich mich nun überhöbe. Und ein für alle Mal dürfe ich, ich möge nun ja oder nein zu dem Conrad sagen, die Schwelle des Lehrers nicht mehr überschreiten. O, Sie wissen nicht,“ fügte sie leidenschaftlicher hinzu, „wie kindliche Dankbarkeit und der Trieb der Selbsterhaltung, der Herzensfreiheit in mir mit einander kämpfen.“

„Der Herzensfreiheit,“ wiederholte Ehrenfried mit starker Betonung, „Gratiana, ist es der Gedanke der geistigen Unzusammengehörigkeit allein, der Sie den Conrad verwerfen läßt – ist Ihr Herz frei – lieben Sie nicht, haben Sie keinen Herzenstraum?“

„Traum?“ sie fuhr über die Stirn und lächelte mühsam, „wer hat nicht Träume?“

„Seien Sie ehrlich, Gratiana!“

Die blauen Augen blickten ihn offen an: „Die Dichter besingen eine Liebe, so schön, so lockend, ich habe aber nie darüber nachgedacht – jetzt kenne ich die Bedeutung, jetzt, nachdem mir der Zwang entgegen getreten; wenn lieben in sich begreift, daß man für Jemand zu sterben bereit ist, daß man sein eigen Selbst gerne opfert, dann – ja, dann liebe ich.“

Mit fliegendem Athem hatte sie die Worte herausgestoßen und war darauf zur Thür geeilt. Ehrenfried stand noch neben dem von ihr verlassenen Stuhl. „Also doch – doch!“ flüsterte er halblaut und folgte ihr langsam.

„Ich habe kein Recht, nach den Geheimnissen Ihres Herzens zu forschen, Gratiana,“ sagte er milde; „aber Sie sollen in mir den Freund, den Bruder sehen.“

Nochmals wollte sie ach demüthig auf seine Hand beugen, aber er zog sie schnell zurück.

„Ich gehe jetzt doch nach Zellerfeld,“ flüsterte sie.

„Und ich zur Großmutter,“ entgegnete er. „Muth und Vertrauen einstweilen!“

„Muth! Wie vielen Muth und welch inniges Vertrauen bricht die Welt oft!“ sagte sie. Ein schmerzlicher Zug lag auf dem schönen Mädchengesicht: „aber ich will hoffen. Immerhin ist die Welt groß – aber was mich stets schmerzt, das ist der traurige Gedanke, daß Einer in der großen, weiten Welt elend und allein verderben kann.“

Ehrenfried nahm ihr Haupt mit einer schnellen Bewegung in beide Hände und drückte einen Kuß auf ihre Stirn:

„Schwester Gratiana, Du bist nicht allein.“ Dann wandte er sich und ging zum Fenster. Als er dasselbe wieder verließ, hatte sich die Thür hinter ihr geschlossen. Er sah sehr ernst und bleich aus.

„Also doch,“ sagte er wie vorhin, „wenn sie wüßte, wie mich das traf! In demselben Augenblicke gewahrte ich ja erst, daß mein eigenes Herz wieder begonnen hatte, zu träumen. – Gratiana! Eine Welt voll Glück umschloß dieser Name für mich – und nun?“ Er bückte sich, hob die Zeitungen empor, glättete sie und flüsterte dann:

„Sie liebt – vielleicht doch ihn? Gewiß sogar. Das Fremde, die gebrochene Sprache, der Titel endlich, das Alles hat sie geblendet – und es ist genug –! O Ehrenfried, welch ein Thor Du warst! Wenn er nur ehrlich denkt! Wehe ihm, wenn’s anders wäre! Es darf, soll nicht anders sein, ich werde wachen, und wehe ihm! Sie gab mir die Rechte eines Bruders und soll sie nicht in schlechte Hände gelegt haben. Und jetzt – zur Großmutter!“

Als er unten über die Schwelle getreten, gewahrte er gleich,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 620. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_620.jpg&oldid=- (Version vom 1.4.2018)