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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Gegen Abend saß der Professor an des Lehrers Seite in der kleinen traulichen Stube zu Zellerfeld. Er wollte sich zerstreuen und doch zugleich von Jane sprechen hören – so ging er zum kranken Lehrer. Sie hatten eine lange wissenschaftliche Unterhaltung; dann lenkte Ehrenfried selber das Gespräch auf das Mädchen.

Ruhig und gefaßt, so erzählte Anton, sei sie zu ihm gekommen, im festen Vertrauen auf des Professors Beistand noch ehe sie dann aber vollendet, habe das Riekchen ihr die Freudenbotschaft gebracht, daß sie Conrad’s Braut sei. Da seien die Wolken von ihrer Stirn wie Nebel an der Sonne verflogen, sie sei dem Riekchen mit Freudenthränen um den Hals gefallen und habe sich gar nicht zu fassen gewußt.

„Ja,“ setzte der Lehrer dann mit ernstem Gesichte hinzu, „diesmal ist es wie eine schützende Macht gewesen – aber wenn Vater Gottlieb mit einem andern Freier hervortrat, wie dann? Ich denke seit heute früh über ihre Zukunft nach. Sehen Sie, Herr Professor, ich will ehrlich sein – einen Augenblick habe ich gemeint, wenn ich zu dem alten Gottlieb ginge und mit ihm redete und ihm Alles vorstellte, wie’s kommen würde, kommen müßte – und dann sagte, ‚Gottlieb, vertraut sie mir!‘“ – seine trotz der Krankheit edel gebliebenen Züge sahen wunderbar verschönt bei diesen Worten aus. „Ich habe es erwogen – auch das wäre eine Sünde; das hieße das blühende Leben an den Verfall fesseln – ich hätte sie gehalten, wie ein Vater sein Kind, wie eine Schwester, wie einen guten Cameraden – aber es wäre doch immer eine Sünde gewesen, beinahe so schlimm, als sei sie des Conrad’s Frau geworden. Seht, der ist ein braver Bursch und meine Schwester wird mit ihm glücklich sein, weil sie nicht über das hinausdenkt, was sie im Hause angeht. Ach, die Jane hätte nie meine Schülerin werden sollen – es wäre für mich ein Verlust, für sie aber vielleicht das gewesen, was die Menschen Glück nennen – im gewöhnlichen Sinne.“

„Haben Sie nie“ – der Professor brachte die Frage nur mühsam heraus – „wahrgenommen, daß sich das Mädchen für irgend Jemand – interessirt – glauben Sie nicht, daß unter den Akademikern –“

„Nein, nein!“ wehrte der Lehrer. „Sie ist zu verständig; ich hätte auch jede Seelenregung bemerkt; sie ist für mich ein offenes Buch. Sinniger ist sie schon lange – aber nein! Sie kennt nur Einen, den Baron, der sie hier gesehen – und das wäre unmöglich.“

„Sie sind vielleicht eine zu arglose Natur, Herr Anton –“ er brach ab, denn eben trat Jemand in’s Gemach.

„Ah, Jane,“ unterbrach ihn der Lehrer und rückte den grünen Schirm etwas höher, „wie froh Dein Gesicht jetzt ist! Darauf liegt ja lauter Sonnenschein – so sollte sich ein Mädchen gar nicht freuen, wenn ein anderes unter die Haube kommt.“

„Guten Tag, Gratiana!“ sagte Ehrenfried und hielt ihr seine Hand hin. Sie legte flüchtig ihre Finger hinein, sah ihn aber gar nicht an. „Was denken Sie von dem überflüssigen Bundesgenossen? Ist er Ihrer Beachtung nicht mehr würdig?“

„Herr Professor,“ entgegnete sie ernst, „ich wußte genau, was ich that, als ich zu Ihnen kam und um Ihre Hülfe bat.“

Er hielt ihre Hand noch immer fest. „Aber haben Sie denn vergessen, daß ich fortan der Bruder Gratiana’s bin?“

Sie befreite ihre Hand und lächelte: „O nein!“ aber in dem Lächeln wie in dem Tone lag etwas Wehmüthiges. „Wie lange werde ich den Bruder haben? Bis der Schnee kommt? Das kann morgen, ja noch diese Nacht sein.“

„Halten Sie so wenig vom Manneswort? Wohin mich auch das Schicksal verschlagen mag, ich vergesse Schwester Gratiana nicht.“

Er sagte das so leidenschaftlich betheuernd, daß der Lehrer ganz erstaunt sein Haupt hob. Jane athmete etwas hastig; sie schien sprechen zu wollen, kniff dann aber wie trotzig den Mund zusammen und blickte auf ein Buch nieder.

„Sie sollten Jane’s Gedichte sehen, Herr Professor,“ sagte der Lehrer plötzlich.

„Nein, nein!“ rief Jane und sprang auf, „niemals!“

„Warum nicht? Sie hat eine Leichtigkeit im Gebrauche des Reimes und der Versmaße, die auch Sie erfreuen würde.“

„Nein, nein,“ wiederholte das Mädchen beinahe geängstigt. „Jetzt gehe ich auch.“

„Darf ich Sie begleiten?“ fragte Ehrenfried.

Sie zögerte mit der Antwort und sagte endlich leise: „Ja, wenn Sie Herrn Anton nicht länger Gesellschaft leisten mögen.“

„O bitte,“ wehrte der Lehrer, „es ist Sonntags auch nicht gut allein gehen.“

Der Professor war über die halb beklommene Art, mit welcher Jane seine Begleitung annahm, wieder mißtrauisch geworden. Ob sie den Baron erwartet hatte?

Draußen sagte er zu ihr: „Wie sonderbar Sie sind, Gratiana: in einer Schicksalsfrage baten Sie mich einzuschreiten – Ihre Poesien verweigern Sie mir.“

„Weil – Sie spotten würden.“

„Ah, Sie habe keine gute Meinung von mir?“

„Ich wiederhole, was ich drinnen gesagt.“

„Also doch Vertrauen! Ja, Sie haben’s mir bewiesen. Geben Sie’s mir überall und ganz? Soll ich wissen – wer – Ihr Herz besitzt? Vielleicht, daß meine Hülfe Schwierigkeiten beseitigen könnte …“

Sie trat einige Schritte zurück. „Reden Sie nicht weiter! Es kann nie – niemals sein.“

„Es ist gut, Gratiana, was auch Ihr Grund sein mag – ich will ihm stillschweigend beistimmen. Gehen wir!“

Er fühlte, daß das schöne Mädchen an seiner Seite sehr erregt war; ihre schnellen Athemzüge verriethen sie, so sehr sie sich auch beherrschen wollte. Sie wechselten kein Wort weiter; jedes war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Plötzlich aber stutzten sie Beide; aus einer Nebenstraße trat ihnen Jemand in den Weg – der junge belgische Baron.

„Guten Abend!“ stieß er kurz heraus und setzte dann in französischer Sprache hinzu: „Herr Professor, ich wünsche Sie einige Minuten zu sprechen.“

„Wollen Sie sich nicht des Deutschen bedienen?“ gab der Professor zurück, „die Dame hier versteht nicht Französisch.“

„Wie Sie wünschen – es ist kurz, was ich Ihnen zu sagen habe, mein Herr. Sie unterschlugen einen Brief von mir – der – nun der, wie Sie wissen, hier an Fräulein Jeanne gerichtet war?“

„Ich unterschlug ihn – woher wissen Sie das so genau, mein Herr Baron?“

„Der Knabe behauptet, ihn an Sie abgegeben zu haben. Fräulein Jeanne hat mir nicht geantwortet. Ihre sonderbaren Redensarten neulich …“

„Waren Sie so fest überzeugt, daß Sie überhaupt eine Antwort erhalten würden?“ fragte Ehrenfried ruhig zurück.

„Mein Herr!“ brauste der Akademiker auf, „diese Frage steht Ihnen ebenso wenig an, als es eines Mannes würdig ist, Briefe zu unterschlagen. Sie werden mir dafür Satisfaction geben – oder –“

„Oder Sie mir,“ entgegnete Ehrenfried gleich kalt, indem er Jane’s Arm in den seinigen legte, „für die Art und Weise, in welcher Sie einer Dame nachstellten, die unter meinem Schutze steht. Merken Sie wohl, unter dem Schutze eines Ehrenmannes – und nun, gute Nacht, mein Herr Baron! Zu geeigneter Zeit will ich Ihnen Rede stehen – hier nicht!“

Der junge Akademiker stieß eine Verwünschung aus.

„Sie behandeln mich wie einen Knaben – ich aber sage Ihnen, daß ich meine Satisfaction holen werde, wo immer ich Sie treffe, daß ich Ihnen folge, bis –“

„Gute Nacht!“ sagte Ehrenfried’s volle Stimme, und unbekümmert um den Zorn des jungen Mannes führte er das Mädchen davon. Jane war es zuerst, die das Schweigen brach.

„Er wollte Sie nicht kränken; er kam – aus dem Wirthshause. Sie zechen stark, die jungen Leute.“

Sie suchte ihn jetzt zu vertheidigen, obwohl sie vorhin mit richtigem Tact keine Silbe geäußert hatte.

Als sie vor dem Hause angelangt waren, faßte sie nach seiner Hand:

„Wollen Sie mir versprechen, daß – daß Sie nicht muthwillig Ihr Leben auf’s Spiel setzen werden?“

„Schlafen Sie ruhig, Schwester Gratiana! ihm wie mir wird nichts geschehen. Gute Nacht!“ –

An nächsten Morgen stand der Professor mit Vater Gottlieb zum Ausgehen gerüstet vor dem Hause.

„’S wird Euch Freude machen, Herr Professor,“ sagte der Bergmann, „und ist schon fast eine Sünde, daß Ihr nicht früher in den Gruben waret.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 634. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_634.jpg&oldid=- (Version vom 1.4.2018)