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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

„Ja,“ versetzte Ehrenfried, „wer weiß, wie bald ich überdies Eurem stillen Hause Lebewohl sagen muß – ich will das Versäumte nachholen und gleich heute beginnen.“

Der Bergmann schnippte mit den Fingern.

„Ach, die Weibsleute! Gestern Morgen war meine alte Mutter so fuchtig und wild, wie eine echte Harzfrau. Und heute? Da ist Alles umgewandelt. Sitzt sie auf der Ofenbank mit dem Mädchen und herzt und streichelt es, wie eine junge Maikatze. Und die Jane erst! Die ist so wunderlich, macht ein paar traurige Augen und weint, daß es einen Erzblock rühren könnte. Als ich fort ging, rief sie mir nach, ich solle doch auf Euch Acht geben, daß kein Unglück geschähe, und lieber nicht leiden, daß Ihr einführet. Sie hätte eine große Herzensangst. Seht, das Mädchen verehrt Euch sehr – aber mit der Furcht vorm Einfahren, das ist nur dummes Weibergethue.“

Ehrenfried zauste an seinem Barte.

„Wir gehen nun erst nach dem nächstliegenden Stollen,“ sagte Gottlieb nach einer Weile. „Seht drüben, das ist schon das Zechenhaus; dort versammelt man sich zum Gebet vor’m Einfahren; der Eine betet vor. Man braucht’s, daß man sich dem großen Bergmanne empfiehlt, ehe man hinab geht in die Erde. Da –“ sie waren bei einem andern Hause angekommen, und er stieß den Brettereingang auf – „da sind die Bahren und Werkzeuge für Unglücksfälle – seht, auch zwei Särge. Ja, das ist eine Nothwendigkeit – ‚heute der, morgen ich‘, können wir oft sagen. Aber man denkt: wie Gott will. Einen frommen Sinn muß der Bergmann haben, sonst hält’s nicht mit dem Handwerk; die neue Zeit will wenig davon wissen, das ist aber auch das Verderben.“

Von dem Holzbau, der die Einfahrt zum Stollen bedeckte, klang das gläserne Glöckchen mit seinem eintönigen „Bimbim“ – dem Sicherheitszeichen. Die Räder drehten sich; die Seile ächzten; die „Kunst“, wie der Bergmann das Getriebe nennt, war im Gange. Gerade förderte dieselbe einen Kasten mit Material aus dem Schachte empor und drüben, aus der engen Oeffnung der Einfahrt, hob sich, von dem flimmernden Lichte am Gürtel beleuchtet, die Gestalt eines Bergmannes.

„Glück auf!“ sagte er, dem Tageslichte das bleiche Antlitz wieder zuwendend.

„Glück auf, Glück auf!“ tönte es nach ihm noch aus mehreren Kehlen, und hinter einander stiegen die fleißigen Männer aus dem Schachte empor, wo es von dem Räder- und Trittwerke knarrte, rollte, ächzte, und wo das unerfahrene Auge nichts sah, als die schwarze, unheimlich feuchte Tiefe, in der sich die Leitern neben einander hin und her bewegten. Andere rüsteten sich zur Einfahrt.

„Glück auf!“ sagen sie den Begegnenden, die nach gethaner Arbeit zum Tage aufstreben.

„Es gehe Euch wohl!“ ist der Wunsch, mit welchem Jene die begleiten, die erst zu hartem Werke hinuntersteigen.

Nachdem sie eine Weile vor der Oeffnung des Schachtes gestanden, führte Vater Gottlieb ihn in das Zimmer, wo der „Schützer“ saß, jener Mann, in dessen Händen eigentlich das Wohl und Wehe aller Ein- und Ausfahrenden liegt. Auf einer vor ihm stehenden Scheibe, welche durch einen sinnreichen Mechanismus den Gang der Kunst zeigt, sieht er, ob Alles in Richtigkeit, ob nicht die geringste Störung eintritt, die Gefahr und Unglück bringen kann.

Dann brachte man dem Professor einen Bergmannsanzug, – denn nur in solchem ist die Einfahrt gestattet – und der Steiger kam heran, der ihm vorsteigen, ihn geleiten sollte.

Ehrenfried sah prächtig aus in der malerischen Gewandung.

„Wie ein echter Bergmann,“ behauptete Vater Gottlieb. „Es ist ein wahrer Jammer, daß Euch die Jane nicht sieht – und erst die Großmutter, was würde die sagen!“

Er hängte seinem Hausgenossen das Lämpchen in den Gürtel und sagte: „Seid vorsichtig, Herr! Und nun: ‚Es gehe Euch wohl!‘“

Ehrenfried folgte dem voranschreitenden Steiger – da wurden sie plötzlich durch das schnelle Herantreten eines Fremden am Einfahren gehindert.

Es war der Baron, welcher, seine Mütze lüftend, zu dem Professor in seiner Muttersprache sagte:

„Sie versprachen mir eine Erklärung Ihrer Handlungsweise – bitte – ich bin in der Lage, dieselbe sofort verlangen zu müssen. Ihr Benehmen in Gegenwart Jeanne’s zwingt mich, alle Rücksicht bei Seite zu setzen.“

Der Professor erwiderte seinen Gruß höflich und antwortete in derselben Sprache:

„Sie sehen mich bereit, einzufahren – sobald ich zurückkomme, stehe ich zu Ihren Diensten!“

„Ah – Sie wollen auf’s Neue ausweichen?“

„Nein, Ihnen nur Zeit geben, zu überlegen, wie man einem Manne begegnet.“

Baron Negris knirschte mit den Zähnen. „Ich bin ein Edelmann und habe mir gelobt, Revanche für meinen zerrissenen Brief zu haben. Ich folge Ihnen so lange, bis Sie mir dieselbe zugestanden – auch dort hinein!“

„Wie Sie wünschen – also auf Wiedersehen!“ Dann bat der Professor seinen Führer zu beginnen, und sie fuhren ein. Die Grubenlichter wurden kleiner und kleiner. Noch ehe sie ganz verschwunden waren, kam der junge Akademiker in Bergmannstracht mit einem anderen Steiger und bestieg die Leiter. Sein Kopf war noch über der Oeffnung, als Jane plötzlich in den Ueberbau stürzte, sich verstört, mit wilden Augen umschaute und dann auf den Vater zueilte.

„Um aller Barmherzigkeit willen – sind sie Beide hinab?“ rief sie ihm entgegen – „Beide – o Vater, welch ein Unglück!“

„Kind – was redest Du da?“ fragte der Alte.

Sie rang die Hände und starrte ihn mit dem Ausdruck der Verzweiflung an. „Nun ist es zu spät; sie morden einander dort unten, der Professor und der Baron – o, meine Ahnung!“

„Jane, mein Kind, komm zu Dir – was in aller Welt –? ich verstehe Dich nicht.“

Sie kniete an dem Rande des Schachtes nieder.

„Still!“ sagte sie und lauschte.

Ein langgezogener, schrecklicher Schrei aus der Tiefe – ein anderer, herzzerreißender aus Jane’s Munde – dann brach sie ohnmächtig zusammen. Gottlieb schob sie zur Seite; ihr bleiches Haupt lag auf einer Anhäufung von Sprengsand; „Gerechter Himmel!“ flüsterte er mit bebenden Lippen, „es hat ein Unglück gegeben.“

Zeichen aus der Tiefe. Was oben seinen Posten verlassen konnte, stürzte nach dem Schacht. Aengstliche Gesichter, halblaute Fragen – am Getriebe war nichts passirt; es war also eine Unachtsamkeit der Einfahrenden gewesen.

Die Secunden wurden so lang wie Stunden.

„Da kommt’s,“ rief eine Stimme. Schwacher Lichtschimmer zeigte sich, hüben und drüben, und kam höher und höher.

Jetzt kamen die Aufsteigenden nahe – jetzt hob sich der erste Kopf – kein „Glück auf“ grüßte ihn; auf allen Lippen schwebte die bange Frage „Wer? Was?“

Der erste Steiger trat heraus; dann zeigte sich des Professors Haupt; Gottlieb streckte ihm wortlos die Hand entgegen.

„Der Akademiker muß unvorsichtig gewesen sein,“ sagte der Steiger, „er liegt unten beim ersten Absatz, wird den Arm gebrochen haben; wär’s früher oder später passirt, daß er den Griff fehlte, so war’s sein Tod. Hat nicht einmal die Besinnung verloren – wollte nur meinen Herrn erst sicher hinauf schaffen.“ Und er begann auf’s Neue dem Dunkel entgegen zu steigen.

Ehrenfried wurde von Gottlieb zu Jane geführt:

„Seht, sie rührt sich noch nicht.“

Ehrenfried kniete an ihrer Seite nieder, richtete ihr Haupt langsam empor und lehnte es gegen seine Brust.

„Jane,“ flüsterte er zärtlich, „Jane, hören Sie mich! Es ist nicht so grausam: er lebt.“

Als habe seine Stimme Macht über sie, öffnete sie die Augen und sah ihn groß an. Dann fuhr sie mit der Hand, als müsse sie ihre Besinnung zurückrufen, über die Stirn:

„Noch einmal das liebe Gesicht!“ sagte sie langsam, wie im Traum – „und drunten liegt es zerschmettert.“ Sie barg das Antlitz, zusammenschaudernd, in den Händen.

„Jane,“ rief er, dieselben zurückziehend, „Jane!“ Da stieß sie einen Freudenlaut aus und faßte nach dem Herzen.

„Er lebt – o, dem Himmel sei Dank!“

„Jane“ – er konnte es nicht so schnell fassen, daß ihm ihre Angst, ihr Schmerz gegolten – „Jane – Sie weinten um mich?“

„Ich weinte nicht,“ sagte sie seltsam ruhig, „aber ich wußte, daß ich gestorben wäre, wenn die dunkle Erde Sie behalten hätte.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 635. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_635.jpg&oldid=- (Version vom 30.7.2017)