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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Lumpenmüllers Lieschen.
Von W. Heimburg.


1.

In dem Zimmer der Baronin Derenberg prasselt ein Holzfeuer im hohen Kamine und verleiht dem Gemach mit den alten geschweiften Meubeln etwas Trauliches, Anheimelndes. In einer der tiefen Fensternischen sitzt ein junges Mädchen von kaum vierzehn Jahren und schaut in das verglimmende Abendroth des kurzen Wintertages; ihr feines Profil zeichnet sich scharf ab gegen den hellen Hintergrund des Fensters. Sie hat die schmalen Hände in einander gefaltet, und ihre Gedanken wandern offenbar in die Ferne.

„Mama,“ sagte sie dann plötzlich und wendet den Kopf mit der blonden Lockenfülle der zarten, blassen Frau zu, die in einem Sessel am Kamine sitzt und strickt. „Mama, Army bleibt wieder unverantwortlich lange in Großmama’s Zimmer; wir werden nicht dazu kommen, in die Mühle zu gehen, und es ist doch schon die höchste Zeit; Army hat nur acht Tage Urlaub, und vier sind schon verstrichen. Heute hatte er mir’s ganz bestimmt versprochen, mitzukommen, – was soll nur Lieschen denken, daß er noch nicht einmal drunten war?“

Das junge Mädchen war bei diesen Worten aufgestanden und hatte sich der Mutter genähert; ein Zug von Unmuth und Ungeduld lag auf dem kindlichen Gesichte.

„Hab’ nur Geduld, Nelly!“ erwiderte die Mutter, und streichelte die blühende Wange der Tochter. „Du weißt, wenn Großmama es wünscht, muß Army bleiben so lange sie will. Großmama wird ihm Mancherlei zu sagen haben. Uebe Dich in Geduld, mein Liebling! Sie ist so nöthig für das Leben. – Zünde die Lampe an! Du weißt, es ist noch Verschiedenes an Army’s Wäsche fertig zu machen.“

Die schlanke Mädchengestalt, mit den noch kindlichen Formen, glitt beinahe geräuschlos über den getäfelten Fußboden, und bald beleuchtete die Lampe das Zimmer, das nun doppelt traulich erschien in seiner altmodischen und doch so behaglichen Einrichtung. Auch die Baronin erhob sich und nahm Platz an dem großen runden Tisch. Jetzt fiel der Schein der Lampe auf ein blasses anziehendes Gesicht, dem wohl der Kummer die vielen schmerzlichen Linien eingegraben hatte.

Das Töchterchen ihr gegenüber trug ihre Züge; in diesem Augenblicke leuchteten die blauen Augensterne unter den langen Wimpern hell auf, denn draußen im Corridor ertönte ein fester elastischer Schritt. Gleich darauf öffnete sich die Thür des Zimmers – ein schmucker junger Officier trat ein. Auf seinem neunzehnjährigen Gesicht lag der sonnigste Lebensmuth der Jugend. Nelly eilte ihm entgegen.

„Army, wie schön, daß Du kommst! Nun können wir doch noch zur Mühle gehen,“ bat sie und schlang, sich auf den Zehen erhebend, schmeichelnd die Arme um seinen Hals; „ich hole nur schnell Kapuze und Mantel, denn lange dürfen wir nicht mehr säumen; in der Mühle wird pünktlich zu Abend gegessen.“

Sie wollte fröhlich davon eilen.

„Nelly!“ rief der junge Mann und hielt sie am Arme, „laß das jetzt! Es – paßt nicht mehr,“ setzte er zögernd hinzu.

„Es paßt nicht mehr?“ Das junge Mädchen sah fragend zu dem Bruder auf.

„Nein, Nelly, Du mußt vernünftig sein; als Kind darf man umgehen, mit wem man will, weil man eben Kind ist, als Officier aber geht das nun einmal nicht –“

„Nun, Lieschen darfst Du doch besuchen; Du bist doch sonst immer so gern mitgekommen.“

„Ei, Army!“ sagte die Baronin, „das ist nicht Dein Ernst; es sind ehrenwerthe Leute, die auf der Mühle, und haben es stets gut mit Dir gemeint; es würde undankbar sein –“

„Aber Mama, ich bitte Dich,“ erwiderte er, und seine dunklen Augen leuchteten unwillig auf. „Die Leute zählen zu den Ungebildeten. Denke Dir, wenn der Müller einmal nach B. reiste und hätte den unglücklichen Gedanken, mich aufzusuchen! Ich käme in die tollste Verlegenheit.“

„Es sind gar keine ungebildeten Leute,“ rief Nelly, „und das hat Dir nur Großmama gesagt, die Lumpenmüllers nun einmal nicht leiden kann.“

Lumpenmüllers! Da haben wir’s!“ lachte der junge Officier. „Bleibe jeder in seinem Stande! Auch Du Nelly, wirst nicht immer dort verkehren können. Wenn das erste lange Kleid hinter Dir drein rauscht – dann Adieu Lumpenlieschen!“

„Nimmermehr!“ erwiderte außer sich das junge Mädchen, „ich würde Nachts zur Mühle laufen wenn man mir es am Tage verböte. Lieschen ist meine einzige Freundin. Was soll ich nur sagen, weshalb Du nicht kommst?“ Sie brach in Thränen aus.

„Es wird sich ja ein Grund finden lassen, Nelly – weine doch nicht!“ tröstete der Bruder. Seine Stimme klang weich, genau so wie früher, wenn er die Puppe der Schwester zerschlagen hatte und nicht wußte, womit er sie trösten sollte.

„O, nicht wahr, Army,“ bat sie nun und blickte hoffnungsreich zu ihm auf, „Du hast mich necken wollen – wir gehen zur Mühle, gelt?“

Er stand einen Augenblick regungslos da; vor seine Seele trat die wohlbekannte Gestalt eines kleinen Mädchens, wie er sie hundertmal früher gesehen, Lieschen, Lumpenmüllers Lieschen aus

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 649. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_649.jpg&oldid=- (Version vom 1.9.2016)